Der exterritoriale Mensch

"Memoiren eines Moralisten": Zum 15. Todestag von Hans Sahl erscheint seine große Autobiografie in einer Neuausgabe

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es mache einen Unterschied, mit was man schreibt, behauptete einst Friedrich Nietzsche: Unser Schreibwerkzeug arbeite mit an unseren Gedanken. Bei Hans Sahl, dem großen Außenseiter unter den Exil-Literaten, war dies der Fall. Nahezu erblindet, konnte der Dichter, Kritiker und Übersetzer im Alter nur noch dank eines Diktiergerätes schreiben. Ein Handicap, das für den ganz eigenen, rasanten Erzählstil seiner Autobiografie sorgte.

Der schleichende Verlust der Sehkraft und der schwierige Schreib-, nein Sprechprozess sind in Sahls Erinnerungen wiederkehrende Themen. Umso eindrucksvoller die Fabulierlust und raffinierte Komposition des zweibändigen Werkes, in dem sich die Zeitebenen überlagern und das mit faszinierenden Geschichten und Begegnungen prall gefüllt ist. Und mit luzide porträtierten Charakteren. Sahl kannte sie alle persönlich: die "Kriegselephanten der Literatur" wie Thomas Mann, Joseph Roth oder Alfred Döblin ebenso wie das "schreibende Fußvolk", zu dem als Kritiker auch Sahl selbst gehörte: Er sprach im Romanischen Café mit Alfred Polgar über Bertolt Brecht und in einem französischen Internierungslager mit Walter Benjamin über Franz Kafka.

Es sind die "Memoiren eines Moralisten", der vom Glauben an die Kraft des Wortes und der Wahrheit partout nicht lassen wollte. Das Aufwachsen in einem begüterten Elternhaus - der Vater war ein jüdischer Kaufmann - sorgte bei dem jungen Hans Sahl, 1902 geboren, für ein anhaltendes Schuldgefühl. Nach dem Ersten Weltkrieg ließ sich der 16-Jährige von der neuen Kunst des Expressionismus in einen Zustand religiöser Dauerekstase versetzen. Dass sich Kunstwerke auch nüchtern untersuchen lassen, lehrte ihn erst ein Kunststudium - die Voraussetzung dafür, dass Sahl zu einem der jüngsten Literatur- und Theaterkritiker der Weimarer Republik avancieren konnte. Im Berlin der "Goldenen Zwanziger" entdeckte er als einer der ersten Kafka, Anna Seghers und Ernest Hemingway und bewertete früh die Bestsellererfolge rechter Autoren als Vorboten kommenden Unheils.

Sahls Begeisterung aber galt einer neuen Kunst, dem Film, den er vor der Kommerzialisierung bewahren wollte. Seite an Seite mit seinen Vorbildern Siegfried Kracauer und Béla Balázs polemisierte er nicht nur gegen den Siegeszug von Ton und Farbe. Sahls Filmkritiken für den "Berliner Börsen-Courier" waren oft auch Kassiber der intellektuellen Heilslehre jener Jahre, des Kommunismus. Ein Parteigänger war der junge Sahl zwar nicht, wohl aber wie so viele seiner Generation ein Sympathisant der Sowjetunion, die allein Rettung vor den Nazis versprach.

Zum verfemten Renegaten wurde Sahl aber, als sich die Linke nach 1933 radikalisierte. Im Pariser Exil wuchsen die Zweifel, als selbst so klugen Köpfen wie dem "rasenden Reporter" Egon Erwin Kisch zum Hitler-Stalin-Pakt und den Moskauer Schauprozessen nur ein "Beruhige dich, Stalin denkt für uns" einfiel. Treffend ist der zweite Teil von Sahls Autobiografie daher mit "Das Exil im Exil" betitelt. Endgültig zum Außenseiter der Exilszene wurde Sahl nach seiner Weigerung, einer von Moskau angeordneten Denunziation des Publizisten Egon Schwarzschild zuzustimmen.

In Zürich wurde er Mitarbeiter bei Erika Manns "Pfeffermühle", in Marseille half er einem amerikanischen Hilfswerk für Flüchtlinge, ehe er dank Klaus und Thomas Mann 1941 selbst eine Überfahrt in die USA ergatterte. "Wir sind die Letzten. / Fragt uns aus. / Wir sind zuständig." - man machte es sich zu leicht, verstünde man diese berühmt gewordenen Verse Sahls nur als Mahnung an die junge Generation. Sie waren auch eine Form der Selbstbeschwörung, um die Hoffnung auf ein Publikum nicht aufzugeben. Schließlich interessierte sich jahrzehntelang niemand für diesen Autor. Sahls Gedichte wurden in der Nachkriegszeit ebenso wenig gelesen wie sein großer Exil-Roman "Die Wenigen und die Vielen" von 1959. So blieb er dort, wo seine Flucht vor den Nazis geendet hatte, in New York. Er schrieb für Zeitungen, übersetzte für deutsche Verlage die Stücke US-amerikanischer Dramatiker wie Thornton Wilder oder Arthur Miller. Und betrachtete sich endgültig als "exterritorialen Menschen".

Erst gegen Ende seines Lebens durfte er so etwas wie eine Renaissance seines Werkes erleben, die ihn zuletzt sogar zurück nach Deutschland lockte; lange hielt sie freilich nicht an. Heute, 15 Jahre nach seinem Tod am 27. April 1993 in Tübingen, bietet eine neue Edition Gelegenheit, Sahl wiederzuentdecken. Die Neuausgabe seiner Autobiografie (zuerst erschienen 1983/90), die man als bewegendes Epochen- und Generationenporträt guten Gewissens in einem Atemzug mit den Erinnerungen Stefan Zweigs oder Elias Canettis nennen darf, macht dabei den Anfang.


Titelbild

Hans Sahl: Memoiren eines Moralisten. Das Exil im Exil.
Luchterhand Literaturverlag, München 2008.
512 Seiten, 21,95 EUR.
ISBN-13: 9783630872780

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