Die Augen weit geöffnet

Paul Virilio über die "Verblendung der Kunst"

Von Michael MayerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Mayer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Filmtitel wie Thema des letzten Films von Stanley Kubrick, "Eyes Wide Shut" (1999), sind seit seinem Erscheinen ebenso beliebter wie oft bemühter Gegenstand cineastischer Spekulationen. Und es scheint, als wolle Paul Virilio mit seinen jüngsten Reflexionen zur Kunst eine weitere hinzuliefern. Doch beschreibt die "Erfahrung freiwilliger Blindheit", mit der er das Rätselwort umdeutet, einen für die Moderne und nicht nur für die moderne Kunst grundlegenden Sachverhalt: dass die Industrialisierung des Blicks, die Automatisierung der Wahrnehmung, die Bewaffnung des Auges durch teleoptische Systeme zu einer Art Überbelichtung des Realen führen; zu einer absoluten Enthüllung, die das, was sie enthüllt, auflöst. Es gibt nichts mehr zu sehen, wo alles zu sehen ist: Eyes wide shut.

Wer also in Virilios neuester Publikation eine Sammlung von vier Essays zur Theorie künstlerischer Praktiken zu Beginn des 21. Jahrhunderts erwartet, liegt zwar nicht ganz falsch, aber eben auch nicht ganz richtig. Seit "Geschwindigkeit und Politik" (1980) und spätestens seit Krieg und Kino (1989), seinen bahnbrechenden Studien zur verdeckten Koinzidenz zwischen Geschwindigkeit, Wahrnehmungs- und Kriegstechnik, die ihn rasch berühmt machen sollten, debattiert er inständig, fast verbissen das Schicksal des Realen im Zeichen seiner tele-technischen Repräsentierbarkeit. Und er debattiert es in einem zunehmend düsteren Ton. Die von ihm eingeführte Disziplin der "Dromologie" (von griechisch ,dromos', Rennbahn) vermengt Technik- und Stadttheorie, Physik, Metaphysik und Kriegsgeschichte zu einer Logistik der Wahrnehmung im Zeichen der industriell verfertigten Revolution der Geschwindigkeit, die endlich alles menschenmögliche Maß übersteigt.

So schreibt Paul Virilio die Geschichte der technischen als ästhetischer Moderne als eine Geschichte des kollapsartigen Umschlags totaler Information in totale Deformation, der absoluten "Geschwindigkeit in Rasenden Stillstand" (1992), der völligen Sichtbarkeit in Blindheit. Information, die - so formuliert er 1993 in "Die Eroberung des Körpers" (1994) - "zum einzigen 'Relief' der Wirklichkeit, zu ihrem einzigen 'Inhalt'" wird, führt schließlich zu deren Diffusion, zur "audiovisuellen Entwirklichung". Die restlose Durchleuchtung des Realen mittels der Lichtgeschwindigkeit der Information ist schlechterdings destruktiv. Sie ist - in einem wortwörtlichen Sinne - apokalyptisch.

Erst vor diesem Hintergrund ergibt sein Versuch zum Sujet der Kunst Sinn. Sie ist ihm eher Medium denn Zweck seiner Analyse. Obgleich er früh schon als Glasmaler mit Henri Matisse sowie Georges Braque zusammenarbeitete und als Architekt stets in Tuchfühlung mit den Künsten stand - wovon der lesenswerte, von Peter Gente gerade herausgegebene Band "Paul Virilio und die Künste" (2008) Zeugnis ablegt - hat er für alle Versuche gegenwärtiger Kunst, die sich an der "Teleobjektivität" des Technischen spielerisch, neugierig oder auch nur experimentell versuchen, allenfalls Verachtung übrig. Virilio spottet nicht, er verflucht: "Was aber die zeitgenössische Desasterkunst betrifft, so haben wir es nicht mehr mit dem weltlichen Nihilismus der monochromen Malerei eines Yves Klein zu tun und ebenso wenig mit der ungegenständlichen Malerei auf dem Gipfel der Abstraktion. Was wir heute sehen, ist eine Kultur ohne Gedächtnis und ohne jede Regel. Diese Kunst der Amnesie ist ein Teil einer jähen Beschleunigung der Wirklichkeit. Sie gehört zur Heraufkunft des (rasenden) Stillstands, der polaren Trägheit in einer Welt, in der die Gleichschaltung der Empfindungen jede Form der Repräsentierung - ob künstlerisch oder politisch - in einer Telepräsenz maschinenübertragener Augenblickskommunikation gefrieren lässt."

Paul Virilio ist ein "Informations-Apokalyptiker" par excellence. Und apokalyptisch ist mithin der Gestus seiner Schrift: atemlos, über stürzt, gehetzt und getrieben durch die immer knapper werdende Zeit, durch die Endzeit, in der sich das absolute Unheil doch schon ereignet und ereignet hat. Sein "Apocalypse now" ist von einer fröhlichen Medienwissenschaft, die in den neuen Technologien per se die Möglichkeit einer Emanzipation von ohnehin verschlissenen Realitätsmustern feiert, Lichtjahre entfernt. Zur bitteren Ironie gerät, dass sie sich in einem grandiosen Selbstmissverständnis dabei ausgerecht auf Virilio berufen zu können glaubte. Und genau das gilt für die Kunst nicht minder. Gegen ihren zur bloßen Attitüde verkommenen Nonkonformismus bei gleichzeitiger Anbiederung an den globalisierten Kunstbetrieb, gegen die belanglosen Spiegelfechtereien mit der "virtual reality", mit Simulation, mit dem digitalen Code der intermedial operierenden Computer und Netzwerke setzt er die Statik und Widerständigkeit des Materials, das mit Händen zu greifen ist. Kunst ist "Handwerk", Werk überhaupt, körperlich hergestellter Kontakt mit der Umwelt, den Menschen, den Dingen - oder audiovisueller Schwindel.

Und zwischen exakt diesen Alternativen müsse Kunst sich entscheiden. Tertium non datur: ein Drittes gibt es nicht, vor allem nicht eine Kunst, die sich des technischen Dispositivs bedient, um seine Funktionslogik zu unterlaufen - oder es zumindest zu versuchen. Dass Medien und Medientechnik nicht nur Wirklichkeit blockieren, beschädigen und zerstören, sondern ein "Mittler" des Zugangs zu ihr zwar nicht schon sind, aber sein können, vermag Virilio - anderslautenden Annoncen zum Trotz - nicht zu denken. Denn er ist kein Konservativer, der sich in den "modern times", die er beklagt, meist behaglich einrichtet. Als Apokalyptiker, sprich Revolutionär eskaliert er jede Entscheidung zum finalen Entweder-Oder zwischen Extremen: zwischen gut und böse, zwischen wahr und falsch. Er stellt die Systemfrage anders, neu: Als Frage der Technik, deren sich das - politische, ökonomische, militärische, kulturelle - System nicht mehr nur bedient, sondern mit ihr identisch geworden zu sein scheint.

Die Verzweiflung, die einem aus dieser Diagnose entgegenschlägt, ist atemberaubend. Und man tut gut daran, sie nicht leichtfertig abzutun. 1932 geboren, ein "war baby", wie er sich selbst oft nennt, hat er die flächendeckende, endlich atomare Bombardierung der Städte nicht vergessen, die Panik nicht und nicht die Gräuel, nicht das Morden. Dass es nicht zu Ende sei, wie Ingeborg Bachmann einmal schrieb, dass es versteckt, verdeckt weitergehe, ist auch seine Überzeugung - denn der tele-technisch hochgerüstete Kapitalismus bringt nicht nur das Reale zum Verschwinden. Er produziert in den "gemäßigten Zonen" Gewinner und Verlierer, andernorts Opfer. "Dass es so weitergeht, ist die Katastrophe", notiert Walter Benjamin einmal. Und Virilio könnte das unterschreiben. Für ihn ist Technik die Fortsetzung, nein, die Wahrheit des Krieges, er hat nie aufgehört. Dass Technik nicht nur Wissenschaft, Industrie und Kultur, sondern die Wahrnehmung selbst militarisierte, bringt seine Inspiration auf den Punkt. Und die ist eine überaus dunkle. Im Herzen dieser Finsternis mag zwar die Hoffnung keimen, "endlich die Geburt einer Kritik der Technik erleben" zu können ("Von der Geopolitik zur Metropolitik", 1994). Doch worauf soll sie gründen? Vielleicht wird man Paul Virilio nicht zustimmen wollen. Vielleicht aber hat er Recht.


Titelbild

Paul Virilio: Die Verblendung der Kunst.
Übersetzt aus dem Französischen von Maximilian Probst.
Passagen Verlag, Wien 2008.
144 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783851658200

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