Den Staub ehren

Jan Koneffke erinnert an eine pommersche Familiengeschichte

Von Jürgen WichtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Wicht

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die durchaus faszinierenden Befunde moderner Gedächtnisforschung beiseite gelassen, verhält es sich mit der Erinnerung so: Wir bestimmen den Wert einer Rückschau anhand der Fülle der ihr zu Grunde liegenden Impressionen und anhand der Ausdruckskraft des Erzählers. Der Rückblick auf ein ereignisloses Leben kann, wenn er gut in Szene gesetzt wird, fesseln. Der untalentierte Chronist aber wird seinem Bericht keinen besonderen Glanz verleihen können, auch wenn er die außergewöhnlichsten Ereignisse schildert.

Zumindest um Letzteres muss sich der Leser keine Sorgen machen, wenn sich Jan Koneffke daran macht, in seinem jüngsten Roman, "Eine nie vergessene Geschichte" zu erzählen, denn schließlich hat der 1960 in Darmstadt geborene Koneffke seine Fabulierkunst bereits in zahlreichen Veröffentlichungen bewiesen. Ein erfahrener Autor, wenn man so will. Schwieriger verhält es sich mit der Substanz der Ereignisse. Erzählt wird eine Familiengeschichte, die sich so, in jener Zeit, häufig zugetragen hat.

Freudig endet das 19. Jahrhundert für einen Schulmeister, der seine große Liebe aus dem bunten, quirligen Stettin in das kleine, beschauliche, in Hinterpommern gelegene Dorf Freiwalde entführt. Der distanzierte Leopold Kannmacher und seine labile Braut Clara bekommen vier Söhne. Doch die Kindheit der Brüder währt nur, bis das Attentat in Sarajewo den Ersten Weltkrieg auslöst. Zu diesem Zeitpunkt hat die Familie bereits einen Sohn verloren und muss, wie viele andere auch, mit dem Verlust weiterer Kinder rechnen. Nur Ludwig und Felix erleben das Ende des Krieges, der eine beginnt eine Ausbildung und arbeitet für einen jüdischen Bankier, der andere träumt von einer Karriere als Pianist. Beide verlieben sich in die gleiche Frau. Die Begegnung mit dem exzentrischen Musiker Victor Marcu nutzt Felix, um der dörfischen Enge zu entfliehen und zumindest einen Teil seiner Träume zu verwirklichen, während im pommerschen Ostseestädtchen die Weimarer Republik und der aufkeimende Nationalsozialismus die Geschicke der Familie beeinflussen und ein weiterer verheerender Krieg sich abzeichnet.

Von Erfahrungen wie diesen wurde oft berichtet - und doch entwickeln sie eine besondere Faszination. In der Literatur geschieht dies zumeist, wenn ein Schriftsteller es vermag, das Schicksal seiner Figuren lebendig werden zu lassen und den Leser an dessen eigene Geschichte gemahnt. Und Koneffke macht seine Sache ausgesprochen gut. Er entwickelt die Erzählung im Stile historischer Romane und führt durch das Panorama eines halben Jahrhunderts. Die Kolonien in Deutsch-Südwestafrika, die beiden Weltkriege und das Intermezzo der Weimarer Republik bereiten die Bühne für die persönlichen Schicksale, die emotionale Anteilnahme hervorrufen. Elegant ermöglicht der strukturelle Rahmen, die anekdotischen Einzelerlebnisse als Ganzes mit dem Effekt wahrzunehmen, dass die Präsentation der Ereignisse durch menschliche Komponenten an Kraft gewinnt. Als der alte Dorfschullehrer in verderbten Nazi-Schergen ehemalige Schüler erkennt, versetzt er resigniert: "Ich habe als Lehrer versagt, Junge, vollkommen versagt."

Während die Bandbreite großer Emotionen - das Glück einer unbeschwerten Kindheit, die Trauer beim Verlust eines geliebten Menschen, Genugtuung und Demütigung bei persönlichem Erfolg oder Niederlage und das Erlebnis erfüllter aber auch unerfüllter Liebe - die Kannmachers erfasst, ist es beileibe nicht allen Familienangehörigen vergönnt, sich über die bitteren Momente tiefer Verzweiflung hinwegzuhelfen, wie es dem musisch begabten Felix mit Musik auch dann gelingt, wenn seinem Klavier die Saiten fehlen. Das sind Gefühle in kinematografischer Bildhaftigkeit.

Koneffke setzt den komplexen Aufbau des Romans souverän um. Die auktorial erzählte Familiengeschichte wird von den Erinnerungen eines Ich-Erzählers umrahmt und gewinnt so zusätzlich, trotz ihrer Heterogenität, an innerem Zusammenhalt. Obwohl der an Lyrik geschulte Stil routiniert wirkt, bringt er dennoch die überraschendsten Bilder hervor, die von einer bemerkenswerten sprachlichen Fantasie des Autors zeugen. Im Gespräch fasst der von Felix verehrte Pianist Marcu das Leben seines Schützlings zusammen: "[...] zwei Mahlsteine haben Sie zerrieben, der eine hieß,reine Vernunft' und der andere,Irrsinn', vor diesem Schicksal verneige ich mich, mein Herr!"

Versteht man die beiden Mahlsteine als Instrumente einer Wirklichkeitswahrnehmung, so ist man schon recht nah an der poetologischen Prämisse Koneffkes, der in dem Essay "Schreiben, Erinnern, Erfinden" betont, dass sich vergangene Wirklichkeit zum Erinnerten transformiere und somit zwangsläufig zu etwas anderem geworden sei. Der formale Schreibprozess wird zum allgemeinen Gesetz, während Erinnerung und Erfindung durch Einbildungskraft beeinflusst werden. In diesem Sinne ist, wenn Vergangenes nachgezeichnet werden soll, zwangsläufig der talentierte Erzähler im Vorteil.

Die "nie vergessene Geschichte" ist die ergreifende und unterhaltsam poetische Bearbeitung eines, aus der Erinnerung vieler Menschen gewebten, Stoffes. Schon allein deshalb wird sie unvergessen bleiben. Und hoffentlich fragt der eine oder andere nach der Lektüre noch einmal seine Eltern oder Großeltern nach deren Geschichten - denn wie der philosophierende Schafhirte Pressel Felix wissen lässt, heißt aus der Vergangenheit lernen, den Staub zu ehren.


Titelbild

Jan Koneffke: Eine nie vergessene Geschichte. Roman.
DuMont Buchverlag, Köln 2008.
320 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783832179595

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