Der vegetarische Parsifal

Jost Hermands eigenwillige Betrachtungen zur deutschen Oper

Von Clarissa HöschelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Clarissa Höschel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Glanz und Elend der deutschen Oper" - dieser etwas reißerisch anmutende Titel von Jost Hermands Buch macht neugierig und misstrauisch zugleich, weckt er doch eine Reihe von Erwartungen, von denen die pragmatischste die ist, im Inneren des Buches eine Art Hitliste der Höhe- und Tiefpunkte der deutschen Oper vorzufinden. Vorgestellt werden aber gerade einmal 15 Opern, die den beachtlichen Zeitraum von 300 Jahren abdecken, ohne dass deshalb das Normale und Typische, an dem sich Abweichungen nach oben oder unten belegen ließen, zugrunde gelegt wäre.

Dass dem nicht so ist, liegt zu einem wesentlichen Teil daran, dass die einzelnen Darstellungen eher wie Beiträge einer durch den Titel nur locker zusammengehaltenen Aufsatzsammlung anmuten als wie Teilbetrachtungen, die einem übergeordneten Ganzen unterstellt sind. Hinzu kommt, dass die einzelnen Kapitel sehr unterschiedlich sind in Bezug auf explizite und implizite Fragestellungen, Ansatz, Argumentationslinie, Umgang mit Sekundärliteratur und Schlussfolgerungen. Und diese Schlussfolgerungen sind eigenwillig, zuweilen anregend, manchmal gar innovativ, oft aber auch merkwürdig - eine Gratwanderung zwischen unkonventioneller Originalität einerseits und verschroben-verzerrter Perspektive andererseits. Entsprechend ist die Lektüre ein ständiges Auf und Ab von schmunzelnder Komplizenschaft und indignierter Distanziertheit.

Was dabei immer wieder in den Vordergrund rückt, ist die Frage nach dem Verhältnis zu zeitgenössischen Machthabern und Modeerscheinungen, die idealerweise, denn genau das sucht und schätzt Hermand, mit aufmüpfig-sozialkritischem Denken und einem non-konformistischen Kunstverständnis beantwortet wird. Oper war und ist nicht aufmüpfig und volksnah genug, so der implizite Vorwurf, der immer wieder hervorblitzt. Genau betrachtet verdienen nur drei der vorgestellten Opern überhaupt das Etikett, ein wirkliches Glanzstück zu sein, nämlich "Günther von Schwarzburg" (1777), die nach "Chi la dura la vinci" (1691) und "Croesus" (1711/30) "erste deutsche Nationaloper", "Die Zauberflöte" (1791) als "eins der wenigen progressionsbetonten Werke" und "Fidelio" (1805/06/14) wegen dessen Botschaft "um die Befreiung der Menschheit schlechthin".

Überhaupt ist der politisch-ideologische Aspekt am ehesten das, was man als roten Faden dieser gesammelten Darstellungen bezeichnen kann. Dem Autor geht es dabei sowohl um die Stoffwahl als auch um die transportierte ideologische Botschaft. Diese wird etwa beim "Freischütz"(1821) ausführlich im historischen Zusammenhang der Restauration erläutert, während an Bertolt Brechts "Mahagonny" (1930) vor allem der gesellschaftliche Wandel und die Opposition Utopie vs. Dystopie untersucht werden. Gleich bei mehreren Opern ("Wozzeck" (1925), "Moses und Aaron" (1930/32) und "Die Eroberung Mexikos" (1992)) wird die Frage nach den ideologischen Aspekten grundsätzlich als in der Rezeptionsgeschichte vernachlässigt empfunden und deshalb per se ausführlich dargestellt.

Resümiert man diesen Aspekt der Betrachtungen, so zeigt sich, dass gerade die politisch aufbegehrende Haltung die Oper, selbst wenn diese das Potential zum Glanzstück hat, letztlich scheitern lässt - so wie Albert Lortzings heute weitgehend unbekannte "Regina" (1848), die erstmals die Arbeiterthematik auf die Opernbühne bringt, oder Karl Amadeus Hartmanns "Simplicissimus" (1948), der trotz seiner inhärenten Noblesse schlussendlich wegen seiner ästhetischen Kargheit kaum zur Aufführung gelangt.

Zwar bleibt bei Hermand die Musik weitgehend unberücksichtigt, dafür gibt es ab und an den einen oder anderen Seitenblick auf die Literatur - etwa, wenn im Kontext der Darstellung von "Palestrina" (1917) Thomas Manns Verhältnis zu Hans Pfitzner skizziert wird oder wenn, wie im Falle des "Wozzeck", die literarische Vorlage, Georg Büchners "Woyzeck", weitaus höher bewertet wird als das, was auf der Opernbühne davon übriggeblieben ist. Deshalb geht Alban Bergs Werk auch als "Oper über das Elend der Oper" in Hermands Operngeschichte ein.

Immer wieder fehlen aber wesentliche, oft kontextuelle Aspekte, so beispielsweise bei der Besprechung des "Günther von Schwarzburg" nicht nur der Kontext des (der Suche nach der deutschen Oper übergeordneten) Diskurses um das deutsche Nationaltheater, sondern auch einige Aspekte der Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte am Mannheimer Hof Karl Theodors. Hervorzuheben gewesen wären hier zum Beispiel die finanzielle Situation Karl Theodors, die wesentlich zu seiner Entscheidung für eine (deutlich billigere!) deutsche Oper beigetragen hat, oder die Tatsache, dass Karl Theodor auch nach der Verlegung seines Hofes nach München die deutsche Oper weitergepflegt hat - allerdings nicht den im zeitgenössischen Vergleich nicht eben erfolgreichen "Günther", sondern die (bei Hermand nicht besprochene) "Alceste" von Christoph Martin Wieland und Anton Schweitzer (1773).

Bei manchen Darstellungen verblüfft dagegen die Stringenz, mit der der Interpretationsstrang verfolgt wird. Hier möge als Beispiel Richard Wagners "Parsifal" (1882) dienen, der in Hermands Darstellung reduziert wird auf ein Prophetenstück des Vegetarismus; eine Lesart, die seit 1945 zu Hermands Leidwesen nur noch marginale Beachtung gefunden hat. Belegt wird dies an der Schwanen-Szene und hergeleitet und kommentiert vor dem Hintergrund der komplexen Verbindungen zwischen dem sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelnden Vegetariertum und den allgemeinen völkischen Bewegungen, in die sich die vegetarische Bewegung teilweise integriert. In diesem Kontext liest man bei Hermand wörtlich: "Wagner, [...], war [...] so angetan, daß er [...] sich 1871 in Bayreuth aktiv an der Gründung des ersten vegetarischen Speisehauses mitbeteiligte." Diese Behauptung macht stutzig, betrifft sie doch die Tribschener Zeit (1869-1872), in der Wagner nicht nur indigniert, sondern ordentlich erbost ist über einen jungen Gast namens Friedrich Nietzsche, der sich ebenfalls dem Vegetarismus verschrieben hat und nun den Verzehr von Fleisch strikt verweigert. Wagner wirkt daraufhin so lange und unmissverständlich auf Nietzsche ein, dass dieser sich schließlich bekehrt gibt; noch Jahre später erinnert ihn Wagner an seinen Rat, unbedingt Fleisch zu essen. Nicht zuletzt deshalb spricht Weniges dafür, dass Wagners Auseinandersetzung mit der Schöpfung, auch im Hinblick auf seine Rezeption Arthur Schopenhauers, mehr ist als eine nur theoretische und auch nur künstlerische Annäherung. Eine solche hat Wagner in seiner 1880 erschienenen Schrift "Religion und Kunst" als künstlerisch-weltanschauliches Postulat expliziert und im "Parsifal" thematisiert. Ob daraus aber tatsächlich ein wörtlich gemeinter und bis auf den eigenen Teller reichender Vegetarismus abgeleitet werden kann, darf an dieser Stelle sehr bezweifelt werden. Als wenig überzeugend erweist sich hier übrigens auch Hermands Quellenarbeit. Konsultiert man nämlich die 'Quelle', die seiner Behauptung zugrunde liegt, so liest man dort: "Das erste derartige [vegetarische] Lokal soll [sic!] 1871 in Bayreuth unter Mitwirkung Richard Wagners gegründet worden sein, der sich in einer [sic!] Schrift für den Vegetarismus einsetzte." Da erübrigt sich wohl jeder weitere Kommentar.

Ein großes Manko des Buches ist auch die fehlende Literaturliste. Allen praktischen Erfahrungen und Gepflogenheiten zum Trotz wird die umfangreiche Literatur in kapitelweise im Anhang untergebrachten Anmerkungen verstaut und entzieht sich damit auch einer eingehenderen und Überblick gebenden Betrachtung durch den Leser. Dabei macht sich Hermand oft nicht einmal die Mühe, aus der Originalquelle zu zitieren, sondern begnügt sich mit der Angabe der Sekundärliteratur, die das entsprechende Zitat vor ihm bereits verwendet hat. Das passt zur Arbeitsweise des ebenso belesenen wie eigenwilligen Autors. Gerade die Anmerkungen nähren nämlich immer wieder die Vision eines immensen Kontingentes an aufgeschlagenen Büchern und eingemerkten Seiten, aus dem Hermand kontinuierlich schöpft, um seinen Schlussfolgerungen den Boden zu bereiten.

Eigenwillig sind an Hermands Werk auch Sprache und Stil. Die Tatsache, dass er der alten Rechtschreibung treu geblieben ist, passt zu seiner offensichtlichen Vorliebe für deutsche (statt welsche) Pluralbildung. So lesen wir zum Beispiel 'Divas' oder 'Librettos' und lernen das 'Singeschaustück' "Günther von Schwarzburg" kennen. Dann wundern wir uns, wenn wiederholt von einer 'Machtübergabe an Hitler' die Rede ist, die 'ehrpusselige Oberschicht' erwähnt wird oder eine Oper eine 'progressionsbetonte Haltung' aufweist.

Doch der rote Faden, und den sollte auch der Rezensent im Auge behalten, geht immer wieder verloren, um dann in veränderter Gestalt doch wieder aufzutauchen: Stand am Anfang des Buches noch die Suche nach der 'deutschen Oper' im Zentrum des Interesses, verschiebt sich dieses zunehmend hin zum Ideologischen im Sinne einer zeit- und gesellschaftskritischen Haltung. Dazwischen liegen punktuelle Fokussierungen wie der Vegetarismus des "Parsifal" oder die 'pathologische Krassheit' von Richard Strauss' "Salomé" (1905); dabei vergisst man bei der spannend-lustvollen Darstellung fast, dass diese Beschreibung die Oper eigentlich diskreditieren soll. Schlussendlich mündet dieser rote Faden in Hermands These von der gegenwärtigen Enthistorisierung und Über-Erotisierung der Oper - eine Erkenntnis, die trotz aller Merkwürdigkeiten doch nicht ganz von der Hand zu weisen ist.

Dennoch: Als Einführungs- und Überblickswerk für Einsteiger und Studenten im Grundstudium ist Hermands eigenwillige Operngeschichte wahrlich nicht zu gebrauchen. Mit gewissen Einschränkungen und der notwendigen kritischen Distanz lässt sie sich aber durchaus als gedanklicher Tummelplatz verstehen für den, den fremde Belesenheit beeindruckt und der in ungewöhnlichen und merkwürdigen Blickwinkeln mehr eine kurzweilige Herausforderung denn einen Widerspruch gegenüber den eigenen Sichtweisen sieht.


Titelbild

Jost Hermand: Glanz und Elend der deutschen Oper.
Böhlau Verlag, Köln 2008.
312 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783412200985

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