"Sichtachsen"

Quer durch Walter Kempowskis Haus und seine Montage "Echolot"

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ich bin ein Kind. Gott sei Dank." Dieser Ausspruch Walter Kempowskis über sich selbst, nachzulesen in dem zuletzt erschienenen Tagebuch von 1991 "Somnia", kommt einem beim Betrachten des Films "Sichtachsen" von Marikke Heinz-Hoek in den Sinn. Ein Kind, das eigensinnig darauf besteht, nichts dürfe vorbei sein, alles müsse gegenwärtig bleiben, so zeigt uns Kempowski die vielen Erinnerungsstücke, die er in seinem Haus Kreienhoop auf- und ausgestellt hat: Den Stein aus dem Gefängnis Bautzen, auf dem seine Füße beim Arbeiten stehen, die Porzellanfigürchen, die seine Eltern zur Hochzeit erhielten, den Becher, aus dem er in Bautzen trank, die Familienbibel der Kempowskis, die Metallplättchen mit den Namen der bedeutenden Menschen, die ihn besuchten, die Fotografien seiner Angehörigen und, natürlich, Rostock "oben und unten, hinten und vorne", wie er selber sagt.

Der Dokumentarfilm wurde, ebenso wie die beigefügte kürzere Videoarbeit in monochromem Blau, am 30. November 2005 mit der Handkamera aufgenommen, was ihm etwas Unangestrengtes und Improvisiertes gibt. Kempowski bewegt sich vorsichtig mit kleinen Schritten, vor sich hin pfeifend, und spricht mit leiser, heiserer Stimme, gibt knappe Erklärungen und hin und wieder lakonische Kommentare. Die Filmautorin ist ihm offenbar sympathisch, nichts ist ihm zuviel. Er zeigt ihr das ganze weitläufige Haus mit seinem reichhaltigen Inventar, auch das Archiv, mit den etwa 8.000 von ihm systematisch gesammelten unveröffentlichten Tagebüchern von Dritten, und sogar sein Arbeitszimmer im oberen Stock, eigentlich eine Arbeitszelle, mit dem Regal, in dem in Leitzordnern nach Jahrgängen geordnet und in Maschinenschrift übertragen seine eigenen Tagebücher stehen. Nachts, wenn er nicht schlafen kann, nimmt er sich einen Band ins Bett und arbeitet daran, lässt er wissen.

Das Thema Tagebuch dominiert jetzt auch den zu seinem Haustrakt gehörenden Turm, der zuvor ganz der Erinnerung an Rostock 'geweiht' war. An den Wänden hängen die Porträts berühmter Tagebuchautoren von Goethe bis Thomas Mann, darunter reiht sich eine ansehnliche Sammlung von Tagebüchern bis hin zu Andy Warhol ("im Ramsch gekauft, war nicht teuer"). Unter der Gottesstatue von der Hand eines zwölfjährigen geistig Behinderten hat Kempowski aus Dankbarkeit seine 14 Bände des "kollektiven Tagebuchs" "Echolot" sowie seine eigenen Tagebücher aufgestellt, soweit sie 2005 schon erschienen waren ("Sirius" und "Alkor"); zur Zeit der Filmaufnahme liest er die Schlusskorrektur zu "Hamit", das 2006 erschien. Dieser Teil seines Gesamtwerks scheint ihm nun der wichtigste und bedeutendste zu sein. Die selbst abverlangte Leistung sowie die damit letztlich erzwungene öffentliche Anerkennung dürften ihn in seiner Selbstsicherheit bestärkt haben.

Ohne Verlegenheit führt er dem filmischen Besucher seine Eigenheiten, Vorlieben und Marotten vor, Nebenprodukte einer immensen Lebensanstrengung, über die er bescheiden hinwegschweigt. Für den Kempowski-Leser ist die Kassette, die außer den beiden genannten DVDs noch ein Booklet mit Aufzeichnungen der bildenden Künstlerin Heinz-Hoek über ihre Begegnungen mit Kempowski enthält, eine willkommene visuelle Ergänzung zu den diversen Beschreibungen aus der Feder des Autors.

Ähnlich wohlwollend und affirmativ wie die Filmarbeit ist die Studie, die Carla A. Damiano dem "Echolot" widmet. Ihr Name und ihr Konterfei treten sogar im Film auf, als Kempowski ein Foto mit Leuten zeigt, die sich über ihn "geäußert" haben, und dasselbe Foto aus dem Jahr 2004 ziert auch die letzte Seite von Damianos Buch.

Mit guten Gründen vertritt die Verfasserin die These, dass das "Echolot" keine Collage, sondern eine Montage sei, keine der Oberfläche verhaftete "Klebearbeit", sondern ein mehrdimensionales Gebilde, das durch die Auswahl und Anordnung seiner Bestandteile eine neue, vom Autor intendierte und vom Leser zu entdeckende Bedeutung erlange. Damiano gelingt die glückliche Formulierung vom "Zweitzeugen" (secondary witness), zu dem die Montagetechnik den Leser mache und ihn so zur Textdeutung veranlasse.

Auf einem anderen Blatt steht Damianos Auffassung über Kempowskis volkspädagogische Absichten. Sie unterstellt, wie Daniel Goldhagen in "Hitler's Willing Executioners" (1996, deutsch "Hitlers willige Vollstrecker") sei Kempowski von der massenhaften Verstrickung der Deutschen in den Holocaust, ihrer "willigen Mittäterschaft" (complicity), überzeugt. Diese Einsicht wolle er als erfahrener Pädagoge mit seiner Montagetechnik auf indirekte Weise vermitteln, indem er die Zeugnisse selbst sprechen lasse. Damit leiste er für die zweite und dritte Nachkriegsgeneration der Deutschen die bisher ausgebliebene Belehrung über das Verhalten ihrer Eltern und Großeltern und trage zugleich zum Entstehen eines kollektiven nationalen Gewissens bei.

Damiano übersieht, wie es scheint, Kempowskis "vaterländische Gesinnung", die gewiss nichts engherzig Nationalistisches hat, die ihn aber doch treibt, Empathie für das deutsche Einzelschicksal mit seinen Wirrnissen und Irrtümern im Geschiebe der großen Geschichte zu empfinden beziehungsweise einzufordern, und dann natürlich sein künstlerisches Credo als Archivar, als Bewahrer, dem es weniger um Moral und Schuldbeweise geht als vielmehr um das Recht aller Dahingegangenen auf die Beachtung ihres gelebten Lebens in seiner bloßen Tatsächlichkeit, Trivialität, Komplexität und Blindheit.

Ungeachtet dessen macht Damianos Studie den Leser auf eine erschreckende Leerstelle des "Echolot" aufmerksam: Was ist mit den Einzelschicksalen in den Lagern? Wo sind ihre Stimmen zu hören? Die Antwort, dass sie zumeist schlicht 'ausgemerzt' beziehungsweise erstickt wurden, ist so naheliegend wie niederschmetternd. Für den deutschen Leser ist Damianos Arbeit auch deswegen aufschlussreich, weil sie am Beispiel einer jungen, wohlmeinenden amerikanischen Germanistin vorführt, dass das Vergangene, um mit Christa Wolf zu sprechen, nicht tot, nicht einmal vorbei ist. Walter Kempowski wäre der Letzte, dem zu widersprechen.


Titelbild

Carla A. Damiano: Walter Kempowski's "Das Echolot". Sifting and Exposing the Evidence via Montage.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2005.
237 Seiten, 44,00 EUR.
ISBN-10: 3825350320

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Marikke Heinz-Hoek: Sichtachsen. Notizen aus Kreienhoop. Walter Kempowski führt durch sein Haus.
Hachmann Edition, bremen 2008.
56 min, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783939429302

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