Es war einmal und ist noch heute

Maria Leonarda Castello über "Kindesmisshandlung und Rettung in Grimmschen Märchen"

Von Alexandra CampanaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Campana

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass Volksmärchen ausschließlich Texte für Kinder seien, ist ein Gerücht. Ein Gerücht, das die (Literatur-)Wissenschaft längst als solches entlarvt hat. Entsprechend vielfältig sind denn auch die Zugänge zum Textmaterial, derer sich die Märchenforschung bedient: Fragen der Motivherkunft und Überlieferungsgeschichte spielen dabei ebenso eine Rolle wie etwa strukturanalytische respektive gattungstypologische Untersuchungsmodelle. Mit ihrer kürzlich erschienenen Untersuchung "Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leiden sie noch heute" positioniert sich die Literaturwissenschaftlerin Maria Leonarda Castello zwar deutlich im Bereich eines primär pädagogisch interessierten Märchenlesens, tut dies allerdings unter verändertem Blickwinkel. Denn die Märchen interessieren sie nicht im Sinne einer moralisierend-lehrmeisterlichen Fingerzeig-Pädagogik für Kinder, sondern in erster Linie als "pädagogische und ethische Geschichten für Erwachsene".

An der Grenze zu einer frühen Ethik

Anhand der Märchen "Das Mädchen ohne Hände", "Der Eisenhans", "Sneewittchen" (wie der Titel in dieser Fassung letzter Hand noch lautete), "Allerleirauh" und "Frau Holle" der Brüder Grimm - alle vollständig im Buch abgedruckt, basierend auf der Großen Ausgabe von 1857 - möchte Castello einerseits aufzeigen, in welcher Weise sich (stief)elterliche Grausamkeit gegenüber den Kindern manifestiert und durch welche Strategien es den Kindern andererseits gelingt, sich aus diesen negativen Familienbanden zu lösen und sich zu selbstständigen Persönlichkeiten zu entwickeln. Die auffallende Grausamkeit der untersuchten Märchentexte gründe demzufolge insbesondere darin, dass besagte Märchen eben genau diese Grausamkeit gegenüber den Kindern anprangerten. Damit verbunden sei eine Mahnung zu verantwortlichem Handeln gegenüber den Schutzbefohlenen: "Unsere Saat wird in unseren Kindern aufgehen. Deswegen haben wir alle größte Verantwortung bei unserem Umgang mit ihnen." Archaische Verhaltensweisen wie beispielsweise diejenige der Stiefmutter Schneewittchens, die mit aller Macht ihren Einflussbereich verteidigen wolle, gerieten ins Zwielicht. Mit der Aufforderung, Wehrlose "nicht zu verjagen oder niederzumetzeln wie einen Feind" siedelten sich die Märchen folglich "an der Grenze zu einer frühen Ethik an".

Als zentralen Aspekt der Frage nach der kindlichen Lösung aus (stief)elterlicher Grausamkeit - die sich nicht nur in physischer Misshandlung, sondern auch in Seelenkälte und desinteressierter Beziehungslosigkeit äußern kann - identifiziert Castello denjenigen funktionierender sozialer Strukturen als Grundlage jeglicher Entwicklung: "Kinder benötigen reife und liebevolle Menschen, die sie begleiten und die sie selbst reifen lassen." Wenn sich herausstelle, dass die eigenen (Stief-)Eltern zu solch einer Begleitung nicht in der Lage sind, sei eine neue Umgebung für die Kinder notwendig. Der Aufbruch in ein verändertes soziales Umfeld gestalte sich in den meisten Fällen zwar als ein schrecklicher, aber genau dies sei für Kinder mit lieblosen Eltern der einzig mögliche, da der heillose Anfang in geheimnisvoller Beziehung zu einem glücklichen Ende stehe.

Aufbruch in neue Sozialstrukturen

Der erste Aufbruch des Königssohns im "Eisenhans" ist einer aus Angst vor väterlichen Schlägen, in deren Folge der Wilde die Rolle eines Beschützers übernimmt. Doch der Junge besteht die Probe des Brunnen-Bewachens nicht und es kommt zu einem erneuten Aufbruch: Er wird von seinem "Wahlvater" weggeschickt, wobei sich Eisenhans hier als strenger, aber dennoch guter Elternersatz zeige, zumal er dem Jüngling die Gewissheit mit auf den Weg gebe, sich in der Not an ihn wenden zu können: "So beweist er großes Vertrauen in das Kind, womit er gleichzeitig dessen Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit fordert und fördert." Dies sei die Basis, auf der sich der anfangs unreife Knabe im weiteren Verlauf des Märchens zu einem reifen Menschen entwickeln könne.

Über die dem Jüngling von Eisenhans vermittelte Grundsicherheit beim Aufbruch verfügt Schneewitchen, die nur dank des Mitleids des Jägers von der Stiefmutter fort und mit dem Leben davon kommt, in keiner Weise. Trotzdem gelangt auch sie in ein verändertes soziales Gefüge, das sich vor allem durch eine Kongruenz von Kern und Schale auszeichne: In der reinlichen und ordentlichen Welt der Zwerge sei alles, was es scheine. Und auch wenn die Zwerge Schneewittchen nach dem ersten Besuch der verzauberten Stiefmutter dazu raten, niemanden mehr ins Haus zu lassen, bevormunden sie das Mädchen nicht; letztlich überlassen sie ihm selbst die Verantwortung. Schneewittchen scheitert drei Mal an ihrer Verantwortung, nach wie vor aber lieben sie die Zwerge - und Castello zufolge sei es genau diese Liebe, die Schneewittchen nicht sterben, sondern demgegenüber ihr zauberhaftes Erwachen aus dem Tod möglich werden lasse. So wohne sie schließlich dem Sterben der Stiefmutter als "reife und nun selbst mächtige [...] junge Frau und Königin" bei.

Auch Allerleirauh werde keine andere Wahl gelassen, als fluchtartig aufzubrechen: Ein Vater, der sie heiraten will, bei dem kann sie nicht bleiben. Daher macht sich das hübsche Mädchen fortan für Männer unattraktiv und hüllt sich in einen Mantel, der durch die Schmerzen der Tiere - die alle ein Stück Haut für dessen Anfertigung hergeben mussten - unter anderem die geflohene Tat im elterlichen Bett repräsentiere. Die Königstochter verstecke sich also in einem Schmerzensmantel: "Die Wundränder der Tiere, die zu den Nähten des Mantels werden, verweisen auf die Seelenwunden der Tochter." Erst die Umgebung des neuen Schlosshofes, in welcher der König den Koch nicht dafür bestraft, die Suppe entgegen anderer Angaben doch nicht selbst gekocht zu haben, lasse in Allerleirauh die "erneute Sehnsucht nach dem Licht" zu. Diese treibe sie auf den Ball und letzten Endes in ihr gemeinsames Glück mit einem König, der aufmerksam und an der Wahrheit interessiert sei, ohne dabei Zwang anwenden zu wollen.

Was der Wald des Eisenhans für den Königssohn, die Welt der Zwerge für Schneewittchen und der neue Königshof für Allerleirauh, sei für die fleißige Stieftochter - die im verzweifelten Versuch, die Anerkennung der Stiefmutter zu erzwingen in einen Zustand der Dauerüberlastung, in den "heisse[n] Eifer der Ungeliebten", verfalle - das Reich der Frau Holle. Diese zeige sich als Gegenmutter, die weder Vernachlässigung noch Verwöhnung praktiziere. Der Aufbruch, der sich in Form eines Sprungs in den Brunnen und damit in den erwarteten Tod als ein besonders grausamer darstelle, sei notwendig gewesen, damit die Fleißige unter dem Wohlwollen der Frau Holle lernen konnte, sich selbst wahrzunehmen. Ihre Rückkehr zur Stiefmutter unternehme sie dann auch innerlich gereift und nicht mehr im Rahmen einer psychischen Abhängigkeit und das Gold der Frau Holle werde dadurch zum "Wahrzeichen des gelungenen, reifen Selbst".

Traumabewältigung

Einzig für das Mädchen ohne Hände müsse der Weg zwangsläufig in die Einsamkeit der Waldhütte führen, da es zugleich mit dem Abschlagen der Hände durch den Vater seine Seele habe abspalten müssen als einzige Möglichkeit, das Trauma der Misshandlung ertragen - wenn auch nicht integrieren - zu können. Zwar stehe der fremde König der Gleichgültigkeit des eigenen Vaters diametral gegenüber, dennoch aber müsse das Trauma hier ein unverarbeitetes bleiben.

Diese fehlende Verarbeitung des Initialtraumas zeige sich nach Castello insbesondere an der Reaktion auf den angeblichen Brief des Gatten, der in Wahrheit eine erneute Einmischung des Teufels ist: Anstatt aufzuschreien in Anbetracht des vermeintlichen Königswunsches, seine Gattin mitsamt dem Kind töten zu lassen, nimmt diese ihr Kind und geht. Erst in der Einsamkeit der Waldhütte, wo sie sich ihrer Seele in Form der schneeweißen Jungfrau wieder annähern könne, erkenne sie auch Jahre später ihren Mann: "Dieser ist nicht wie mein Vater. Dieser hat für mich alles aufgegeben." Das Nachwachsen der natürlichen Hände besiegle die Auflösung des Traumas.

So ist es noch heute

Die Untersuchung folgt konsequent der Systematik, sich den jeweiligen Märchen über eine grundsätzliche Frage, mehrere zentrale Motive und ein Hauptthema anzunähern. Ebenfalls miteinbezogen werden sprachhistorische Überlegungen bei der Auslegung verschiedenster Passagen. Die zwischen den behandelten Texten herausgearbeiteten Parallelen lassen die vorliegende Märchenlektüre zu einem in sich geschlossenen Ganzen werden, das darüber hinaus in flüssigem Stil geschrieben ist - wobei die Schwelle zum Plauderton gelegentlich übertreten wird. Die Auseinandersetzug mit bereits bestehender Forschung bleibt insgesamt knapp, was man der Autorin jedoch insofern nicht zum Vorwurf machen kann, als dass sie explizit eine persönliche Märchendeutung vorlegen wollte. Dies ist ihr zweifelsfrei gelungen, auch wenn sich die Frage stellt, ob ein stärkerer theoretischer Unterbau einzelnen Thesen nicht zu mehr Plausibilität hätte verhelfen können.

Dennoch öffnet Castello mit ihrer Lektürearbeit eine interessante Perspektive auf ausgewählte Grimm'sche Märchen, in denen sich die Wunder zeigen als das Vorhandensein von "Möglichkeiten, die familiären Ketten von Schuld, Grausamkeit und Ungerechtigkeit zu unterbrechen". In Anbetracht der Tatsache, dass Kindesmisshandlung ein nicht auf den Bereich von Märchentexten beschränkter Umstand ist, verdeutlicht Castello damit auch eine Aktualität der Grimm'schen Märchen, die durchaus erschrecken darf: "Es war einmal so, und so ist es noch heute."


Titelbild

Maria Leonardo Castello: Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leiden sie noch heute. Kindesmisshandlung und Rettung in Grimmschen Märchen.
Psychosozial-Verlag, Gießen 2008.
238 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783898068178

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