Befreiende Pornos?

Doris Kern und Sabine Nessel geben eine Festschrift zu Ehren der Filmwissenschaftlerin Heide Schlüpmann heraus

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit genau einem viertel Jahrhundert wirkt die Film- und Literaturwissenschaftlerin Heide Schlüpmann als eine der Herausgeberinnen an dem renommierten feministischen Periodikum "Frauen und Film" mit. Ein schönes Jubiläum, das feierlich zu begehen aller Grund besteht. Und siehe da, tatsächlich ist in diesem Jahr eine Festschrift zu Ehren Schlüpmanns erschienen. Doch nicht anlässlich dieses Jubiläums, sondern "zum Geburtstag" der Jubilarin. Wie alt Schlüpmann wurde, verschweigt das Buch galant, das neben einer beeindruckenden Tabula gratulatoria nicht weniger als 43 Beiträge "aus sämtlichen Bereichen, in denen Kino heute stattfindet und reflektiert wird" enthält, wie die Herausgeberinnen Doris Kern und Sabine Nessel im vom Inhaltsverzeichnis bescheiden unterschlagenen Vorwort betonen.

Der Band versammelt nicht nur Texte in Form von Essays, Thesen, Theoremen und Theorien sowie teilweise recht persönlichen Bemerkungen, sondern auch den einen oder anderen Bildbeitrag. Hinzu tritt ein historischer Text, der 1912 in der Berliner "Lichtbühne" erschien und gegen "Veranstaltungen und Aufzüge der Suffragettes" polemisiert. Die AutorInnen "schreiben aus der Perspektive der Filmwissenschaft, der Filmpraxis, der Kinopraxis oder einfach aus der Perspektive der Zuschauer". Drehli Robnik weist auf die "politische[n] Aspekte von Leben im Bruch der Ethik in Heide Schlüpmanns Kinotheorie" hin, Marc Ries räsoniert über "Schiller und de[n] ästhetischen Zustand im Kino", Ute Holl unternimmt "vierzehn Versuche, eine Oberfläche zu beschreiben". Renate Lippert ist der Ansicht, dass die "aus der Psychoanalyse abgeleiteten Modelle des Sehens" die Versuche, "das visuelle Genießen in seinen unterschiedlichen Formen zu verstehen", nicht etwa vorangebracht, sondern "eher behindert" haben. Andrea B. Braidt stellt "drei Thesen zu Pier Paolo Pasolinis 'Saló oder die 120 Tage von Sodom'" auf und ist sich nicht zu schade, zur Erklärung, was "Koprophilie" ist, auf Wikipedia zu rekurrieren. Jan P. Sefrin unterrichtet darüber, was man im Kino außer Filmen noch erleben kann, nämlich "Filmeseher und Kinogänger", und Katja Wiederspahn legt dar, "was Frauen an schwuler Pornographie so gefällt".

Annette Brauerhoch äußert sich zwar nicht zu schwuler Pornografie. Dafür aber umso ausführlicher zu heterosexuellen Soft- und Hardcore-Pornos. Dabei überrascht sie mit zweierlei. Zunächst einmal mit der Information, dass die Studentinnen den in einem ihrer Seminare gezeigten "Schulmädchenreport Teil 5" "als einen Film sahen, in dem die Frauen Macht und Selbstbewusstsein haben und immer das bekommen, was sie wollen." Eine Einschätzung, die der Autorin zufolge auf "eine[n] wieder rückfällig gewordenen, postfeministischen Stand gesellschaftspolitischen Bewusstseins und einer womöglich fehlenden (Ideologie)kritik" zurückzuführen sein dürfte. Allerdings finde diese Beurteilung in dem Film tatsächlich auch eine gewisse "Grundlage". Denn er lasse "Unschuld und Verdorbenheit" als "Utopie" erscheinen, wobei das "amateurhafte Spiel der Darstellerinnen" die "vitale Präsenz dieser jungen Frauen zu einer energetischen Körperlichkeit transzendiert, die mehr vermittelt als nur die Erfüllung einer schlechten Rolle."

Eigentlich aber gilt ihr Interesse nicht diesem Film, sondern "Deep Throat", dem bislang kommerziell erfolgreichsten Porno überhaupt. Auch ihn schaute sie gemeinsam mit ihren Studierenden an. Und hier wartet sie mit der zweiten Überraschung auf. Denn dass sie selbst den Hardcore-Porno im Gegensatz zum "infantil[en] und repressiv[en]" "Schulmädchenreport" für "befreiend" hält und es dementsprechend "tragisch" findet, dass es keine Pornokinos mehr gibt, ist sicher nicht weniger überraschend als das studentische Urteil über den "Schulmädchenreport", auch wenn ähnliche Positionen zu Porno-Filmen bereits früher von Autorinnen wie etwa von Lina Williams in ihrer Studie "Hard Core" (1989) vertreten werden.


Kein Bild

Doris Kern / Sabine Nessel (Hg.): Unerhörte Erfahrung. Texte zum Kino.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
520 Seiten, 49,00 EUR.
ISBN-13: 9783866000353

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch