Männerweiblichkeit und Geschlechtsutopie

Eine Studie zur Androgynie in Thomas Manns "Joseph"-Romanen

Von Melanie OttenbreitRSS-Newsfeed neuer Artikel von Melanie Ottenbreit

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"Etwas Feminines ist mit dem Wesen 'Schönheit' verbunden - vide den Künstler, der nie und nirgends ein reiner und roher Mann gewesen ist", schrieb Thomas Mann in einem Brief an Graf Hermann Keyserling. Zweigeschlechtlichkeit übte starke Faszination auf den Dichter aus, sie schien ihm mit dem Wesen des Schönen verwachsen und ein Muster ausgeglichener Menschlichkeit, geeignet, aus der Verschmelzung des Weiblichen mit dem Männlichen ein ideales Doppelwesen zu gebären.

Joseph, der knabenhaft schöne Held aus dem Werk "Joseph und seine Brüder", ist aus dieser Affinität des Autors zum Androgynen gezeugt. In seiner Person fallen die weiblich anmutigen Züge der Mutter mit den männlich geistigen Gaben des Vaters in eins, um gemeinsam ein noch reizenderes Wesen zu ergeben - jenseits des Geschlechts und in schöner Ausgewogenheit. So zumindest sah Thomas Mann seine Figur, und lange war die Forschung geneigt, dieser Interpretation zu folgen.

Eine neue Untersuchung aber, entstanden am Graduiertenkolleg "Geschlechterdifferenz und Literatur" der Universität München, stellt diese scheinbar so harmonische Geschlechtsutopie infrage. In ihrer detaillierten Studie widmet sich Jelka Keiler dem Männerweiblichen und unterzieht dabei Joseph und die Frauengestalten einer genauen Betrachtung. Ihr Ergebnis: Thomas Manns Figuren sind weit davon entfernt, ihr biologisches und soziales Geschlecht tatsächlich zu überwinden. Gewinner der vorgeblichen Verschmelzung von Mann und Frau sind allein die männlichen Charaktere, allen voran Joseph, der sich zur "eigenen Vervollkommnung weibliche Züge 'kannibalisch' aneignet".

Statt Geschlechterdifferenz zu überwinden, konstatiert Jelka Keiler, verstärkt die Androgynie Mannscher Prägung nur Patriarchat und männliche Überlegenheit. Das Weibliche wird absorbiert, das Männliche perfektioniert. So entstehen vollkommenere Männer, die die positiven Eigenschaften des Weiblichen vereinnahmen. Die Frauen aber bleiben auf der Strecke, rezipiert werden sie einzig in ihrer Rolle als Mutter, Schwester, Muse oder Femme fatale, und die Gelegenheit zur Persönlichkeitsentfaltung wird ihnen, mit Ausnahme der Gestalten Teje und Thamar, verwehrt.

Jelka Keilers Arbeit zieht die Erkenntnisse der "gender studies" zur Interpretation heran, die auf der Trennung von biologischem und sozial determiniertem Geschlecht bestehen. Ihre Ausführungen sind plausibel und sehr textnah, so dass man geneigt ist, der Argumentation im Ganzen zu folgen. Gleichwohl erscheinen einige Behauptungen gewagt, wenn nicht überzogen. So wirft sie Thomas Mann vor, Rahel würde aus dem Text "getilgt", damit Joseph ihre Gaben absorbieren könne. Auch Mont-kaw, Josephs ägyptischer Ziehvater, muss sterben, damit er ihn in seinem Amt beerben kann. Als Beweis patriarchaler "Auslöschung im Text" dürfte letzteres aber kaum zu bewerten sein.

Eine Leistung Jelka Keilers liegt darin, Ordnung in das Gewirr von Begriffen gebracht zu haben, die häufig synonym für Androgynie verwendet werden. Die begriffliche Abgrenzung dessen, was unter Maskerade, Travestie und Hermaphroditismus zu verstehen ist, erlaubt ihr genaue Aussagen darüber, ob Joseph tatsächlich doppelgeschlechtlich zu verstehen ist oder ob er sich lediglich "verkleidet" und mit Frauenrollen spielt.

Thomas Manns ideales Menschentum ist "Männertum", so das Resümee, es durchbricht nicht die Grenzen zwischen Mann und Frau. Seine Romane transportieren keine Utopie des "dritten Geschlechts", sondern bewegen sich in den "tradierten, konservativen geschlechtlichen Konnotationen". Ein Ergebnis, das kaum überraschen kann.
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Titelbild

Jelka Keiler: Geschlechterproblematik und Androgynie in Thomas Manns Joseph-Romanen.
Peter Lang Verlag, Frankfurt 1999.
191 Seiten, 33,20 EUR.
ISBN-10: 363135004X

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