Verbündete in der Einsamkeit

Über Hansjörg Schertenleibs Roman "Das Regenorchester"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Zwei Wochen und vier Tage nachdem mich meine Frau verlassen hatte, lernte ich Niamh kennen." So eröffnet der 50-jährige Schweizer Autor Hansjörg Schertenleib seinen sechsten Roman (die Jugendbücher nicht mitgerechnet), in dessen Mittelpunkt eine unkonventionelle Beziehung steht.

Ein in Irland lebender Schriftsteller, dessen biografische Daten mit denen seines geistigen Schöpfers fast völlig übereinstimmen, kämpft nach dem Abschied seiner Frau, die ihn ziemlich abrupt nach einer Affäre in Paris verlassen hat, mit dem inneren Gleichgewicht. Bei einer Jogging-Runde durch die malerisch beschriebene irische Küstenlandschaft lernt er die 64-jährige, alleinstehende Niamh kennen.

Sie wird nicht Freundin, sondern "Komplizin" (wie es im Roman heißt) im Kampf gegen das zermürbende Alleinsein. Niamh schenkt dem Autor als Dank für die gemeinsamen Stunden die Geschichte ihres bewegten Lebens.

Auf alternierenden Erzählebenen berichtet Schertenleib, der seit 1996 einen Wohnsitz im irischen Donegal hat, von den Treffen in Niamhs Bauernhaus und von deren Erinnerungen. Früh war sie (wie einige ihrer Geschwister) nach London aufgebrochen und erlebte dort in den späten 1950er-Jahren den alltäglichen Rassismus, als sie an der Pforte eines Geschäftes lesen musste: "No cats, no dogs, no irish, no blacks."

In London begegnete Niamh auch der einzigen Liebe ihres Lebens: Brendan, Sohn eines wohlhabenden Bauunternehmers, der sie als Dienstmädchen engagiert hatte. Brendans Mutter entwickelte eine hasserfüllte Eifersucht auf das junge Mädchen, bezichtigte sie erst des Diebstahls und warf sie dann aus dem Haus. Zunächst folgte Brendan "seiner Liebe", und beide nahmen sich eine kleine Wohnung. Niamh wurde schwanger, und Brendan kehrte in die finanzkräftige "heile Welt" seiner Familie zurück. Die Verlassene gab ihren Sohn zur Adoption frei und übernahm direkt im Anschluss einen Job als Haushälterin in Deutschland - bei den Eltern ihrer besten Freundin Nella, die über viele Jahre hinweg ihre Sommerferien in Irland verbracht hatte.

"Heillos ist nicht, wenn man sich der Vergangenheit erinnert, heillos ist nur, wenn man sich nach ihr sehnt. Dann wird die Gegenwart zur Qual, zur Hölle", resümiert die männliche Hauptfigur, die zwischendurch in einen Marihuana-Rausch flüchtet und den zwielichtigen Beziehungstherapeuten Mooney konsultiert.

Niamhs Lebensgeschichte dient dem Autor keineswegs als Stoff für ein neues literarisches Projekt, sondern vielmehr als Spiegel für sein eigenes Leben. Zwei von der großen Liebe enttäuschte Individuen tauschen sich (die Generationsgrenzen spielend überbrückend) in völliger Offenheit aus, berichten einander von den Erfahrungen des Fremdseins (Niamh in London und Deutschland, der Schriftsteller in Irland) und erleben das selten gewordene Gefühl eines respektvollen Zuhörens.

Der Schriftsteller steht im zweiten Teil der Erzählung vor einer großen psychischen Herausforderung. Er will die vom Krebs zerfressene Niamh in ihrem eigenen Haus bis zu ihrem nahen Tod pflegen. Hier schafft Schertenleib sprachlich dichte, poetische Sequenzen, die in regelmäßigen Intervallen zwischen intimer Nähe, beklemmender Verzweiflung und absoluter Ratlosigkeit changieren.

Am Ende wird Niamh, die sich ihre obsessive Lebensgeschichte von der Seele gesprochen hat, von ihren Qualen erlöst; der Schriftsteller hat wieder Kraft geschöpft, positiv in die Zukunft zu blicken und tanzt zu den durch Hagel und Wind in seinem Garten entfachten urtümlichen Klängen des "Regenorchesters".

Über die Klavierklänge des Norwegers Edvard Grieg heißt es an einer Stelle: "Es passte zur norwegischen Fjordlandschaft auf dem Umschlag wie zu unserer Stimmung: Nicht traurig, aber melancholisch." Treffender lässt sich weder die Gemütslage der beiden Hauptfiguren noch der Grundtenor dieses poetischen Romans von Hansjörg Schertenleib charakterisieren. Ein Meisterstück wider die Einsamkeit.


Titelbild

Hansjörg Schertenleib: Das Regenorchester.
Aufbau Verlag, Berlin 2008.
234 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783351032371

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