Auf der Suche nach dem Vater

Norbert Gstreins "Der Winter im Süden" beschreibt familiäre Katastrophen vor dem Hintergrund der Jugoslawienkriege

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Marija ist verheiratet und geht kurz vor Ausbruch des Balkankonfliktes 1991 auf unbestimmte Zeit nach Jugoslawien, nach Zagreb. Ludwig ist von dem gewaltsamen Tod seiner Kollegin, mit der er ein Verhältnis hatte, paralysiert und nimmt einen Job als Leibwächter in Südamerika an. Zwei Handlungsstränge führen den Leser zu dem vermeintlichen Plot von Norbert Gstreins Roman "Der Winter im Süden". Der "poetische" Ort, an dem die Handlungen einander berühren, ist bereits aus Gstreins letztem Roman bekannt. Darüberhinaus wurde die Romanhandlung mit derselben Motivik verknüpft wie die seines 2003 erschienenen Romans "Handwerk des Tötens". Auch hier liefert der "Jugoslawien"-Konflikt den Bezugspunkt für die Protagonisten: für Marija, die Kroatin aus Deutschland, die ihren Mann verlässt, und für Ludwig, den Ex-Polizisten, der zu seinem neuen Arbeitgeber, einem ehemaligen Jugoslawienkämpfer im Zweiten Weltkrieg, nach Südamerika geflüchtet ist.

Die zehn Kapitel des Buches lassen den Leser abwechselnd Marija und Ludwig begleiten, so ahnt man bereits eine Zusammenführung und Verbindung der Protagonisten. Marija, von dem Trauma verfolgt, dass ihr Vater sie als Fünfjährige verlassen hat, stößt in Zagreb auf eine Suchanzeige ihres Vaters - der mit seinem Leibwächter Ludwig aus Südamerika in Zagreb eingetroffen ist. Aber das Wiedersehen von Vater und Tochter wird nicht stattfinden. Denn letztendlich ist es auch ein Roman über das Nichtzustandekommen einer Familienzusammenführung, über eine familiäre Katastrophe und ihre Auswirkungen auf die Gegenwart - vor dem Hintergrund des Jugoslawien-Konflikts. Wenn man wollte, könnte man eine Parallele zu dem Vorgängerroman "Handwerk des Tötens" ziehen, der als "Nichtzustandekommen eines Romans über einen Kriegsreporter" beschrieben wurde. Sind diese Parallelen wichtig? Geht es um die Fabel? Um die Geschichte eines Kriegsveteranen und seiner Gespenster? Um eine Kroatin die ihren Vater sucht? Um einen frustrierten Ex-Polizisten auf Sinnsuche?

Es sind die Worte und die präzisen Sätze, die langen Gedankenspiele und die treffend gesetzten Pausen, die Gstreins Prosa ausmachen. Er zählt zu dem knappen halben Dutzend deutschsprachiger Erzähler, die man ohne Bedenken zum Kanon der Weltliteratur zählen kann. Ähnlich wie Christoph Ransmayer hat Norbert Gstrein eine Qualität des Erzählens erreicht, bei der man zwar darüber diskutieren kann, ob das Subjekt seines Romans geschickt oder glücklos ausgewählt wurde, aber wenn sich der Autor an diesem Subjekt versucht, geschieht dies in einer Virtuosität und auf einem erzählerischen Niveau, wie es gegenwärtig nur selten anzutreffen ist.

Und selbst wenn man meint, es sei ein Buch, das nur langweilt, dessen Thematik überholt, uninteressant und wirklichkeitsfremd ist, oder dass das der Autor sich nur in Wiederholungen verstricke, dann zieht Gstrein den Leser mit seinem letzten Satz doch subtil und gleichzeitig ironisch gebrochen auf die "Wirklichkeitsebene der Fiktion". Marija hat einen Brief von Ludwig erhalten, in dem er ihr schreibt, wie ihr Vater umgekommen sei: "Sie stand da, hielt die beiden Blätter mit der ein wenig kindlichen Schrift in der Hand und fühlte sich befreit, bis ihr klar wurde, es war nicht nur eine von den Geschichten, in die sich für ihren Mann alles verwandelte, und es würde einer größeren Anstrengung bedürfen, wenn sie endlich ganz davon loskommen wollte, größer jedenfalls als die kleine Mühe, ein Buch zuzuklappen, das zu Ende war, und nicht mehr daran zu denken."


Titelbild

Norbert Gstrein: Die Winter im Süden. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2008.
283 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783446230484

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