Erfasst vom stillen Schreibrausch

Zu Joyce Carol Oates Roman "Du fehlst"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ich habe all diese hässlichen Wörter einfach hingeschrieben und bin dabei allmählich in Fahrt gekommen. Ein stiller Schreibrausch hat mich erfasst", lässt Joyce Carol Oates eine Figur in ihrem Roman "Zombie" (deutsch 2000) erklären. Ein Resümee, das auch auf die Autorin zutrifft, die von der Literatur besessen ist und die von sich selbst sagt: "Wenn ich nicht schreibe, dann lese ich."

Unendlich viel hat Joyce Carol Oates bereits geschrieben. Schon als Schülerin soll sie die ersten Geschichten verfasst haben, als junge Studentin (so die Legende) schrieb sie pro Semester einen Roman. Die Veröffentlichung ihres ersten Bandes mit Kurzgeschichten liegt schon mehr als vierzig Jahre zurück, und bereits 1969 erhielt sie für den Roman "Them" den National Book Award. Inzwischen sind es rund 60 publizierte Romane, über 100 Kurzgeschichten, dazu zahllose Essays, Theaterstücke, Drehbücher, Kritiken und wissenschaftliche Aufsätze.

Joyce Carol Oates, die am 16. Juni 1938 im ländlichen Städtchen Lockport im US-Bundestaat New York als Tochter eines verarmten Bauern geboren wurde, hat ein ausgeprägtes Faible für die epische Breite. Sie malt ihre Romanschauplätze mit fotografischer Präzision aus, selbst Handlungskomparsen werden wie mit Röntgenstrahlen durchleuchtet. Diese Beschreibungsmanie, die sie mit ihren Vorbildern James Joyce und Thomas Mann teilt, führt bisweilen zu einer anstrengenden Langatmigkeit.

Den Vorwürfen der Vielschreiberei begegnet die in Princeton als Professorin für kreatives Schreiben lehrende Autorin mit Hinweisen auf ihre Arbeitsweise: "Leben heißt für mich arbeiten." Da sie nach eigenem Bekunden nie länger als sechs Stunden schläft, bleiben pro Tag 18 Stunden, um zu schreiben, zu lesen oder zu lehren. Ein Leben mit und für die Literatur, das sie mit ihrem Ehemann, dem Verleger und Literaturkritiker Raymond Smith teilt.

Zuletzt waren von ihr der inhaltlich überfrachtete Roman "Niagara" (2007) und das autobiografische Erzählwerk "Ausgesetzt" (2005) erschienen, das die Autorin selbst als "Erinnerungsfiktion" bezeichnet hatte.

Pünktlich zum 70. Geburtstag von Joyce Carol Oates erschien nun in deutscher Übersetzung der 2005 in den USA veröffentlichte Roman "Du fehlst" - eine breit angelegte Story, die auf zwei Erzählebenen vorgetragen wird und deren Handlung in einer tristen Kleinstadt nördlich von New York angesiedelt ist. Es geht einerseits um eine gestörte Mutter-Tochter-Beziehung und andererseits um ein blutiges Verbrechen, das den beinahe automatisierten Alltag im Provinzkaff aus dem Rhythmus bringt.

Kurz nach dem Tod ihrer Mutter Carolina, die im Mai 2003 an den Folgen eines Schlaganfalls verstarb, soll Joyce Carol Oates mit der Arbeit an diesem Roman, der im Original den Titel "Missing Mom" trägt, begonnen haben. Die Geschichte beginnt am Muttertag mit einer kühlen Familienfeier - alles wirkt emotionslos, wie eingeübte Rituale. "Mom" ist mit Mitte fünfzig schon Witwe, und ihre beiden Töchter könnten unterschiedlicher kaum sein. Die Ältere ist eine brave Hausfrau, Mutter von zwei Kindern und mit einem biederen "Durchschnittsamerikaner" verheiratet. Anders die jüngere Nikki: die Klatschjournalistin hat eine lila Punkfrisur, ein flottes Mundwerk und eine Affäre mit einem verheirateten Mann. Das geregelte Leben von Mutter und Schwester ist für sie ein einziger Albtraum. Wenig später wird "Mom" blutüberströmt in der Garage gefunden - mit unzähligen Messerstichen getötet.

Joyce Carol Oates hat den weiteren Verlauf des Romans in zwei parallel verlaufende Handlungsstränge gesplittet: die Aufklärung des Verbrechens und Nikkis rückwärtsgewandte Annäherung an ihre Mutter. Die Auf- und Ausräumarbeiten im Haus der Mutter lösen bei der Tochter immer wieder Erinnerungsbilder aus. Nikki spürt die Nähe zu ihrer Mutter erst nach deren Tod. Hier gelingen Joyce Carol Oates sehr gefühlvolle, ja geradezu poetische Bilder. Der Schilderung der Aufklärung des Mordes merkt man an, dass Oates eben keine Meisterin des Kriminalromans ist. Die Zusammenführung der beiden Erzählebenen mündet in Nikkis neuer Liaison. Ein Detective, der an der Aufklärung des Mordes maßgeblich beteiligt war, tritt an die Stelle des übergewichtigen, verheirateten Mannes. Das Happy-End eines Romans mit eindrucksvoll-bewegenden Passagen, der in seiner Gesamtkonstruktion aber trotzdem nicht vollends überzeugen kann.


Titelbild

Joyce Carol Oates: Du fehlst. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Silvia Morawetz.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
489 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783100540140

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