Abschied von den Gespenstern

Ruth Klüger spricht in ihrer zweiten Autobiografie "unterwegs verloren" über ihre Erfahrungen in der Neuen Welt

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Richtig bekannt wurde die 1931 in Wien geborene amerikanische Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger in Deutschland mit ihrem Buch "weiter leben. Eine Jugend". Es wurde 1992 im Göttinger Wallstein Verlag veröffentlicht und fand große Aufmerksamkeit bei Kritikern und Lesern. Ruth Klüger schildert hierin, wie sie als Zwölfjährige mit ihrer Mutter drei Konzentrationslager überlebte und wie beide wenige Jahre nach der Kapitulation des Nazis-Regimes nach Amerika auswanderten.

Der jetzt vorliegende Fortsetzungsband "unterwegs verloren. Erinnerungen", der als Vorabdruck in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" erschien, umfasst Klügers amerikanische Jahre und reicht bis zur Gegenwart. Er beginnt mit der Überlegung, ob Gespenster wohl sterben können. Das können sie nicht, ist die Antwort der Autorin, aber mit dem Älterwerden weichen sie zurück. Zu diesen Gespenstern gehört für Ruth Klüger in erster Linie ihr älterer Bruder Schorschi, der mit siebzehn Jahren von den Nationalsozialisten erschossen wurde, als seine Schwester gerade elf Jahre alt war. Die KZ-Nummer, die ihr im Lager eintätowiert worden war, hatte sie jahrzehntelang als Andenken an die Toten, an den Bruder und an den von den Nazis ebenfalls ermordeten Vater, getragen. Nun erschien der Überlebenden der Zeitpunkt gekommen zu sein, in einer Laserklinik in Kalifornien das "Mahnmal" wegbrennen zu lassen, um die Spuren der Nazizeit nicht in den Sarg mitnehmen zu müssen. Vom Jenseits, fügt sie hinzu, halte sie ohnehin nicht viel.

Im ersten Abschnitt nimmt die Autorin Abschied nicht nur von den Gespenstern des toten Bruders und des toten Vaters, sondern auch von der Mutter, mit der sie seit der Zeit in Wien ein schwieriges Verhältnis verband und die nun in hohem Alter gestorben ist sowie vom 83-jährigen Cousin Heinz, der Jahre zuvor zum Christentum übergetreten war. Unter Juden werde so ein Schritt meist mit Verachtung quittiert, "da kaum ein Jude dem Konvertierten den Glauben an den Gottessohn abnimmt", schreibt Klüger. Heinz hatte in einem kleinen Städtchen in der Nähe von Chicago beim Teekochen seinen eigenen Pyjama und damit sich selbst in Brand gesetzt.

Im zweiten Teil konfrontiert Ruth Klüger den Leser mit ihren zunächst recht unerfreulichen Erfahrungen in der Neuen Welt, zu denen vor allem Kränkungen, Demütigungen und Zurücksetzungen gehörten, die vom Herrenclub der amerikanischen Professorenschaft ausgingen, unter der sich auch jüdische Professoren befanden. Dabei lernte sie amerikanischen Antisemitismus in vielen Spielarten kennen, wobei sie oft schwer unterscheiden konnte, ob sie eher als Jüdin oder als Frau gedemütigt wurde.

Da das Germanistikstudium immer auch eine kleine Gruppe von Nazibewunderern anzog, musste sie erfahren, dass Juden aus Europa auch in Amerika vielfach unerwünscht und ehemalige Hitlerjungen aus Deutschland begehrter waren als ,eine wie sie', die das KZ überlebt hat und die allen frei gebliebenen Menschen offensichtlich ein Dorn im Auge war. "Gelitten zu haben, ist ein Schande, außer wenn man daran und dafür gestorben ist", merkt die Autorin lakonisch an. Sogar die Auschwitz-Nummer auf dem Arm wurde ihr verübelt, als peinliche Zurschaustellung. Schließlich ließ man sie wissen, sie sei ein "störendes Element" im Universitätsbetrieb.

Aber nicht nur der Anfang ihrer Karriere war mit vielen Schwierigkeiten behaftet, auch ihre Ehe, die sie Anfang der 1950er-Jahre mit dem fast zwölf Jahre älteren Doktoranden Tom Angress einging. "Es wurde eine Ehe", stellt Ruth Klüger im Rückblick fest, "in der sich die Freundschaft nie einstellte." Im Grunde habe sie Hals über Kopf einen Mann geheiratet, den sie kaum kannte. Am Ende der Ehe -sie währte neun Jahre - kam es ihr vor, als falle sie aus dem Gefrierfach des Küchenkühlschranks heraus, um endlich aufzutauen. Nach der Scheidung, schreibt sie weiter, habe sie nichts anderes im Kopf gehabt, als ihre beiden Söhne und die Literaturwissenschaft, während ihr der solide Ehestand wie ein Sklaverei erschienen sei, die sie glücklicherweise überwunden habe. Zunächst war sie fast täglich als Bibliothekarin mit einem "bookmobil" unterwegs, bevor sie das unterbrochene Studium wieder aufnehmen konnte. Ausführlich schildert die Autorin ihre Begegnung mit dem österreichischen Kafka-Forscher und Lyriker Heinz Politzer, der ihr 1962 in Berkeley vorschlug, das Studium wieder aufzunehmen und Germanistik zu studieren. Nun lernte sie Deutsch als alte Sprache, studierte Mittelhochdeutsch, promovierte über ein barockes Thema und arbeitete schließlich sich mit Lessing und Schiller ins 18. Jahrhundert und mit Kleist ins 19. Jahrhundert vor.

Heute gilt sie als weltberühmte, viel zitierte und geehrte Germanistin, insbesondere in Deutschland und Österreich, und wurde seit den 1990er-Jahren mit Preisen und Auszeichnungen bedacht.

Außerdem berichtet Klüger über ihre vergeblichen Versuche, in einer Religion Halt zu finden. Jeder Glaube, den sie geprüft habe, sei mit der Zeit verschwunden, er habe sich sozusagen getrollt wie ein lange geduldeter Gast, der sich für sehr weise hält, von dem man aber schließlich genug habe.

Offensichtlich hat Ruth Klüger inzwischen ihr Gleichgewicht gefunden. Denn im letzten Abschnitt erzählt sie auch von dem beglückenden Gefühl, das sie überfällt, wenn dem ein oder anderen ihrer Studenten ein Licht aufgegangen sei, oder wenn ihr selbst beim Lesen und Vorbereiten das Gleiche widerfährt: das plötzliche Verstehen eines schwierigen Verses oder einer Szene. "Ja", versichert die Literaturwissenschaftlerin, "ich war sehr gerne Germanistin und bin's noch immer."

Unvermutet öfnnete sich auch für sie die Tür nach Deutschland wieder, nämlich durch die Einladung aus Göttingen, einen Plenarvortrag bei der Internationalen Vereinigung für Germanistik zu halten. Ihr damaliger Vortrag handelte von jüdischen Gestalten in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts. In Göttingen machte sie die Bekanntschaft von Wilfried Barner, Albrecht Schöne und Käte Hamburger, für die sie liebevolle Worte findet, und hält im Übrigen die Stadt selbst, die ihr zweites Zuhause geworden ist, obwohl es auch hier hin und wieder unerfreuliche Zwischenfälle gegeben hat, "für eine gebildete, lesefreudige Provinz".

Aber die Autorin muss dann doch noch über zwei enttäuschende Ereignisse berichten: über ihren Besuch beim Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld, der ihren ersten Erinnerungsband schroff ablehnte, und über die zerbrochene Freundschaft mit Martin Walser, wegen seines Roman-Pamphlets "Tod eines Kritikers".

Und wie sieht sich die Wiener Jüdin heute, die um ein Haar als Kind in Birkenau vergast worden wäre? Freimütig bekennt sie, sie hätte sich wohl ein anderes Geburtsland gewünscht als Österreich, aber keine andere ethnische Zugehörigkeit als die jüdische. "In dieser Haut lässt es sich gut leben, wenn man nicht gerade gehäutet wird."

So beklemmend der Bericht anfangs auch wirkt mit seiner unpathetischen, eher unterkühlten Ausdrucksweise, so beinahe versöhnlich klingt es am Ende, auch wenn das Leben im Alter zweifellos anstrengender geworden ist, mit Schrittmacher und künstlicher Herzklappe. Aber als vierfache Großmutter erlebt die Erzählerin auch schöne Stunden.

Manchmal leuchtet sogar Humor auf, wenn Ruth Klüger beispielsweise von ihrer Katze erzählt, die als sie lange Zeit in ihrer Einsamkeit tröstete und die sie anspielungsreich "Golda Miau" nannte.

Kurzum, Ruth Klügers zweiter Erinnerungsband ist ein Buch, das man mit wachsender Anteilnahme liest und das neugierig macht auf Klügers literaturwissenschaftliche Vorträge und Aufsätze, wie etwa über den Kitschbegriff, über Lessing und Kleist als Repräsentanten von Aufklärung und Gegenaufklärung, über Holocaust-Literatur, Hölderlin, Hofmannsthal und vor allem auf die Gedichte, die eigenen und die fremden, die der Autorin in den schlimmen Jahren der Nazizeit und auch später noch oft Trost und Halt gewährten.


Titelbild

Ruth Klüger: Unterwegs verloren. Erinnerungen.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2008.
235 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783552054417

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