Der komplexe Text

Das mathematische Spiel der Welten in Thomas Pynchons Roman "Against the Day"

Von Sascha PöhlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Pöhlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man könnte bereits an der noch sehr jungen Rezeptionsgeschichte von Pynchons neuestem Roman "Against the Day" etwas ablesen, das dem Text selbst ein Anliegen ist. Diese Einsicht lautet: Man braucht viel Zeit, um sich auf eine Welt einzulassen, und die wenigsten Dinge sind simpel genug, um sie sich schnell zu erklären. Viele der frühen Rezensionen von "Against the Day" sind mittlerweile schon legendär negativ und sprechen von Selbstparodie und Enttäuschung, handeln selbst aber vor allem von der Unmöglichkeit, diesen Roman im Zeitraum engster Deadlines zu besprechen. Selten war es so sinnvoll, auch Jahre nach der Veröffentlichung eines Romans noch eine Rezension zu verfassen, und spätere Besprechungen weisen häufiger jene Einsichten über Details wie Gesamtstruktur auf, die frühen Rezensenten oft verwehrt blieben. "Against the Day" fordert - wie jeder Roman Pynchons, selbst der knappe Text "The Crying of Lot 49"- eine Entschleunigung der Welt des Lesers, die eigentlich sonst alles auf problemlose und häufige Konsumierbarkeit setzt. Die vielfach beschworene Zahl von fast 1.100 Seiten der englischen Erstausgabe umreißt die Problemstellung für den Leser nur grob; viel schwerwiegender ist, dass sich diese Seiten nicht mit einer Welt begnügen, sondern stattdessen ein Spiel an Welten und Zeiten darbieten, das selbst die postmoderne Literatur, die ja als besessen von ontologischen Fragen der Weltenerschaffung gilt, so noch nicht gesehen hat.

Diese Komplexität wurde dem Text unter anderen von jenen Rezensenten angekreidet, die das Buch gerne als ein anderes, einfacheres gehabt hätten: Adam Kirsch beklagte beispielsweise kurz nach Erscheinen des Buches in der "New York Sun" vom 5. November 2006, "Against the Day" gehe gedankenlos und nicht ernst genug mit dem Thema terroristischer Gewalt um, und als Antwort auf den 11. September sei das Buch schlicht zu albern. Hier zeigt sich ein Begehren nach Monokausalität und simplen Welterklärungen, das "Against the Day" gleichzeitig thematisiert und enttäuscht. Natürlich erwarteten viele vom New Yorker Pynchon ein Buch zum 11. September, doch ein Buch, wie es sich Kirsch vermutlich erhofft hat, hat dann eigentlich Don DeLillo mit "Falling Man" geschrieben, in dem es wenig Störendes gibt, das vom Ernst des Terrors ablenkt.

"Against the Day" hingegen verweigert sich dieser thematischen Reduktion und der Erwartungshaltung eines egozentrischen Publikums; fast selbstverständlich scheint es diesen Lesern zu erklären, man könne gerne einmal gemeinsam über Terrorismus und Amerika nachdenken, aber dann müsse man bitte im 19. Jahrhundert beginnen und über Arbeiterbewegungen, Anarchismus, die Haymarket Riots und die Staatsgewalt sprechen, die ihrem Namen auch damals schon alle Ehre machte und es verstand, aus politischen Motiven die Angst vor dem Anderen zu schüren.

Ebenso, wie man "Against the Day" nicht in wenigen Tagen lesen kann, wird man darin keine einfachen Erklärungen auf einfache Problemstellungen finden, sondern schnell daran erinnert werden, dass es nicht die Aufgabe der Literatur ist, solche Antworten zu liefern. Mag sein, dass allein in dieser vielfältigen Verweigerung der Einfachheit eine politische Bedeutung steckt, doch wäre es wiederum ein Fehler, den Roman nur darauf zu reduzieren oder ihn daraufhin vorschnell als schwierig einzustufen. Pynchons Romane sind allesamt nicht einfach, jedoch kann man sie alle auf vielerlei Arten lesen, die sich irgendwo zwischen diesen beiden Extremen befinden: Man kann sich auf das Labyrinth des Textes einlassen, jeder Spur in andere Texte und sonstige Medien folgen, jedes unbekannte Wort nachschlagen (um dann vielleicht zu merken, dass es nirgendwo sonst steht, weil Pynchon es erfunden hat), über jeden Querverweis rätseln und versuchen, das Buch so gut es geht zu "entschlüsseln".

Ohne Anführungszeichen geht es hier nicht; frühere Romane forderten diesen Prozess geradezu heraus und kommentierten ihn gleichzeitig amüsiert-abfällig, da er letztlich nur die Paranoia der Protagonisten spiegelte. Die andere extreme Lesart funktioniert jedoch auch, und ihre Möglichkeit beweist, wie sicher Pynchon mit verschiedensten Registern des Schreibens umgehen kann: Man kann den Roman lesen, ohne ihn auch nur ein einziges Mal zugunsten eines Nachschlagewerkes weglegen zu müssen. Schlicht gesagt: Es macht auch Spaß, den Roman zu lesen, wenn man nicht alles versteht. Niemand sollte sich etwas Anderes einreden lassen. Nichts schadet einem Roman mehr als die Aura der Unlesbarkeit, die meistens nur von jenen aufrechterhalten wird, die ihn unter sich lesen wollen. Dasselbe gilt auch für "Ulysses" oder "The Recognitions", aber es gilt bei weitem nicht für jeden Roman, der sich selbst offen als komplex präsentiert. Wenn die Rede davon ist, dass "Against the Day" ein Spiel der Welten anbietet, dann ist es also durchaus auch das Spiel mit den Möglichkeiten des Lesens.

Allerdings besteht kein Zweifel daran, dass die Offenheit von Pynchons Romanen gegenüber anderen Texten und Ideen schon immer auch ihren Reiz ausgemacht hat. Sie üben durch ihre Fülle an Geschichten, Ideen, Charakteren, Theorien, Fakten und Anspielungen quasi eine Anziehungskraft auf weitere Informationen aus, die der Leser kanalisieren kann. "Against the Day" ist da keine Ausnahme, auch wenn die Anforderungen an den Leser sich im Gegensatz zu früheren Romanen wieder einmal verschoben haben. Pynchon ist zwar immer Pynchon, aber eben nie derselbe Pynchon. "Mason & Dixon" überraschte die Leser mit Charakteren von einer Dreidimensionalität, deren Entbehrlichkeit Pynchon selbst ja eigentlich spätestens mit "Gravity's Rainbow" aufgezeigt haben sollte. "Vineland" war eben nicht "Gravity's Rainbow" Teil 2, sondern eine Dystopie ganz anderer Art, die von vielen heute noch zu Unrecht als eher zu vernachlässigender Teil in Pynchons Œuvre eingeschätzt wird. "Against the Day" wird jeder Pynchonite so als Pynchon-Roman erkennen können, wie man jeden AC/DC-Riff erkennen würde, auch wenn es ein neuer Song ist. Gleichzeitig bewegt sich der Roman keineswegs auf dem sicheren Pfad altbekannter narrativer Methoden, und wenn man eine Kontinuität konstruieren möchte, dann ist es eher eine modifizierte Verstärkung als ein Selbstplagiat.

Wir wollen uns hier auf eine dieser Vorgehensweisen konzentrieren und exemplarisch versuchen, sie als eine der bedeutsamsten fiktionalen Strategien in "Against the Day" zu interpretieren. Es geht dabei nicht um den Versuch, einen Plot zusammenzufassen, Charaktere vorzustellen oder ein Verständnis des gesamten Textes zu vermitteln; hier sei auf Heinz Ickstadts umfassende Rezension verwiesen.

Wie früheren Romanen liegt auch "Against the Day" ein wissenschaftliches Leitmotiv zugrunde; diesmal ist es die Mathematik, die Bilder, Ideen und Strukturen für den literarischen Text liefert, und die auch ihrerseits metaphorisiert wird. Man sollte dies allerdings nicht mit einer Art Schlüsselroman verwechseln, den man dann komplett verstehen wird, wenn man nur genug mathematisches Wissen an ihn herantragen kann; ebensowenig dient der Roman der Illustration mathematischer Ideen wie etwa Edwin Abbotts "Flatland" (1884, dt. "Flächenland"), der diese auch zur Satire gebraucht.

Stattdessen verbindet "Against the Day" Literatur und Mathematik, um Aussagen über beide Gebiete zu treffen, die ihrerseits relevant für eine Imagination der Welt sind. Pynchon behauptete in seinem eigenen blurb zu "Against the Day", der Roman biete vielleicht nicht die Welt, sondern das, was die Welt sein könnte, wenn man ein, zwei kleinere Veränderungen vornehme, und das wiederum sei nach Ansicht einiger Leute die Hauptaufgabe der Literatur. Natürlich handelt es sich hierbei um eine gewaltige ironische Untertreibung, da die Veränderungen weder klein noch überschaubar sind, und es ohnehin nicht bei der einen Welt bleibt, die verändert wird. Es deutet sich aber bereits hier an, dass es "Against the Day" um nichts weniger geht als die (Bedingungen der) Möglichkeit, Welten zu imaginieren und in Relation zueinander zu setzen, unter anderem auch zu dieser Welt, hier. In "Mason & Dixon" diente die Kartografie (oder eher die "Parageographie") dazu, diese Welt mit Schichten anderer imaginierter Welten zu überlagern, so den Blick auf die eigene, zugrundeliegende Welt zu verändern und diese auch als unveränderbare Grundlage in Frage zu stellen. In "Against the Day" bieten sich solche Fluchtpunkte in der Mathematik, und wieder lassen sich diese Bilder auch als metafiktionale Kommentare über den Roman selbst lesen.

"Against the Day" ist ein komplexer Text; diese Aussage klingt nur dann wie ein Klischee, wenn man sich nicht schon auf Pynchons Spiel doppelter und dreifacher Bedeutungen eingelassen hat. Anstatt mit diesen Worten einen komplizierten, anspruchsvollen Roman zu beschreiben, kann man vom "komplexen Text" sprechen wie von der komplexen Zahl. Diese Analogie wird im Roman nebenbei erwähnt, wenn im "Museum der Monstrositäten" von einer Darstellung jenes Taschenmessers die Rede ist, mit dem der Mathematiker Hamilton die nach ihm benannten Regeln in die Brougham Bridge in Dublin geritzt hat: das Messer sei "part real and part imaginary, a 'complex' knife one might say".

Im Deutschen funktioniert diese knappe Beschreibung noch, wenn auch nicht ganz so elegant, weil die reellen Zahlen nicht die realen Zahlen heißen; zumindest die imaginären Zahlen sind allerdings übertragbar. Dieses Verständnis von Komplexität lässt sich auf "Against the Day" selbst anwenden, denn die Welten des Romans sind nichts anderes als das - teilweise real und teilweise imaginiert, und daher komplex. Wenn kurz vorher analog ein Panorama als "zone of dual nature" beschrieben wird, das "part ,real' and part ,pictorial', or let us say ,fictional'" sei, werden dadurch die Begriffe des Imaginären und des Fiktionalen miteinander in Beziehung gesetzt, aber keineswegs vereinheitlicht.

Pynchons Fiktion bedient sich des Imaginären sowohl im Sinn des Fantastischen als auch der Mathematik und verteidigt es sozusagen durch den Querverweis: Während einige Kritiker - wie eingangs erwähnt - einem Roman mangelnden Realitätssinn vorwerfen und Literatur sich offenbar rechtfertigen muss, wenn sie sich in ihrer Imagination von der Welt, in der sie veröffentlicht wird, zu sehr entfernt, käme in der angeblich so nüchternen Wissenschaft der Mathematik wohl niemand auf die Idee, die Beschäftigung mit imaginären Zahlen nur deshalb für Zeitverschwendung zu halten, weil sie streng genommen nicht existieren. Der Literaturkritiker muss sich an dieser Stelle vom Mathematiker erklären lassen, wie vorteilhaft es sein kann, sich eine neue Welt mit neuen Regeln zu denken; Pynchon macht sich dieses Bild der Erweiterung zunutze und gebraucht es offen in "Against the Day" als Variante des Refrains seiner Werke, dass eine Reduzierung der Welt auf ihren status quo immer Resignation bedeutet. Nicht zuletzt ist diese Imagination bei Pynchon immer auch ein politisches Mittel, das sich der ideologisch konstruierten Unmöglichkeit, die Welt anders zu denken, entgegenstellt; eine Realität, die keine Gegenentwürfe mehr zulässt, bedeutet bei Pynchon Erstarrung.

"Against the Day" bedient sich des Imaginären in der Mathematik, um diese Möglichkeit des Andersdenkens selbst grundlegender Erfahrungen und Ideen auszuloten. Die imaginären Zahlen fordern das Vorstellungsvermögen heraus, und sie scheinen allem zu widersprechen, was man als mathematischer Laie für selbstverständlich hält. Im Bereich der reellen Zahlen existiert keine Zahl, die mit sich selbst multipliziert -1 ergibt, weil alle quadrierten Zahlen positiv sind; erst die imaginäre Einheit i (für die gilt: i2 = -1) ermöglicht Lösungen entsprechender Gleichungen. Das Imaginäre stellt eine Erweiterung der Welt dar, die nicht auf deren Beschreibung abzielt, sondern auf den nützlichen Bruch mit Konventionen des Denkens, die unsere Realität ausmachen. Eine imaginäre Zahl basiert auf einer "unmöglichen" Operation, und doch steht sie in Relation zu reellen Zahlen, wie etwa in komplexen Zahlen, die aus Realteil und Imaginärteil bestehen (a+b·i). Genauso wie diese imaginären Zahlen keine komplett neue, separate Mathematik bedeuten, sondern die Mathematik bereichern, indem sie ihren Denktraditionen widersprechen, so stellt auch Pynchon seine imaginären Welten nicht als sauber voneinander getrennte Einheiten dar, die nichts mit dem zu tun haben, was der Leser als Realität bezeichnet.

Stattdessen bilden diese Fiktionen Erweiterungen einer Welt, die so einheitlich und einfach wie gedacht vielleicht nie war, was sich aber erst in ihrer Überlagerung mit anderen Versionen zeigt. Diese Parallele zeigt sich in "Against the Day" beispielhaft in der Beschreibung gewisser verstecker Bewohner Islands, in der sich Bilder aus Mathematik und Optik vereinen: "Iceland spar is what hides the Hidden People, makes it possible for them to move through the world that thinks of itself as ,real', provides that all-important ninety-degree twist to their light, so they can exist alongside our own world but not be seen."

Der optische Effekt der Doppelbrechung von Islandspat wird gerne an Schrift demonstriert, und das Umschlagdesign der Erstausgabe von "Against the Day" (wie auch der deutschen Ausgabe) scheint genau davon inspiriert. Diese multiple Teilung der schriftlichen Welt findet im Roman als Teilung der Welt überhaupt statt, oder vielmehr als Einsicht in die Tatsache, dass es immer schon mehrere Welten gibt, und die Geschichte von einer einzigen Weltversion eben nur eine Geschichte unter vielen ist. Nicht umsonst wird Islandspat zugesprochen, die "sub-structure of reality" zu sein und zudem die Fähigkeit zu haben, "the architecture of dream, all that escapes the network of ordinary latitude and longitude" zu enthüllen.

Wichtig ist an obiger Passage allerdings vor allem, dass der Islandspat das Licht um genau 90 Grad dreht, denn eine Drehung der geometrischen waagrechten Achse reeller Zahlen um 90 Grad entspricht deren Multiplikation mit i, durch welche die komplexe Ebene entsteht, in der sich komplexe Zahlen veranschaulichen lassen. Im Roman wird explizit darauf hingewiesen, dass Islandspat etwa zu der Zeit auftauchte, in der die imaginären Zahlen entdeckt wurden, bei denen es sich ebenso um ein "doubling of mathematical creation" handele. Beide Innovationen fordern vom Leser eine Imagination der Weltgrenzen ein, während sie Metaphern für diese kreative Vervielfältigung anbieten; der Text selbst wird sozusagen zur komplexen Ebene.

"Against the Day" beansprucht die imaginären Zahlen in dieser Hinsicht noch weitaus mehr, vor allem in Hinblick auf Hamiltons Quaternionen, die den alternativen Welten einen Raum bieten, in dem sie imaginiert werden können. Das Hinzufügen dreier weiterer Zahlen - i, j und k, für die gilt: i2 · j2 · k2 = i · j · k = -1 - zu den reellen Zahlen ermöglicht es, ein Koordinatensystem zu denken, das in "Against the Day" dem klassischen cartesianischen System mit den bekannten Achsen x, y, z gegenübergestellt wird. Somit imaginiert der Roman nicht nur Orte, sondern einen alternativen Raum, in dem diese Orte existieren können. Auch wenn die Theoretiker der Quaternionen in "Against the Day" ihre Niederlage im Kampf der (Koordinaten-)Systeme eingestehen müssen, kann ihr Alternativraum dennoch als treffende Metapher des fiktionalen Textes gelten und ein weiteres Mal die Bedeutung der Imagination gegenüber der so genannten Realität unterstreichen. Die Verfechter der i-j-k-Koordinaten sehen sich denen der x-y-z-Koordinaten unterlegen, weil letzteres System es nicht zulassen konnte, seine Deutungshoheit und sehr materielle Macht über den Raum an eine Idee abzutreten, die dem Raum eine Dimension zumisst und der Zeit drei Dimensionen.

"Against the Day" stellt hier selbst dem grundlegenden System menschlicher Raumkonzeption eine Alternative zur Seite und interpretiert deren Unterdrückung als politischen Akt der Dominanz. Der Roman spielt mit dem Gedanken, sich derartig durch eine fundamentale Alternative zur eigenen Weltsicht hindurchzudenken, indem er zunächst die Vorstellung beschreibt, man würde als Vektor folgende Transformation durchlaufen: "begin in the real world, change your length, enter an 'imaginary' reference system, rotate up to three different ways, and return to reality a new person. Or vector". Dann führt ein Mathematiker genau jene Verwandlung vor, verschwindet aus dem Restaurant und erscheint als "not quite the same person" in der Küche, den Fuß in der Mayonnaise. Hier nimmt der Roman sich wie an so vielen Stellen beim Wort und erlaubt es sich genüsslich, eine abstrakte mathematische Theorie in verschiedene Richtungen zu führen, die von Philosophie bis Slapstick reichen - keineswegs immer säuberlich getrennt.

Die zentralen Figuren dieses imaginären Multiversums in "Against the Day" sind sicherlich die Chums of Chance, die sich mehr als andere Charaktere sowohl selbst zwischen den Welten bewegen als auch andere Welt-Reisende treffen (wobei dies auch Welten einschließt, die nur zeitlich verschoben sind, räumlich aber mit "dieser" Welt übereinstimmen). Es ist nicht einmal wirklich klar, welcher textlichen Welt sie nun angehören, denn immerhin sind sie einerseits Protagonisten einer Jugendromanserie, die von den Charakteren des Romans gelesen wird, nehmen aber andererseits an der Realität genau jener Charaktere teil - weshalb sie Lew Basnight beim ersten Treffen leicht verärgert fragen können, was er denn in seiner Kindheit gelesen habe, wenn er sie nicht kenne.

Auch sie scheinen im Text komplexe Charaktere zu sein, teils real, teils imaginär. Sie können sich selbst ihrer eigenen Identität nicht sicher sein, nachdem sie sich von sich selbst abspalten und für einige Zeit von Luftfahrern zu Harmonikastudenten werden. Als wären sie dazu da, den Leser ständig an die zwiespältigen Zustände der Welten auf der komplexen Ebene des Romans zu erinnern, scheinen die Chums of Chance in der fiktionalen Welt von "Against the Day" teils fiktional, teils nur allzu real, und sie nehmen die Realität jener Welt teils gar nicht, teils nur als düstere Vorahnung wahr. Wo sie vorher an der Straße zwischen Ypres und Menin nur Ereignislosigkeit sahen, während ein Zeitreisender ihnen erklärte, Flandern werde zum Massengrab der Geschichte werden, nehmen sie am Ende des Romans nur zu deutlich wahr, was unter ihnen vorgeht. Sie erfahren eine wahre Odyssee durch nicht-euklidische Räume, fliegen so hoch, dass sie wieder abwärts fliegen, und finden heraus, dass alle von ihnen besuchten Welten alternative Versionen dieser Erde sind.

Sie sind sowohl auf der "Counter-Earth" als auch auf der "richtigen" Erde, und dort stolpern sie geradewegs in den Ersten Weltkrieg - den sie nicht bemerkten, solange sie sich in ihren Flügen von der "indicative world below" losgesagt hatten. Pynchon versteht es, auf solche Weise im Spiel der Welten daran zu erinnern, dass die Realitäten dieser Welten durch ihre Vielfalt nicht unbedingt weniger brutal sind, und bei aller Zelebrierung des Imaginären rückt auch der reelle Teil des komplexen Textes immer wieder ins Licht. Es wird den Lesern nicht gelingen, diese Teile in "Against the Day" immer eindeutig und separat zu identifizieren oder durchgehend zu bewerten, und sie werden es auch nicht unbedingt wollen, sondern sich vielleicht gerne wie die Chums of Chance in einer schwierigen Koexistenz des Imaginären und Realen wiederfinden, die in dieser Welt mit ihrem Beharren auf x, y, z anstatt i, j, k keineswegs selbstverständlich ist. Es darf als Beleg der Komplexität von "Against the Day" gelten, dass es eine einfache Einsicht des Textes ist, dass dieser einfachen Welt eigentlich nur mit Komplexität begegnet werden kann.


Titelbild

Thomas Pynchon: Gegen den Tag. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2008.
1595 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783498053062

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