Die Geburt der Zentralperspektive aus dem Geist der Neuzeit

Hans Belting schreibt eine "westöstliche Geschichte des Blicks"

Von Michael MayerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Mayer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Der perspektivische Code", schreibt Norman Bryson in "Vision and Painting" (1983), "ist auf die physische Präsenz eines Betrachters gerichtet. In diesem Sinne ist der Fluchtpunkt der Anker des Systems, welches den Betrachter verkörpert und sichtbar macht. Der zentrale Sehstrahl lenkt den Blick auf sich selbst zurück."

Die Notiz ziert nicht nur Hans Beltings neuestes Buch "Florenz und Bagdad" als eines von insgesamt fünf Mottos; sie spannt auch dessen Sujet in eine durch die titelgebenden Ortsnamen angezeigte Polarität zwischen Orient und Okzident. Glückliche Eingebung und Spürsinn mögen den Autor veranlasst haben, die Rethematisierung eines der großen Rätsel, wenn nicht den blinden Fleck der Kunstgeschichtsschreibung - die Geburt der Zentralperspektive aus dem Geist der europäischen Neuzeit - mit einer eben diesen Geist gewitzt überschreitenden Fernsicht zu doppeln. Titel wie Motto von Beltings Buch verraten so auf den zweiten Blick, dass es schon von seinem formalen Aufbau her seinerseits nicht "zentralperspektivisch" arrangiert ist. Es ist, einer Ellipse gleich, von mindestens zwei thetischen Brennpunkten beherrscht, die man im Auge behalten muss, will man die Tragweite, die Chuzpe und auch die Grenzen des Belting'schen Unterfangens ermessen. Es empfiehlt sich, anders gesagt, eine stereoskopische Lektüre.

Denn zum einen zielt seine "westöstliche Geschichte des Blicks" nicht nur auf die längst aktenkundige Historisierung der scheinbar "natürlichen Wahrnehmung", die sich im Bildmodell der Frührenaissance durchgesetzt habe. Der fiktionale Charakter dieses Modells macht es zum Medium einer bis dahin nicht nur so noch nie vollzogenen Hinsicht auf Wirklichkeit, sondern zu deren sich selbst undurchsichtigen Produktionsbedingung. Der Blick auf die Welt, den das perspektivisch austarierte Bild liefert, bringt sie erst hervor. Ihre Objektivität, stolzer Ausweis methodisch strenger Wissenschaftlichkeit, ist ein Schein, der sich als "Sein" ausgibt, als Faktum.

Und mehr als das. Was Norman Brysons Zitat en passant verbucht, was unlängst auch Jean-Louis Déotte ("Cogito und Video", Diaphanes Verlag, 2006) in seiner ersten in deutscher Übersetzung erschienenen Schrift präzisiert, ist dem Versuch geschuldet, die Anthropologie selbst, die "Natur" des Menschen, bildtheoretisch zu historisieren. Belting gebührt das Verdienst, am bildlichen Anschauungsmaterial zu zertifizieren, was bislang allenfalls Gegenstand philosophischer Esoterik war: dass ein spezifisch neuzeitliches Selbstverhältnis - der "moderne Mensch" - aus der Funktionslogik seiner technischen Apparaturen resultiert. Im Gegensatz zu manchem Rezensenten, der Belting ausgerechnet mit diesem Buch glücklich wieder in den Schoß der altehrwürdigen Kunstgeschichte zurückgekehrt sieht, tritt er, obschon leise und dezent, einmal mehr in die Fußstapfen Dietmar Kampers, des früh verstorbenen, fast vergessenen Freundes, dessen Forschungsprojekt der "Historischen Anthropologie" viele viel verdanken (ohne dessen immer eingedenk zu sein).

Denn nicht allein der Raum, nicht nur Wirklichkeit als Ganzes erscheinen als Auswurf einer perspektivisch konstruierten Bildorganisation, deren Monokularität, Begrenztheit, Rand- und Tiefenschärfe, deren Statik mit den Wahrnehmungsmodalitäten organischer Augenpaare signifikant bricht. Über den Fluchtpunkt wird nicht nur der optische Blick ins Bild eingezogen, sondern der Betrachter selbst. Genauer: das Betrachtersubjekt in einer den Bildraum autark überblickenden, dergestalt kontrollierenden Position. Der Zurichtung der Welt als Gegenstand und Material technisch generierter Erkenntnis entspricht die Zurüstung des Menschen zum "Individuum", das dieser Welt frontal gegenübertritt, ihr äußerlich, fremd. Der Preis seiner Verfügungsgewalt über sie und über sich, der Preis seiner "unteilbaren" Identität und Identifizierbarkeit ist seine Autoimmunisierung vis-à-vis der Wirklichkeit.

So wurde mit der Erfindung der Zentralperspektive ein Prozess angestoßen, der durch die Entwicklung analoger und digitaler bildgebender Verfahren wie Fotografie, Film, Fernsehen, Videooptik et cetera zwar stetig noch an Dynamik gewinnt, doch die in der Frührenaissance einmal justierten techno-visuellen Parameter nurmehr ausbeutet. Was man als Geburt des genuin westlichen Blicks mit all seinen grandiosen wie prekären Konsequenzen wahlweise begrüßen oder kritisieren mag, wird durch Beltings Buch aber nicht nur auf seine historischen Entstehungsbedingungen zurückgeführt, sondern auch auf seine territorialen. Und das ist der zweite Brennpunkt seiner Überlegungen. Erst in der Zusammenschau beider Merkmale entfaltet sich deren Brisanz.

Mit Fug und Recht könnte man von einer der Sache impliziten Ironie sprechen, doch ist sie eine bittere. Denn "Florenz" verdanke seine singuläre Stellung als Hauptstadt abendländischer Bildpraktik einem bis dato verkannten wissenschaftlichen Transfer aus dem Morgenland. Der Mann war Araber, Mathematiker, Philosoph und Physiker und hörte auf den Namen Abu Ali al-Hasan al-Haitham (965-1040), in Europa unter den Namen Alhazen bekannt. Um 1028 schrieb er sein "Buch von der Sehtheorie" ("Kitab al-Manazir"), das ab 1200 in lateinischer Übersetzung unter dem Titel "Perspectiva" dem westlichen Mittelalter zugänglich wurde. Alhazens mathematisch konstruierte und experimentell verifizierte Sehtheorie, die im wissenschaftlich damals unterentwickelten Westen ihresgleichen nicht hatte, enthielt alle Merkmale, um sie auf eine Theorie des Bildes und der Bildperspektive übertragen zu können. Was aber weder Alhazen noch andere arabische Gelehrte taten; was über mehrere Etappen vom 13. bis zum 15. Jahrhundert in Europa realisiert und schließlich von Filippo Brunelleschi und Leon Battista Alberti als Theorie der Perspektive zur Grundlage künstlerischer Theorie und Praxis weiterentwickelt wurde.

Gerade vor dem Hintergrund dieser bislang verschütteten Subgeschichte des Blicks treten die Unterschiede zwischen arabischer und europäischer Kultur deutlicher zutage: weder bilderlos noch per se bilderfeindlich, hatten Bilder im Orient einen anderen Status, eine andere Funktion: nicht das Auge als zentrisch ausgerichtetes Repräsentationsorgan, das die Welt im und als Blick erfasst, sondern dem bilderlosen Licht, ortlos, ohne Schwer- und Mittelpunkt, galt die Aufmerksamkeit. Weder Perspektive noch das Porträt waren konzeptuell von Interesse, ein ausweisbares Zentrum sucht man noch in traditionellen Moscheebauten vergebens. Aber wie eigentlich sei überhaupt zu erklären, so Belting, "dass eine arabisch Sehtheorie, mit ihrer geometrischen Abstraktion, im Westen gegen ihren eigenen Sinn in eine Bildtheorie umgedacht wurde, die einen menschlichen Blick zum Angelpunkt jeder Wahrnehmung macht und ihn in Bilder fasst, also das im Sinne hat, was wir in der Fotografie 'analoge Bilder' nennen?"

Was vielleicht noch nicht die entscheidende Frage ist. Wenn Orhan Pamuk in "Rot ist mein Name" einen osmanischen Meister der Miniaturmalerei Ende des 16. Jahrhunderts prophezeien lässt, dass "eines Tages in der Zukunft" jeder so malen werde wie "sie", die Meister der Renaissance, und dass alle Welt "unter dem Begriff Bild das verstehen" werde, "was sie geschaffen haben", so rührt der Roman mit erstaunlicher Schlichtheit an das eigentliche Rätsel - dem der Suggestiv- und Durchsetzungskraft des europäischen Modells. Seinem planetaren Triumphzug tat bekanntlich die Kritik, die nicht erst in der klassischen Avantgarde mit ihrer Demontage des Fensterbildes, sondern schon im Barock einsetzte, ebenso wenig Abbruch wie plausible außereuropäische Bildtypologien arabischer wie fernöstlicher Provenienz. Beltings Buch ist betörend, ja atemberaubend in seiner bild- und kunstgeschichtlichen Rekonstruktion des abendländischen Bildkonzepts aus den Quellen arabischer Mathematik; es ist faszinierend in seiner bildtheoretischen Historisierung scheinbar natürlicher Wahrnehmung, vorgeblich objektiver Wirklichkeit und vermeintlich unhintergehbarer Subjektivtät.

Doch die Frage nach dem Sinn dieses Prozesses, nach dem dunklen Begehren, das den europäischen Sonderweg initiierte und in die Entwicklung eines planetaren technischen Dispositivs mündete, rührt womöglich auch an die Grenzen bildwissenschaftlicher Forschung. Man mag zweifeln, ob und wo dieser Frage in der gegenwärtigen Universität überhaupt noch einen Ort habe. Sowenig wie die professionelle Philosophie sich noch um diese Frage zu scheren scheint, so unvermeidlich ist sie aber.


Titelbild

Hans Belting: Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks.
Verlag C.H.Beck, München 2008.
319 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783406570926

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