Ein Traum von Drugs and Rock'n Roll

Georg Meiers Roman über Grenzen und Möglichkeiten einer Beatnik-Utopie

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Michel ist aus Gießen. Gießen ist in den 1960er-Jahren des 20. Jahrhunderts Provinz. Die Rahmenbedingungen für seine Jugend sind die engen Grenzen des Wirtschaftswunders. Werte und Wünsche einer prosperierenden Konsumgesellschaft werden an ihn herangetragen - denen er sich verweigert. Eine Ausbildung im Gastronomiebereich wird mit Mühe absolviert, dann der Seesack gepackt und im Sinne von Jack Kerouacs "On the road" in Richtung "Gammlerparadies" losgezogen. Das erzählende Ich ist Jahrgang 1947. Der Erzähler erlebt in den folgenden Jahren eine fast "klassische" Sozialisation eines 68er-Protagonisten. Keine Arbeit, ab und an ein kleiner Nebenjob, auf Wiesen herumliegen, Haschisch rauchen, Bier trinken und jede Menge Mädchen, die bereitwillig auf ein Abenteuer mit einem Beatnik warten. Dazu eine gute Portion Musik. Die einschlägigen Musikstandards werden rekapituliert und den entsprechenden Situationen und Erlebnissen zugeordnet. Eine stattliche Diskografie entsteht so neben der Lektüre.

Der Leser wird durch die Welt eines "Gammlers" geführt, erfährt etwas über damalige Modedrogen, ist mit dem Protagonisten in schäbigen Hotels in Istanbul, reist nach Indien und wird nebenbei über jede Menge aktuelle politische Ereignisse informiert. Ende der 1960er-Jahre wird die zunehmende Antiamerikanisierung der Umwelt des Protagonisten auffällig - vor allem in seinen Reflektionen über den Vietnamkrieg, die gesellschaftliche Atmosphäre in der BRD und die Studentenunruhen. Die BILD-Zeitung ist allgegenwärtig. Meier schafft es, die Atmosphäre der Unsicherheit, Bedrohung und allgemeinen Verunsicherung einzufangen, die Anfang der 1970er-Jahre in politischer Hinsicht - vor allem mit der RAF als ständigem Bedrohungspotential im Hintergrund - in der Luft lag. Seine eigenen Fluchten werden immer wieder thematisiert, ebenso die Auseinandersetzung mit dem Elternhaus, das sich mit den neuen Lebensidealen des Sohnes nicht einverstanden erklären kann. Der Tod der Mutter ist ein einschneidendes Erlebnis und wird mit dem endgültigen Verlust von Heimat gleichgesetzt. Dazwischen immer wieder die Begegnungen mit verschiedenen Frauen, Freundinnen und Bettgenossinnen.

Der Leser wird eigentlich auf eine interessante Reise mitgenommen, auf der man sich spätestens nach 300 Seiten fragt, wie es Michel aus Gießen denn am Ende des Buches ergehen wird. Und hier ist es das einschränkende "eigentlich" des vorhergehenden Satzes, das es aufzunehmen gilt. Im letzten Teil des Romans bekommt die vermeintlich biografische Erzählfabel immer mehr Momente, die an einen Deus ex machina erinnern und sich nicht in den Erzählfluss fügen. Eine Ehefrau mit Mordabsichten, die in der Figurenzeichnung weit hinter den übrigen Figuren zurückfällt, abstruse Mordgeschichten und Verfolgungsszenarien bereiten vor, was den Leser auf den letzten Seiten erfährt: alles nur ein Traum - Ätsch!

Der Protagonist lag vier Tage halluzinierend im Krankenbett und der vorliegende Roman ist die Fabel des Traums. Am Bett sitzen seine Frau, seine Freunde, keiner verfolgt ihn, keine Ehefrau mit Mordabsichten - alles ist in Ordnung. Dem Roman kommt dieser harmonische Schluss nicht zugute. Er markiert einen seltsamen "Erzählbruch". Dieses bemüht wirkende Ende konterkariert die über mehrere hundert Seiten aufgebaute Erzählspannung und Erwartungshaltung mit einer Lösung, die der Komplexität der Hauptfigur nicht entspricht. Schade. Aber vielleicht sollte der Leser einfach hundert Seiten vor dem Ende das Buch beiseite legen - er hätte nur das Gefühl, einen wirklich guten Roman nicht zu Ende gelesen zu haben.


Titelbild

Georg Meier: Alle waren in Woodstock - außer mir und den Beatles. Roman.
Dittrich Verlag, Berlin 2008.
484 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783937717968

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