Große Dichterin und wunderbare Frau

Zum 85. Geburtstag der Nobelpreisträgerin Wislawa Szymborska

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Die polnische Lyrikerin Wislawa Szymborska ist eine bescheidene und zurückhaltende Frau: "Wenn ich schreibe, habe ich immer das Gefühl, jemand steht hinter mir und schneidet Grimassen. Deshalb hüte ich mich, so gut ich kann, vor großen Worten." Skepsis und Neugierde stehen in ihrem Werk im Vordergrund, die Verkündung dichterischer Botschaften mit dem Anspruch der Unantastbarkeit ist Wislawa Szymborska fremd. In ihrem jüngsten Gedichtband "Der Augenblick" (2005) eröffnet sie stattdessen "ein Verzeichnis von Fragen, deren Beantwortung ich nicht erleben werde."

Als das Stockholmer Nobelpreiskomitee im Oktober 1996 seine Entscheidung zugunsten von Wislawa Szymborska bekannt gab, hielt sich die Lyrikerin gerade in einem Erholungsheim für polnische Autoren in Zakopane auf und zeigte sich überrascht über die ihr zugesprochene bedeutendste Auszeichnung in der literarischen Welt: "Ich freue mich enorm, bin aber gleichzeitig erschrocken. Es ist aber auch eine hohe Auszeichnung für die ganze polnische Poesie."

Nach Henryk Sienkiewicz (1905), Wladyslaw Reymont (1924) und Czeslaw Milosz (1980) ging der Nobelpreis 1996 erst zum vierten Mal nach Polen. Während in der offiziellen Begründung der Jury hervorgehoben wurde, dass Wislawa Szymborska "mit ironischer Präzision den historischen und biologischen Zusammenhang in Fragmenten menschlicher Wirklichkeit hervortreten lässt", formulierte der international renommierte (im Jahr 2000 verstorbene) polnische Romancier Andrzej Szczypiorski ("Die schöne Frau Seidenmann", "Eine Messe für die Stadt Arras"), seine Glückwünsche auf ganz persönliche Art: "Sie ist eine große Dichterin und eine wunderbare Frau".

Wislawa Szymborska hat sich in über 60 Jahren mit 17 Gedichtbänden den Ruf als "erste Dame der polnischen Poesie" erworben. Ihre Lyrik wurde sogar ins Arabische, Hebräische, Japanische und Chinesische übertragen. Schon 1991 ehrte die Stadt Frankfurt am Main die "große Humanistin Europas" mit ihrem Goethe-Preis, 1995 erhielt sie den Herder-Preis. Die Nobelpreisträgerin hat sich zwar im Gegensatz zu anderen bekannten schreibenden Landsleuten nur selten politisch öffentlich engagiert (1966 war sie aus der KP ausgetreten), doch die Zeiten des Außenseitertums und der Lesungen mit nur zwölf Zuhörern gehören seit 1996 endgültig der Vergangenheit an.

Wislawa Szymborska, die vor 85 Jahren in Bnin bei Posen geboren wurde, studierte polnische Sprache, Literatur und Soziologie in Krakau, wo sie seit 1931 lebt. Ihr literarisches Debüt gab sie 1945 mit dem in der Tageszeitung "Dziennik Polski" veröffentlichten Gedicht "Ich suche das Wort". Von 1953 bis 1981 arbeitete die Lyrikerin in der Redaktion der Zeitschrift "Das literarische Leben", für die sie auch viele Rezensionen schrieb. Außerdem betätigte sich die Nobelpreisträgerin auch erfolgreich als Übersetzerin französischer Barocklyrik.

Ihre Gedichte (von Karl Dedecius kongenial ins Deutsche übertragen), die nicht selten ins Prosaische und Aphoristische drängen, kommen ohne philosophisch-theoretischen Überbau daher und sind Zeugnisse eines ausgeprägten künstlerischen common sense. Eines ihrer schönsten Gedichte heißt "Autorenabend": "Muse, kein Boxer zu sein bedeutet, gar nicht zu sein. / Das brüllende Publikum hast du uns nicht gegönnt. / Zwölf Zuhörer sind im Saal / Zeit anzufangen / Die Hälfte ist da, weil es regnet / der Rest sind Verwandte. Muse!"

Diese Form der lakonisch vorgetragenen, reflexiven Selbstironie ist durchaus charakteristisch für das gesamte Œuvre. Ihrer gesellschaftlichen Randexistenz als Dichterin war sich Wislawa Szymborska immer bewusst. In "Auf Wiedersehen bis morgen" schrieb sie: "Manche mögen Poesie / man mag ja auch Nudelsuppe / mag auch Hunde streicheln." Es sind alltägliche, unpathetische Momentaufnahmen, die ihre Gedichte prägen: spontane emotionale Befindlichkeiten oder Beobachtungen, die mit fotografischer Präzision in Sprache verwandelt werden.

Das letzte Gedicht ihres jüngsten Bandes enthält die für ihr gesamtes Œuvre charakteristischen Zeilen "Eigentlich könnte jedes Gedicht /,Augenblick' heißen."