Ansichten einer Kulturrevolution

Das Historische Museum in Frankfurt am Main präsentiert die ´68er und ihre Folgen

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist schon erstaunlich, welche Wellen das vierzigjährige Jubiläum der ´68er schlägt. Eine Generation geht ins Rentenalter, schon wird das große Ereignis ihrer Jugend noch einmal ausgebreitet. Opa erzählt vom Krieg? Naja, ein bisschen vielleicht. Denn kaum eine Zeit war aufregender nach 1945 - und es sei ihnen vergönnt. Auch das endlose Gerangel um das wahre ´68. Das Historische Museum Frankfurt am Main macht dabei mit. Nun ist das kein fernes Thema, war Frankfurt doch einer der wichtigsten Schauplätze jener Kette von Ereignissen, nach denen die Republik nicht mehr dieselbe sein sollte: Sie war freier, selbstgewisser und mutiger geworden, ließ ihren Bürgern mehr Freiheiten und gewährte ihnen mehr Selbstbestimmung.

Aus dem ´68er-Aufbruch kamen dabei nicht nur politische Impulse, die möglicherweise mit der Karriere Joschka Fischers zum Bundesaußenminister ihren Höhepunkt und vielleicht sogar ihr Ziel erreicht hatten. Denn auch wenn die Zeit voller Parolen war, die von der politischen Umwälzung, der Bemächtigung der Produktionsmittel und von einer neuen kollektiven Verantwortung sprachen, ist ´68 doch vor allem das Signum einer kulturellen Revolution. Das ist auch in der politischen Arbeit erkennbar, steckt hinter ihr doch ebenso wie hinter den kulturellen Umwälzungen ein Unmittelbarkeitsimpuls, der die Totalität der persönlichen Glückserfahrung für sich in Anspruch nahm.

Von ihm ausgehend attackierte die Studentenbewegung nicht nur das Establishment, sondern gleich noch sich selbst mit. Anders wird man die Breite der Gebiete, in denen die Suche nach einem neuen befreiten Leben betrieben wurde, kaum einschätzen wollen. Wohnexperimente, die Auflösung der Trennung von Privatem und Öffentlichem, die Selbstverwaltung als angemessener Organisationsform von unten, die sexuelle Befreiung, die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit der Generation, die die Republik lenkte, die antiimperialistische Revolte, die Revolutionierung der Lebensstile, der Kunst und die Geburt des linksradikalen Terrors aus dem Ursprung der Befreiung (was umstritten ist und umstritten sein soll). Die Frankfurter Ausstellung, die noch bis Ende August zu sehen ist, unternimmt den ambitionierten Versuch, das gesamte Phänomen ´68 und seine Folgen in den Blick zu nehmen und ihren Besuchern vorzuführen.

Da tauchen sie denn wieder auf, die Devotionalien der Bewegung, das kleine rote Büchlein, die Fotos vom Prager Frühling, die unvermeidliche Kommune I mit und ohne Uschi Obermaier, die Plakate und Fotos der Aktionen, die diese Endsechziger so abenteuerlich gemacht haben. Vieles ist bekannt und wird hier nur vorgeführt, weil es dazu gehört. Aber diese Jahre ohne das Kursbuch, das Hans Magnus Enzensberger so wunderbar revoluzzerhaft herausputzte, ohne Klaus Rainer Röhls "Konkret", die im Zweifel vor allem wegen der Sexstories gelesen wurde, die LP-Hüllen von Emerson, Lake & Palmer, Jimi Hendrix, Bob Dylan und den Doors. Das "Kochbuch für Gesellschaften", das Wagenbach dann aber erst in der 1970ern herausbrachte. Die Kinderladenfotos, A.S. Neills "Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung", Sigmar Polkes "Höhere Wesen befahlen: Rechte obere Ecke schwarz malen!" und so weiter. Herrlich, das alles anzuschaun, und schön, dass man`s nicht alles selber erfinden muss.

Eine verrückte Zeit. Ein Wunder, dass das in Deutschland möglich war. Keine Frage, unsere Gesellschaft ist nicht vollkommen, und diejenigen, die das (hoffentlich) können und vielleicht sogar dafür bezahlt werden, beschäftigen sich den lieben langen Tag damit, sie noch besser zu machen. Aber das, was sie an Basis-Errungenschaften verbuchen kann, die weitgehende Freiheit der Lebensstile, die Offenheit anderen Lebensentwürfen gegenüber, das allgemeine Recht auf Selbstbestimmung, freilich auch die exzessive Unterhaltungs- und Vergnügungskultur, die Beliebigkeit jeglichen Verhaltens, die Ignoranz und die extreme Individualisierung gehen auf die ´68er zurück.

Nicht dass sie irgendetwas davon erfunden hätten. Wie immer zeigt der genaue Blick, dass ´68 lange vor ´68 begonnen hatte. Die engen Kontakte der Kommune I, die mit ihren Provokationen bei den Medien verhasst und beliebt zugleich waren, mit der Situationistischen Internationale und dem Surrealismus, die umfänglichen Lektüren der politischen und lebensweltlichen Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts zeigen dabei die Linie, der man folgen kann, wenn es um den Ursprung dieser Errungenschaften geht.

Dass sich im Phänomen ´68 hohe Kunst und Unterhaltung, kapitalistische Verwertungsinteressen und subjektive wie kollektive Selbstbefreiung verbinden und dabei ein hoch explosives Gemisch ergeben, sagt hingegen vor allem etwas über den Zustand der europäischen Gesellschaften in den 1960er-Jahren aus. Insofern ist die Ausstellung eben nicht nur der Blick durch ein Kaleidoskop auf jene merkwürdigen Jahre, die die Republik geprägt haben. Sie ist zugleich auch mit der Aufforderung verbunden, sich diesem Phänomen mit jener Offenheit zu nähern, die es verdient hat.


Titelbild

Andreas Schwab / Beate Schappach / Manuel Gogos (Hg.): Die 68er. Kurzer Sommer - lange Wirkung.
Klartext Verlagsgesellschaft, Essen 2008.
302 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783898618878

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch