Netz aus Zeichen

AutorInnen beobachten München als erzählte Stadt

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jubiläen sind oft genug nicht nur ein guter Grund zum Feiern, sondern ebenso wohl für eine Buchpublikation. So auch anlässlich der 850-Jahrfeier der bayrischen Landeshauptstadt. Simone Hirmer und Marcel Schellong haben unter dem Titel "München lesen" einen durchaus originellen Sammelband herausgegeben, der sich mit den Bildern befasst, die Schriftsteller und Schriftstellerinnen im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte von der Isar-Metropole zeichneten. Einige von ihnen sind echtes Münchner Urgestein wie etwa Karl Valentin, andere wie Heinrich Heine kaum mehr als Durchreisende.

Wenn Oberbürgermeister Christian Udes Grußwort den Band als "ebenso unterhaltsam [...] wie anspruchsvoll" preist, so trifft das zwar auf das Buch insgesamt zu, doch nicht auf jeden einzelnen seiner achtzehn Beiträge. Elisabeth Buchholtz' Text über Lena Christ merkt man seine Entstehung als Vortrag zum Thema "'München in der Literatur' als Gegenstand des Deutschunterrichts" denn doch zu sehr an, als dass er sonderlich unterhaltend sein könnte. Hingegen versteht Ulrike Draesner sich dem Gegenstand ihres "Das Valentin" betitelten Beitrags fast schon kongenial zu nähern. Draesner ist zudem die einzige Autorin, die gleich zweimal vertreten ist. Einmal als Verfasserin eines Beitrages und einmal als behandelte Literatin. Oliver Jahrhaus widmet sich ihrem Roman "Spiele".

Wie die Herausgeber in ihrer ebenso interessanten wie erhellenden Einleitung bemerken, wäre München "nicht München ohne seine Texte". Dabei seien es weniger "die Realien, die in den Text eingehen, als vielmehr die Texte, die unser Bild von der Stadt bestimmen." Ebenso wie eine Figur in einer Biografie stets eine "literarisch geformt[e]" sei, deren Name zwar mit dem ihres Autors identisch sein könne, sie selbst - trotz aller "möglicherweise besondere[n] Authentizität" - jedoch nicht, so gelte entsprechendes von einer literarischen Stadt, deren Namen auch auf Landkarten zu finden ist. Es entstehe eine "unkontrollierbare Kippfigur, die zwischen Realität und Fiktionalität fortlaufend wechseln kann" und die zwischen drei Polen oszilliert: "der kollektiv bewussten Stadt, der Privat-Stadt des Autors und der Privat-Stadt des Lesers". So sei es nicht nur die "Steinstadt", die Geburtstag feiere, sondern ebenso "die vielen verschiedenen Münchens, die das Netz aus Zeichen ausmachen". Durch sie werde die Stadt allererst "als München konstituiert und erkennbar".

Die Chronologie des Erscheinungsjahres der literarischen Texte, mit denen sich die Beiträge befassen, bestimmen deren Reihenfolge. Wolfgang Frühwald, der sich mit einer "Episode" aus Heinrich Heines Leben und deren Folgen befasst, eröffnet sie. Beschlossen wird der Band mit dem bereits erwähnten Beitrag über Draesners Roman "Spiele". Dazwischen erörtert Hans-Joachim Ruckhäberle München anhand Gottfried Kellers Roman "Der grüne Heinrich" als "Hauptstadt der Kunst". Dirk Heißerer ist in der bayrischen Metropole des "Doktor Faustus" unterwegs und Sabine Kyora zeigt, warum Paul Wührs "Gegenmünchen" eine "Wörterstadt" ist. Dietz-Rüdiger Moser tariert "das Verhältnis zwischen Fiktion und Realität" in Feuchtwangers Erfolgsroman "Erfolg" aus, Nikola Rossbach begibt sich am "Beispiel München" in "Marie Luise Kaschnitz' literarische Zeit-Räume" und Sven Hanuschek nimmt Carl Amerys "urbane [München-]Porträts zwischen Karikatur und Kontrafaktur" in den Blick. Waldemar Fromms Interesse gilt mit Franziska zu Reventlow einer "konstante[n] Größe und exemplarische[n] Vertreterin" der Schwabinger Bohème des beginnenden 20. Jahrhunderts. Barbara Vinken wiederum stellt fest, dass "nicht immer genau auszumachen" ist, in welcher Stadt Marieluise Fleißers Geschichten spielen. Und so kommt München in diesem Beitrag auch nur eine untergeordnete Rolle zu. Dafür aber hat Vinken allerlei Erhellendes über das Werk Fleißers zu sagen.


Titelbild

Simone Hirmer / Marcel Schellong (Hg.): München lesen. Beobachtungen einer erzählten Stadt.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2008.
281 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783826037894

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