Jenseits der Repräsentation

Ein Sammelband geht den Spuren ästhetischer Präsenzerfahrungen nach

Von Jan GerstnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Gerstner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Beim Begriff der Präsenzerfahrung handelt es sich um einen "Schlüsselbegriff der ästhetischen und poetologischen Diskussion", wie der Untertitel des von Marco Baschera und André Bucher herausgegebenen Bandes präzisiert. Im Vorwort sprechen die Herausgeber dann vom Begriff der Präsenz selbst. Was wie eine terminologische Unentschiedenheit aussehen mag, ist in der Tat kaum zu unterscheiden: was wäre Präsenz denn, wenn sie nicht erfahren würde? Und was wäre sie über diese Erfahrung hinaus? Denn erfahren lässt sich Präsenz nur als gegenwärtige, dargestellt und besprochen wird sie aber nie anders als im Nachhinein. Damit ist der Kern der Problemstellung des Bandes berührt. Als Repräsentation verweist ein Kunstwerk auf etwas Abwesendes, in der ästhetischen Erfahrung aber bekommt sein Zeichencharakter selbst eine eigene Art von Präsenz.

"Diese neue Form von Präsenz entsteht nicht, ohne jene Form von Präsenz infrage zu stellen, die die Re-präsentation illusionär darstellen möchte." Es ist diese schwer zu fassende ästhetische Präsenz, an der vor allem die moderne und postmoderne Ästhetik sich immer wieder abarbeitete. In einem Panorama hier maßgeblicher Autoren - von Theodor W. Adorno über Michel Foucault zu Jacques Derrida - entwickeln die Herausgeber das Problem dieser reinen Präsenz, die nicht mehr in einer Repräsentation aufginge, die dadurch aber eben auch nicht mehr diskursiv zu verhandeln wäre. Was der Reflexion bleibt, sind die Spuren der Präsenzerfahrung. Diese sind es denn auch, die im vorliegenden Band "von verschiedenen künstlerischen Medien her" reflektiert werden.

Die Formulierung "von den Medien her" weist dabei in zwei Richtungen. Der Band versammelt sowohl wissenschaftliche Aufsätze und essayistische Annäherungen, die sich Präsenzerfahrungen in einem bestimmten medialen Bereich widmen, wie künstlerische Versuche, die behandelten Präsenzerfahrungen im jeweiligen Medium selbst hervorzurufen. Es erstaunt dabei nicht, dass mit Felix Philipp Ingolds "Himmeln" der Lyrik ein besonderer Platz unter den literarischen Annäherungen an eine Präsenzerfahrung eingeräumt wird, die, den Bemerkungen der Herausgeber im Vorwort entsprechend, sich nicht in Repräsentationslogik erschöpft, sondern diese vielmehr zugunsten des verwendeten Materials, der Sprache, zurücknimmt.

Dass gerade lyrische Texte in besonderer Weise geeignet sind, die Sprache in eine eigene Präsenz treten zu lassen, macht Boris Previšic aus literaturwissenschaftlicher Sicht anhand des Eigenrhythmus bei Friedrich Hölderlin deutlich. Mit dem Rhythmus tritt in der Lyrik das primär zeitliche, nicht sinntragende Element der Sprache in den Vordergrund, das in den freien Versen Hölderlins "erst durch die wahrgenommene Wahrnehmung, erst durch die Reflexion, wie das Gehör den Rhythmus kontextualisiert und wieder negiert, entdeckt wird - als reine Präsenz." In Ingolds Gedicht kommt zur eigenen Präsenz der Sprache aber noch ein weiteres hinzu. Indem den jeweiligen Strophen in Klammern eine variierende Wiederaufnahme vorhergehender Zeilen folgt, wird ein Effekt der Nachträglichkeit erzeugt, der die Zeit des Lesens als immer wieder neu ansetzenden Prozess des Verstehens hervorhebt.

Zwei eher poetologische Essays von Schriftstellern vervollständigen die literarischen Zugänge zur Erfahrung von Präsenz. In Eleonore Freys Beitrag blitzt dabei auch beim Lesen eine eigentümliche Art von Präsenz auf. Der Text beginnt mit dem Hinweis auf "diesen Raum", in dem die Autorin Germanistik-Kurse gegeben habe - ein Spiel mit dem Thema des Bandes oder einfach nur ein Versehen bei der Redaktion des Vortrags-Manuskripts? Da das Buch von offensichtlichen Tippfehlern leider nicht vollständig frei ist, liegt letzteres durchaus nahe. Doch sind auch an anderen Stellen die Spuren des Kontextes, in dem die Beiträge entstanden - ein Kolloquium und eine Tagung an der Universität Zürich -, absichtlich gewahrt. Der Text des Komponisten Gérard Zinsstag endet mit dem Hinweis der Herausgeber, dass im Vortrag nun einige Hörbeispiele folgten, die das vorher Gesagte verdeutlichten. Dies ist auch der einzige Beitrag zur Musik. Visuelle Medien sind vielseitiger vertreten, durch einen interessanten bildphilosophischen Aufsatz Marie José Mondzains, einen Text des Filmemachers Hannes Schüpbach und schließlich eine Fotostrecke von Hans Danuser. Letztere wird von einem Beitrag des Herausgebers Baschera flankiert, der allerdings nicht so sehr einen Kommentar zu den Bildern oder zur eigentümlichen Präsenz im Medium Fotografie darstellt, sondern den Gegenstand der Fotos, einen von Danuser gestalteten Platz, zum Anlass nimmt, recht weitläufig über die "vorzeitliche Präsenz eines Platzes" zu reflektieren.

Der besonderen Präsenzerfahrung auf der Theaterbühne geht dann Denis Guénouns Beitrag "Le face et le profil" nach. Es geht hier aber weniger um die Präsenz der Aufführung, die notwendigerweise auf zeitliche und räumliche Gegenwart angewiesen ist, als um die zwei Achsen der Darstellung auf der Bühne. In der direkten Wendung zum Publikum hin ("face") zeigt sich die Erfahrung des Theaters als höchste Präsenz. Ihr muss aber die andere Achse, die Wendung zum anderen Schauspieler ("profil"), und die Handlung zur Seite treten.

Theatralisches spielt auch in den ersten Aufsatz des Bandes herein. Gegen eine auf die Autorintention ausgerichtete Hermeneutik hebt Jean-Claude Höfliger in seiner Lektüre der platonischen Dialoge deren dramatische Form hervor, die, da sie sich in der Figurenrede sozusagen versteckt, es gerade schwierig macht, eine Intention Platons herauszulesen. Die Suche nach dem, was Platon eigentlich sagen wollte, wird zudem erschwert durch die zahlreichen Stellen, an denen die letzte Erörterung des Kerns der besprochenen Sache ausgespart wird. Höfliger geht es im Grunde gar nicht um die Erfahrung von Präsenz, sondern vielmehr um deren Enttäuschung, genauer: das Begehren nach der Präsenz der Autorintention, das sich gerade an deren Unerkennbarkeit im Text entzündet. Diese Perspektive, von der aus eine interessante Diskussion des Themas des Buches zu erwarten wäre, taucht aber leider erst am Ende des Aufsatzes in aller Klarheit auf.

Damit ist zugleich ein Problem des gesamten Bandes angesprochen: bei der Heterogenität der Beiträge bleibt eine tatsächlich tiefergehende Auseinandersetzung, deren Relevanz im Vorwort noch aufgezeigt wird, weitgehend außen vor. Die Unterschiedlichkeit der Herangehensweisen und Textsorten sowie die thematische Breite der hier versammelten Texte und Bilder machen durchaus die Bedeutung des Begriffs der Präsenz in den unterschiedlichsten Bereichen deutlich. Sie zeigt so auch, welche Facetten sich diesem abgewinnen lassen. Bei solchen Facetten bleibt es, so interessant die Ergebnisse im Einzelnen sind, dann auch.


Titelbild

Marco Baschera / Andre Bucher (Hg.): Präsenzerfahrung in Literatur und Kunst. Beiträge zu einem Schlüsselbegriff der aktuellen ästhetischen und poetologischen Diskussion.
Wilhelm Fink Verlag, München 2008.
138 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783770542574

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