Die Primitiven des Amazonas

Zur literarischen Verarbeitung der Ethnografie in Robert Müllers "Tropen" (1915)

Von Thomas SchwarzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Schwarz

I. Robert Müller und Theodor Koch-Grünberg

Im Jahr 1924 sterben in Wien und in Vista Alegre am Rio Branco zwei Autoren, die nicht nur das Todesjahr verbindet: der Literat Robert Müller und der Ethnograf Theodor Koch-Grünberg haben sich gleichermaßen für die so genannten Primitiven Südamerikas interessiert. Die unter anderem von der Ethnografie vermittelte Reaktion europäischer Schriftsteller auf die Kunst und Kultur der Naturvölker manifestiert sich in einem literarischen Primitivismus, dessen Formierung sich exemplarisch in einem Vergleich der Texte Koch-Grünbergs und Robert Müllers herausarbeiten lässt.

Der 1887 geborene Wiener Expressionist Müller hat 1915 den Amazonas-Roman "Tropen. Der Mythos der Reise" publiziert. Reisen in den tropischen Dschungel kann man ihm zwar nicht nachweisen, doch hat er in den Jahren 1909/10 in New York als Reporter gearbeitet. 1914 meldet er sich freiwillig zum Kriegsdienst und erleidet 1915 am Isonzo-Fluss unter italienischem Artilleriebeschuss einen Granatschock. Zu den Nachwirkungen gehört eine für die expressionistische Generation bezeichnende pazifistische Wende. 1918/19 engagiert sich Müller in Wien als kulturrevolutionärer Aktivist. Als er 1924 im österreichischen Verlagsgeschäft scheitert, bringt er sich am 27. August um.

Der Ethnograf Theodor Koch-Grünberg ist 1872 geboren und stirbt am 28.10.1924 auf seiner vierten Reise ins Amazonasgebiet an der Malaria. Zum ersten Mal hat er zwischen 1898 und 1900 eine wissenschaftliche Expedition zu einem südlichen Amazonas-Zufluss begleitet. In den Jahren 1903 bis 1905 und 1911 bis 1913 hat er eigenständige Forschungsreisen nach Nordbrasilien unternommen.

Die Reiseberichte Theodor Koch-Grünbergs zeichnen ihren Verfasser als Pionier der Feldforschung aus. Robert Müllers Reiserroman dagegen wäre eine Art literarische Lehnstuhlanthropologie. Während der ethnografische Diskurs auf wissenschaftliche Verlässlichkeit ausgerichtet ist, hat man es in Müllers "Tropen" mit einem bekennend unzuverlässigen Erzähler zu tun, dem Ingenieur Hans Brandlberger. Alles, was er erzählt, könnte auch ganz anders oder überhaupt nicht passiert sein. Es bleibt unsicher, ob er zum angegebenen Zeitpunkt am jeweils angegebenen Ort gewesen ist. An einer Stelle bekennt er: "Ich fuhr als Schreibtisch einen Strom hinauf und vermengte in der Geschwindigkeit ein wenig die Zeit".

Das gesteigerte Interesse für das Primitive richtet sich um 1900 auf alles, was als urmenschlich, wild und barbarisch gilt. Die prähistorische Kultur wird im primitivistischen Diskurs zur Projektionsfläche für exotistische Phantasien. Im Folgenden untersuche ich, wie der ethnografische Diskurs in Müllers "Tropen" verarbeitet wird, wie dieser vom literarischen Diskurs modifiziert und ironisch subvertiert wird. Der Roman bedient sich dabei auch anderer Diskurse als Folien, die aus der zeitgenössischen Philosophie oder Psychologie interdiskursiv reintegriert werden. Aus diesem Verfahren speist sich die literarische Qualität dieses Romans, dem in der Literaturwissenschaft nach seiner Wiederentdeckung Anfang der 90er-Jahre noch immer nicht die ihm gebührende Aufmerksamkeit gewidmet wird.

II. "Primitive und wilde Kunst"

Im Jahr 1919 publiziert Robert Müller eine Südsee-Novelle mit dem Titel "Das Inselmädchen". Dort findet sich eine Bemerkung zum Einfluss des Kulturkontakts mit den europäischen Entdeckern auf die Kunstgeschichte der Insulaner: "Jetzt kam plötzlich ein neuer Geschmack auf, den die alten Künstler heftig bekämpften und als Dekadenz und Ausländerei brandmarkten. Aber die jungen Geschlechter siegten wie immer und datierten eine neue [...] Kunst von dieser fremden Befruchtung her. [...] Das ältere Geschlecht [...] lachte über diese neumodische Ausdruckskunst, aber den Jungen war es heiliger Ernst."

Es ist unschwer zu erkennen, dass hier mit Ausländerei und Ausdruckskunst auf Exotismus und Expressionismus angespielt wird. Die Passage verfremdet die Inspiration der europäischen Kunst durch die Kunst der 'Primitiven'.

Auf diese Entwicklung geht auch der Ethnograf Theodor Koch-Grünberg im Jahr 1906 in einer Publikation über die "Anfänge der Kunst im Urwald" ein. Er verweist gleich zu Beginn auf den "mächtigen Aufschwung", den die "moderne Ethnologie in den letzten Jahren genommen" habe. In seinem Gefolge sei das "Interesse für naive Kunstauffassung" und an der "Kunst und dem Kunstsinn der Naturvölker" gewachsen. Koch-Grünberg will das Interesse auf das "Zeichentalent der primitiven Völker, speziell der südamerikanischen Indianer", lenken. Der Ethnograf stilisiert sich selbst zum Primitiven auf Zeit: Als "Indianer unter Indianern lebend" habe er in den "zwei Jahren eines wilden Wanderlebens" eine Forschungsreise ins Amazonasgebiet unternommen. Er war in den Jahren 1903/1904 in "teils gänzlich unbekannte Gebiete" vorgedrungen, in den Nordwesten Brasiliens, wo Brasilien, Kolumbien und Venezuela aneinanderstoßen.

Das Grenzgebiet zwischen Brasilien und Venezuela ist auch der Handlungsort von Robert Müllers Roman "Tropen. Der Mythos der Reise" aus dem Jahr 1915. In ihm erzählt der deutsche Ingenieur Hans Brandlberger von einer vergeblichen Schatzsuche, die er zusammen mit dem Abenteurer Jack Slim und einem Holländer names van den Dusen unternommen hat. Das "topographische Erkennungszeichen" für die Schatzhöhle im Urwald ist ein Felsen, in den mit "plumpen Werkzeugen" Figuren geritzt worden sind. Im Roman wird erklärt, dass diese "primitiven Denkmäler" den Indianern Südamerikas zur Aufzeichnung "politischer Stammesereignisse" dienten.

Auch Theodor Koch-Grünberg hatte auf seinen Reisen solche Felsritzungen entdeckt. In einer Monografie zu den "Südamerikanischen Felszeichnungen" bezieht der Ethnograf 1907 Stellung zur Diskussion, wie solche "Zeichen" zu interpretieren seien. Er weist alle Deutungen als Schrift, als Wegmarken oder Eigentumszeichen zurück. Man habe hier nur spielerische Äußerungen eines "naiven Kunstempfindens" vor sich, keineswegs teile der "Naturmensch" mit ihnen irgendetwas mit. Koch-Grünbergs Hypothese zu den Anfängen der Kunst im Urwald lautet, dass "die vielumstrittenen Felsritzungen" dem Bedürfnis entspringen, "leere Flächen künstlerisch auszuschmücken".

Die "primitive und wilde Kunst" des Amazonas-Indianers Kelwa in Müllers "Tropen" dagegen hat eine ganz andere Qualität. Auf einem seiner "Bildwerke" beriecht ein "Hundegenius mit seinem langschnauzigen süffisanten Gesichte" mit "Schleckrigkeit einen Liebesakt". Aus der Perspektive des Hundes präsentiere sich "das Menschliche" in "wohlgefälliger Hässlichkeit". Das Oxymoron verweist auf die expressionistische Ästhetik des Abjekten. Sie zeichnet in Opposition zum bürgerlichen Schönheitskult der Jahrhundertwende all das aus, was Ekel und Abscheu erregt. Auch Brandlberger wendet sich im Dschungel gegen die "Kultur des deutschen Bürgers". Er zeigt sich fasziniert vom Geschmack der "Wilden" und bekennt sich zu dem sadistischen Wunsch, "ein zitterndes Weib bei den Haaren zu zerren".

Im Roman beobachtet Brandlberger den indianischen Maler Kelwa, wie er "sein kleines Weib mit der Faust ins Gesicht" schlägt. Diese Kultur der Gewalt komme auch in der "Zärtlichkeit der vergewaltigten Leiber auf seinen Bildern" zum Ausdruck. Brandlberger bewundert die "scheußlichen Greuelszenen": "Muskulöse Männer" vergehen sich auf ihnen an "unterwürfigen, dankbaren Frauenzimmern". Nie sei "Gewalt süßer dargestellt worden": Die Frauen sterben "unter den Würghänden und Dolchstößen ihrer kahlschädeligen Anbeter": "Eines der Gemälde duftete von Liebespracht und Lustaufwand, und ein Hundevieh lief darauf hinzu und schnupperte flüchtig zu dem Paare. Dieser Hund war das Hündischeste, das je an Hundetum geleistet worden war, er war hündischer denn je ein Hund, er war die reinste Genießlichkeit, die je zu Verkörperung gelangt ist. Er bestand aus fünf braunen Pinselstrichen, vier Beinen und einem Rückgrat, und schließlich einer langen Schnauze. In dieser Schnauze lag ein ganzes Hundeleben."

Die Beschreibung in Müllers Roman hat den Boden der Ethnografie verlassen, sie orientiert sich hier eng an einer Zeichnung Oskar Kokoschkas zu seinem expressionistischen Kurzdrama "Mörder, Hoffnung der Frauen" (1910), das eine Orgie der Gewalt auf die Bühne bringt. Später lässt Brandlberger einen gewissen Maler namens "Roroschkin" hochleben, der mit seiner "urhaften Ausdeutung" des "Menschen als des Grausamen" allem Anschein nach zu den "Ursprüngen der Malerei zurückgekehrt" sei, während der Prozess der Zivilisation "mit eisernen Klammern die Ichs umfriedet".

Brandlbergers Reisegefährte Jack Slim doziert, dass in diesen "Bildern eines Barbaren" die wahre "Humanität" zu finden sei: "Sie erfassen lebendige Formen und die Dinge, die wahrhaft dahinter liegen". Die barbarische Kunst, die Slim hier kommentiert, ist allerdings nicht die Kunst der Amazonas-Indianer. Es geht um die expressionistische Kunst, die mit dem Anspruch auftritt, das unter dem schönen Schein der Oberfläche Verborgene freizulegen - statt sentimentaler Liebesszenen bietet sie sadomasochistische Gewalt.

III. Die "natürliche Sexualmoral" in den "Epochen der Wildheit und Barbarei"

Theodor Koch-Grünberg war eine Art ethnografischer Fetischist: Die Perlenschürzchen der Indianerinnen verleibt er seiner Sammlung gleich dutzendfach als "hübsche Ethnographica" ein. Am Roraima-Gebirge im Dorf Koimelemong möchte er 1911 Indianermädchen im Perlentanga fotografieren. Zu dieserm Zweck muss er sie erst dazu bringen, ihre europäische Baumwollkleidung auszuziehen: "Einige Mädchen hatten europäische Kattunröcke angezogen. Ich gebe ihnen zu verstehen, daß ich dies garnicht schön finde. Sofort lassen sie die Röcke fallen und stehen da in ihren hübschen Perlenschürzchen, die sie unter der 'Zivilisation' trugen."

Die Passage zeichnet sich durch ein männliches Vergnügen am exotischen Striptease der Wilden aus. In diesem Diskurs symbolisieren Baumwollkleider die Zivilisation, Perlenschürzchen die Wildheit. In der Ethnografie geht es darum, das unter der Zivilisation Verborgene freizulegen, im Medium der Schrift, der Fotografie und des Films. Man mache sich nichts vor: es ist die nackte Haut des ethnografischen Objekts, deren softpornografische Aufzeichnung im wissenschaftlichen Gewand dem ethnografischen Diskurs der Jahrhundertwende die Aufmerksamkeit des Publikums sichert.

Auch in Müllers "Tropen" spielen die Perlenschürzchen eine prominente Rolle. In der Szene des Erstkontakts beschreibt der Ingenieur Brandlberger die Amazonas-Indianer als ein "Volk magerer Affen, und rot und grün, in den Stammesfarben, wimpelten die kargen Schürzlein bei Mann und Weib". Liest man die Passage als rassistische Herabsetzung der Indianer, wird man der literarischen Qualität des Textes nicht gerecht. Der literarische Diskurs zitiert hier ironisch den ethnografischen Diskurs und spitzt ihn zu.

Der Indianerin Rulc fällt bei Müller das "rotblaue Schürzchen aus Beeren und Perlen" züchtig über ihren "dreizinkigen Schattenstern". Auch vor dem Schoß der Indianerin Aruki pendelt das "aus Perlen und Beeren gewobene Schürzchen". Im Roman defiliert die Indianerin Zana auf der Bühne des Indianerdorfes "befremdend frei" über den tropischen Laufsteg. Brandlberger beobachtet, wie das "rotgrüne Perlenschürzchen" Zanas "kühl und schlank in die Mulde zwischen ihren Schenkeln" schlägt. Im Gegensatz zur Darstellung bei Koch-Grünberg ist der Perlentanga bei Müller offen der Fokus eines Männerblicks auf ein potentielles Sexualobjekt.

Die ironische Übertreibung stellt das ethnografische Begehren als sexuelles bloß. Zwischen Brandlberger und seinem holländischen Reisegefährten herrscht Konsens: "Wie konnte man einer von diesen schlecht ausdünstenden splitternackten Bestien gewogen sein? Nein! Niemals! Nimmermehr!"

Der Ethnograf Koch-Grünberg versagt sich sexuelle Kontakte mit den Indianerinnen. Sein sexuelles Begehren sublimiert er in der Sammelleidenschaft für die Schamschürzchen. Brandlberger hingegen macht schon zu Beginn seines Reiseberichts deutlich, dass ihn eine "erotische Mission" in den amazonischen Dschungel treibt. Angezogen wird er dabei von der im ethnografischen Diskurs vielfach kolportierten Schamlosigkeit des Dschungellebens. Brandlberger selbst verliert im Tropenwald seine Scham.

Im Dialog mit Brandlberger kritisiert dessen Reisegefährte Slim die kulturelle Sexualmoral, gegen die er das hedonistische "Dasein des Wilden" stellt. Richtig "gesund" sei nur der "Mensch mit dem vielseitigsten und von keiner Moral verschnittenen Lusttriebe". Der Roman reagiert hier auf eine Debatte zur Sexualreform, die der Philosoph und Psychologe Christian von Ehrenfels 1907 mit seiner Sexualethik geprägt hatte. Im Anschluss an diese Schrift entwickelte Freud seine Thesen zur Bedeutung der kulturellen Sexualmoral als Ursache für die Verbreitung der modernen Nervosität. Ehrenfels hatte behauptet, dass im allgemeinen "Kampf ums Dasein" nur eine "natürliche Sexualmoral" den "Menschenstamm" bei "Gesundheit und Lebenstüchtigkeit zu erhalten" vermöge. Die auf Monogamie ausgerichtete "kulturelle Sexualmoral" führe zur "Degeneration".

Die Botschaft von Ehrenfels lautet, dass viele Völker in den "Epochen der Wildheit und der Barbarei" mit ihrer gesunden Sexualmoral ein Beispiel dafür böten, dass man an der "abendländischen Sexualmoral" nicht festhalten müsse. Das ist der Kontext, in dem Brandlberger am Leben in den Tropen die "Gesundheit" einer noch nicht beschädigten Lust rühmt. Das Konzept der polygamen Sexualmoral bei Ehrenfels wird in Müllers Tropen jedoch noch einmal radikalisiert. Gefeiert wird hier ein tabuloser Sadomasochismus.

Jack Slim beruft sich bei seinen Ausführungen über sadomasochistische "Erotik" und Hedonismus anspielungsreich auf Paul Gauguin. Der Maler habe sich im Pazifik dem "lustvollen paradiesischen Käferdasein" der Insulaner hingegeben. Gauguin hatte sich zum ersten Mal 1891 nach Tahiti aufgemacht. In "Noa Noa" berichtet er, wie er als kultureller Überläufer mit den Maoris lebt und sich dabei von seinem komplexen zivilisierten Denken befreit hat: "mein fast nackter Körper fürchtet die Sonne nicht mehr; die Zivilisation weicht nach und nach von mir, und ich beginne, einfach zu denken [...] und funktioniere animalisch frei" ("mon corps presque toujours nu ne craint plus le soleil; la civilisation s'en va petit de moi et je commence à penser simplement [...], et je fonctionne animalement, librement".

Die "franchise", die erotische Freimütigkeit der jungen Mädchen, hebt Gauguin hervor, an einer Stelle interpretiert er sie gar als Verlangen, vergewaltigt zu werden: "elles voulaient êtres prises, sans un mot - prise brutale. En quelque sorte: désir de viol." Das Resümee des Künstlers lautet, das einfache paradiesische Leben habe ihn wilder und barbarischer gemacht: "plus sauvage" und "plus barbare".

Müllers "Tropen" radikalisieren auch dieses Motiv. In dem Roman stoßen die drei weißen Abenteurer im Dschungel auf eine Indianerin, die sich ihnen in verführerischer "Demut" ergibt. Sie werden "schwach vor Wollust", fast erschlagen sie die Indianerin. Brandlberger berichtet vom "wilden Trieb des Urwalds", der sich in den Tropenreisenden durchgesetzt habe: "Wir waren Barbaren geworden".

Wenn Brandlberger sich als Nachfahr von "nordischen Barbaren" versteht, drängt sich ihm ein Leitmotiv seiner Erzählung auf: "ich trug die Tropen in mir". Metaphorisch repräsentieren sie die "prähistorische Existenz" in seiner psychischen Apparatur. Im Dschungel agieren die Tropenexotisten dieses Romans "barbarische Lebensformen" aus. Das Tropenfieber führt zum Verlust des "zivilisierten Bewusstseins". Der sadistischen Lust an Grausamkeit, die sich nur in "barbarischen Kulturen" wie der des "Djunglemenschen" finden lasse, wird in der tropischen Zone dieses Romans ein Experimentierfeld eröffnet. Für den hier gefeierten "neuen Menschen" kommt es darauf an, das "Barbarische in uns" wieder in seine Rechte einzusetzen. Konsequent endet der Roman in einer hemmungslosen sadomasochistischen Orgie.

IV. Die "primitiven Tänze" der Wilden

Tänze bilden sowohl in der Ethnografie als auch im literarischen Primitivismus einen diskursiven Brennpunkt. In Müllers "Tropen" wird Brandlbergers Phantasie beflügelt von der Vorstellung, dass im Dorf der Amazonas-Indianer "wüste heimliche Orgien" mit einer ihm unbekannten "Nackttänzerin Zana II." stattfinden könnten. Bald kommen die drei weißen Tropenreisenden des Romans tatsächlich in den Genuss einer abendlichen Privatseance mit Zana, der indianischen Priesterin: "Zana tanzt im Feuerschein ihre primitiven Tänze [...]. Das Repertoire ihrer Hingabe ist nicht groß. Aber immer wieder entzückt sie durch eine neue Idee, durch eine neue, schlagende Zote, die ihr gottesdienstlich vorkommt, von dem Holländer aber mit Grinsen aufgenommen wird. Sie deutet Liebesberührungen an und schüttelt ihren Kindschoß. Slim schlägt sie [...]. Wir alle möchten sie schlagen."

Der Roman erklärt, dass der Holländer van den Dusen hier religiöse Praktiken der Indianerin sexuell interpretiere. Derartige Interpretationen weist auch der Ethnograf Koch-Grünberg zurück. Er unterstreicht, dass die Amazonas-Indianer mit diesen Tänzen imitative Magie praktizieren.

In seinen Reiseberichten beschreibt Koch-Grünberg regelmäßig Tanzszenen. So erzählt er von einem Jaguartanz, den er 1903 gesehen hat, dass der Tänzer dabei in "katzenartigen Sprüngen wild" umherspringe. Begleitender Gesang versuche, die "Naturlaute des Raubtiers nachzuahmen". Koch-Grünberg berichtet auch von einem "Phallustanz": Der "Akt der Begattung und Befruchtung" werde hier "mimetisch dargestellt", mit "grotesken Bewegungen". Der Tanz solle "Fruchtbarkeit bewirken", er sei "voll tiefer sittlicher Bedeutung und frei von jeder Unanständigkeit in unserem Sinn!"

Aufschlussreich für das Begehren nach wilder Nacktheit in der Ethnografie ist die Beschreibung eines Tanzes, den Koch-Grünberg 1904 bei den Tuyúka-Indianern gesehen hat. Sie stapfen mit "rhythmischem Rasseln", Gesang setzt ein, die Tänzer bewegen sich unter "geschmeidigem Beugen des Oberkörpers, so daß die hohen Reiherfedern mit ihren Spitzen fast den Boden berührten". Junge Tänzerinnen treten auf: "Sie waren nackt bis auf das schön gemusterte Perlenschürzchen." Der Tanz steigert sich zum "wildesten Fortissimo".

Mit Genuss betrachtet Koch-Grünberg die kraftvollen Gestalten: "Wie viel schöner sind doch diese ebenmäßigen Körper in ihrer reinen Nacktheit, als wenn sie mit [...] Kleiderfetzen behängt sind!" Der kontemplative Hedonismus des Ethnografen wahrt jedoch deutlich auch die Distanz zum ethnografischen Objekt.

An anderer Stelle kommt Koch-Grünberg noch einmal verallgemeinernd auf den "Tanz des Phallus" zurück. Die "Fruchtbarkeitserzeugung" werde durch "mimische Darstellung der Begattung und Befruchtung drastisch zum Ausdruck gebracht". Die Tänzer springen "unter heftigen Coïtusbewegungen und lautem Stöhnen" recht "wild" herum: "Der ruckweise ausströmende Samen wird überallhin verbreitet. So treiben es die Tänzer [...]; sie springen zwischen die zuschauenden Frauen und Mädchen, die schreiend und lachend auseinanderstieben; sie stoßen mit den Phallen gegeneinander". In seiner Interpretation des Geschehens bringt der Ethnograf die ekstatische Situation schreibend wieder unter Kontrolle: Es liege "in der Natur der Sache, daß die Indianer sich diesem Phallustanz mit besonderem Genuß hingeben und dabei zu obszönen Späßen neigen, die eigentlich nicht dazugehören." Trotzdem sei es "ein anständiger Tanz": "Die Maskentänzer sind als Dämonen der Fruchtbarkeit gedacht, die in der Ausübung des geschlechtlichen Aktes mimisch vorgeführt werden, um dadurch Wachstum, Werden und Gedeihen in der ganzen Natur, die sich in ihnen verkörpert, zu fördern."

Koch-Grünberg betont, dass diesen "mimischen Darstellungen" eine "Zauberwirkung" zugrunde liege. Indem der Tänzer "in Bewegungen und Handlungen das Wesen, das er darzustellen sucht, möglichst getreu nachahmt, identifiziert er sich mit ihm". Die "geheimnisvolle Kraft" der Maske geht dabei auf den Tänzer über.

Diese Form der Betrachtung eines solchen Tanzes dient der wissenschaftlichen Analyse des Geschehens. Es geht um magische Kraft, die durch Nachahmung oder Berührung übertragen werden kann, also um mimetische und Kontiguitätsmagie. Die teilnehmende Beobachtung ist im ethnografischen Diskurs Restriktionen unterworfen. Im Jahr 1911 lehnt Koch-Grünberg eine Einladung ab, bei einem Fest bis zum Morgen "mitzutanzen". Er erklärt, sie habe einen "erotischen Beigeschmack" gehabt. Der Anthropologe widersteht dem "Sirenenlocken". Für ihn gilt die Regel, dass nur der Ethnograf, der sich selbst beherrscht, auch sein ethnografisches Objekt wissenschaftlich zu beherrschen vermag.

Im Jahr 1911 ist es Koch-Grünberg gelungen, als Pionier des ethnografischen Films einen indianischen Rundtanz kinematografisch festzuhalten. Ekstatische Tänze gehören nicht nur zu den Höhepunkten des ethnografischen Diskurses, auch in der exotistischen Malerei und Literatur wird dieses Motiv häufig aufgegriffen. Emil Nolde bedient das Genre mit seinem Gemälde "Kerzentänzerinnen", das er bereits 1912 gemalt hat, noch ehe er selbst eine zweijährige Reise zu den Primitiven der Südsee angetreten hat.

Gegen Ende von Thomas Manns Novelle "Der Tod in Venedig" (1912) hat Aschenbach einen "furchtbaren Traum", in dem eine "tobende Rotte" einen dionysischen "Rundtanz" aufführt. Frauen tragen "schreiend ihre Brüste in beiden Händen". Der widerstrebende Aschenbach fühlt sich "schamlos" zu diesem Fest gelockt, dessen Lärm zum "Wahnsinn" anschwillt. Der Reigen um das "obszöne Symbol" - offenbar ein Lingam aus Holz - mündet in sadomasochistische Praktiken. Die Tänzer stoßen "Stachelstäbe einander ins Fleisch" und lecken sich das "Blut von den Gliedern". Im Unterschied zum Ethnografen Koch-Grünberg wird der "Träumende" hineingerissen in die "grenzenlose Vermischung".

Es ist der "dionysische Wahnsinn" Friedrich Nietzsches, der sich in Aschenbachs Traum Bahn bricht: In der Gemeinschaft der Tanzenden sieht er sich in die Lage versetzt, "in die Lüfte emporzufliegen". In Aschenbachs Traum treten gewissermaßen die "dionysischen Barbaren" Nietzsches auf. Das Zentrum barbarischer "dionysischer Feste" - so der Philosoph - liege in einer "überschwänglichen geschlechtlichen Zuchtlosigkeit", deren Wellen über "jedes Familienthum und dessen ehrwürdige Satzungen" hinwegfluten. Die "wildesten Bestien der Natur" werden entfesselt bis zu einer von Nietzsche verabscheuten "Mischung von Wollust und Grausamkeit".

Auch den Ausführungen über eine "religiöse Feier" der Amazonas-Indianer in Müllers "Tropen" liegt Nietzsches Konzept des barbarisch Dionysischen zugrunde. Die indianischen Krieger formieren sich hier zu einem "Triumphzuge" von "barbarischer Stärke". Die Frauen stoßen "ekstatische Schreie" aus. Brandlberger taucht in die Gemeinschaft ein: "Unser aller bemächtigte sich ein harmonischer Rausch". Die Köpfe der Indianer sind mit "Federkronen" geschmückt, die "gefiederten Gürtel" der tanzenden Phalanx fliegen wie Räder.

Müllers Roman artikuliert den exotistischen Wunsch, am sexuellen Taumel der Wilden teilzuhaben. Besonders augenfällig wird dies, wenn die Priesterin Zana vor "Moki, dem Götzen und wilden lüsternen Gesellen", tanzt. Vor den "berauschten Augen" des Publikums ahmt sie eine Katze nach und stößt dabei "gellende Schreie" aus. Brandlberger gibt sich ganz dem Eindruck ihrer "wilden Anmut" hin und findet heraus, dass die "rätselhafte Rhythmik" von Zanas Performance den "Pulsschlag unseres Blutes" nachahme: die ganze Vorstellung verhalte sich mimetisch zur "Lust", welche die "körperliche Paarung" gewähre. Der ethnografische Diskurs würde das Geschehen mit Hilfe der Konzepte Fortpflanzung und Fruchtbarkeit als mimetische Magie erläutern. Müllers Tropen dagegen manipulieren diesen Diskurs und stellen die hedonistischen und sexuellen Aspekte in den Vordergrund.

Brandlberger beginnt zu "fiebern", die "Besessenen" im Publikum "heulen". Zana "springt wie ein Panther", ihr Gesicht "glüht vor Gier und Ekstase". Der "Chor der harten Männer" antwortet ihren "Gaumenschreien mit einer Art tierischen Wohllautes". Zana ist jetzt "ganz nackt, selbst das Schürzchen, das die Frauen sonst aus Reinlichkeitsrücksichten tragen, hat sie abgelegt".

In Opposition zu Koch-Grünbergs wissenschaftlicher Askese gibt sich Brandlberger offen fasziniert von der Möglichkeit, sich der irrationalen Ekstase hinzugeben. Aus den Augen des Götzen Moki zuckt der "elevatorische Blick", er saugt der Versammlung die "Schwere aus ihren Leibern". Zana wird in diesem dionysischen Tanz von dem "wollüstigen Götzen" getragen, dem tropischen Dionysos, dem "Tanz-in-die-Luft-Dämon" des Waldes. Das "splitternackte Ding" fliegt durch den Raum und saust wie ein "Peitschenhieb von Eck zu Eck".

Freud hatte in "Totem und Tabu" erklärt, dass man von den "nackten Kannibalen" nicht erwarten dürfe, im "Geschlechtsleben in unserem Sinne sittlich" zu sein. Sie würden ihren "sexuellen Trieben" nicht gerade ein hohes Maß an Beschränkung auferlegen. Doch strebten sie über den Totemismus streng die Verhütung des Inzests an. Die Dumara-Indianer in Müllers Tropen bilden eine Ausnahme von Freuds Regel. Der Häuptling Luluac, der Bruder Zanas, tritt auf dem dionysischen Fest zum Tanz mit seiner Schwester an. Auf seinem Kopf trägt er eine phallische Federkrone, die den "langen Luluac übermenschlich" erscheinen lässt: "Die groteske Überlegenheit des Mannes war ein Genuß für alle, die es sahen. Zana selbst schien bis in die letzten Fasern ihrer weiblichen Demut davon berührt. Gefällig bog sie sich unter ihm. Ihre familiären Beziehungen schienen etwas seltsamer Art [...]. Während sie tanzten, traten an ihren Körpern die Merkmale wilder geschlechtlicher Erregung zutage. Sie betrachteten einander aus den Augenschlitzen mit bestialischer Verliebtheit."

Brandlbergers literarische Anthropologie widerspricht Freuds These zur "Inzestscheu". Letzterer wollte zeigen, dass gerade die "wilden Völker" die "zur späteren Unbewußtheit bestimmten Inzestwünsche des Menschen noch als bedrohlich empfinden und der schärfsten Abwehrmaßregeln für würdig halten". Brandlberger dagegen behauptet, der "Instinkt der Inzucht" trete bei "primitiven oder bei überfeinerten Rassen" auf, und zwar gerade bei denen, die noch "gesund" seien. Die Assoziation von Inzest mit Degeneration wird hier aufgebrochen, stattdessen wird die Geschwisterliebe als eugenische Maßnahme präsentiert. Daher seien Zana und Luluac in die "eigene Art verliebt".

In Brandlbergers Erzählung bricht sich eine Lust an der infamen Verletzung des Inzesttabus Bahn. Zana verlangt es "nach dem gefiederten Pfeile Luluac" und dieser begehrt seine Schwester Zana: "Die geschlechtliche Spannung der beiden Körper ist gestiegen, Oh, oh, oh, beide sind selig, beide sind nahe daran, sich zu vergehen. Zana roßt wie eine junge Stute." Die primitivistische Tanzorgie dieses Romans endet in einer Art kollektivem Orgasmus. Das in Müllers expressionistischer Wortkunst zum Ausdruck gebrachte Begehren des Primitivismus ist auch aufschlussreich für das der Ethnografie zugrunde liegende Begehren. Es treibt die Anthropologen in den Dschungel, um dort die Wilden leibhaftig zu erleben. Im Diskurs über die Primitiven werden auf diese die eigenen Wünsche nach Praktiken sexueller Gratifikation projiziert, die nicht den Tabus der Zivilisation unterworfen sind.

Im Finale der Tanzszene von Müllers "Tropen" beginnt das "Fleisch an den Körpern" der Amazonas-Indianer "gleichsam zu gären". Ein "niederträchtiger, menschlicher Geruch" macht sich bemerkbar: "Luluac schreit rasend auf und die Männer fallen triumphierend und befriedigt ein. Der Höhepunkt ist vorüber."