Das Mosaik der Erinnerung

Sonja Kleins gelungene Reise in die fragmentarische Welt der Lyrik Durs Grünbeins

Von Daniele VecchiatoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniele Vecchiato

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Literatur ist das Fragment der Fragmente; das wenigste dessen, was geschah und gesprochen worden, ward geschrieben, vom Geschriebenen ist das wenigste übriggeblieben". So lautet eine berühmte Maxime Johann Wolfgang von Goethes, die das Problem der Bruchstückhaftigkeit und Unabschließbarkeit jedes (literarischen) Werks treffend beschreibt. Das Kunstwerk als geplante "opera aperta" (Umberto Eco) präsentiert sich als ein bewusst fragmentarisches geistiges Erzeugnis, das erst durch das Involvieren des Rezipienten und dessen gestalterische und ordnende Fähigkeiten vollendet werden kann. Dieser - mit Michael Braun gesagt - "konzeptionelle" oder "rezeptionsbedingte" Charakter des literarischen Fragments, das immer zu ergänzen und weiterzuführen ist und diese spezifische Offenheit des Textes, die jedoch mit einer gefährlichen interpretatorischen Beliebigkeit nicht verwechselt werden darf, beschäftigt seit jeher die Literaturwissenschaft.

Ausgangspunkt und roter Faden der vorliegenden Studie von Sonja Klein ist die Entdeckung einer engen Verbindung zwischen Fragment und Erinnerung im Werk des 1962 in Dresden geborenen und seit 1985 in Berlin lebenden Dichters Durs Grünbein, der in der Literaturkritik als "Götterliebling" (Gustav Seibt) zelebriert wird und als "erste genuine Stimme der neuen Republik" (Frank Schirrmacher) gilt. Die Erinnerung - laut Klein das, "was letzlich alles Schreiben Durs Grünbeins durchzieht, bewegt und formt" - ist nämlich nur denkbar und möglich, wenn ein Gefühl von Unvollständigkeit und schmerzvollem Mangel empfunden wird: Die Abwesenheit, die Vergangenheit, die Zerstörung, der Verlust stellen notwendige Voraussetzungen für die Marcel Proust'sche Arbeit des Gedächtnisses auf der Suche nach der "verlorne[n] Zeit" dar.

In acht erhellenden und aufschlussreichen Kapiteln skizziert die Autorin auf insgesamt überzeugende Weise die Bedeutung des Themenkomplexes "Fragment/Erinnerung" innerhalb von Durs Grünbeins lyrischen und essayistischen Arbeiten. Dabei stützt sie sich massiv auf Michael Brauns Buch über das literarische Fragment "Hörreste, Sehreste" sowie auf Aleida Assmanns Studie "Erinnerungsräume", deren bildhafte Metaphorik sie oft und gerne auch produktiv wiederaufzunehmen weiß. Außerdem werden ab und zu persönliche Gespräche mit dem Schriftsteller selbst zitiert, die im Allgemeinen die exegetische Qualität der Arbeit bestätigen und die Gültigkeit der Vermutungen und Formulierungen unterstützen.

Verdienstvoll zieht Klein vor allem Gedichte und Sammlungen der späteren grünbein'schen Produktion in Betracht, die in der Forschungsliteratur über den Dichter noch nicht systematisch und tiefgründig analysiert worden sind. Kleins Monografie - die fünfte größere Arbeit über Grünbein nach den Studien von Alexa Hennemann, Ron Winkler, Alexander Müller und Florian Berg - setzt sich explizit nicht mit jenen frühen Texten auseinander, in denen die Kritik mit Recht eine "Poetik des Fragments" (Michael Braun) erkennen konnte, sondern wählt vorwiegend Schriften des neuen Jahrtausends aus, die durch eine klassizistisch wirkende Hinwendung zu antiken Metren und Themen sowie durch zyklische und motivische Bindungen gekennzeichnet sind. Eine regelrechte Werkzäsur diagnostiziert nämlich die Wissenschaftlerin ab der Veröffentlichung des Bandes "Nach den Satiren" (1999), dessen Gedichte in schreiendem Kontrast zu den zerlegten und experimentierfreudigen Versen von "Grauzone morgens" (1988), "Schädelbasislektion" (1991), "Falten und Fallen" (1994) und "Den teuren Toten. 33 Epitaphe" (1994) zu stehen scheinen. "Dieser ebenso entschiedene wie entscheidende Wandel in der Grünbein'schen Ästhetik", bemerkt Klein, "blieb [...] bis dato von der Forschung weitgehend unberücksichtigt". Ihre Arbeit beschränkt sich aber nicht nur darauf, diese erhebliche Lücke zu schließen - oder wenigstens partiell zu füllen - und neue Anreize für die Forscher anzubieten, sondern versteht sich sogar als möglichen Ort für einen "Ausblick auf die zukünftig zu erwartenden künstlerischen Entwicklungen und Veröffentlichungen Grünbeins".

Nach einem einführenden Überblick über den (Gattungs-)Begriff des (literarischen) Fragments, erstellt Klein mit sicheren Zügen eine Übersicht der wichtigsten Motive der Grünbein'schen Poetik und bietet damit eine nützliche Einleitung in das Gesamtwerk des Dichters an, die jedoch konsequent um die zentrale These der Verwobenheit von Erinnerung und Fragment kreist. Aspekte wie die Körperlichkeit und die Konzentration "nach innen" der somatischen und neurologischen Lyrik Grünbeins, die Archäologie als Suche und Ausgrabung von Überresten (aber auch - warum nicht? - als Stöbern in Müllhalden), sowie die Bedeutung der Bilder als imagines agentes in der Mnemotechnik und als literarische Malereien in den Ekphraseis werden zugleich knapp und wirkungsvoll thematisiert.

Es folgt eine sehr artikulierte Analyse des poetologischen Gedichts "Aktiv", das am 21. Mai 2004 in der "FAZ" erschien und mit wenigen Änderungen auch in den Gedichtbänden "Der Misanthrop auf Capri" (2005) und "Strophen für Übermorgen" (2007) zu lesen ist. Das Kapitel über "Aktiv", vielleicht das gelungenste dieser Studie, eignet sich als Ausgangspunkt und Kondensat für die Thesen, die im Laufe der Untersuchung entfaltet werden: Das Wort "Krater" - ein "Bruchstück", ein "Splitter" - löst im Gehirn des lyrischen Ichs eine Kette von sprachlich-etymologischen Assoziationen, intertextuellen Bezügen sowie historischen Erinnerungen aus. Dank dieses Stückchens petite Madeleine verflechten sich Fragment und Erinnerung im Gedicht beispielhaft und verweisen schweigsam zugleich auf das "Unaussprechliche", auf die Bombenkrater und -splitter des Zweiten Weltkrieges und besonders auf die Verwüstung der Stadt Dresden.

Dem Gedichtband "Porzellan. Poem vom Untergang meiner Stadt" (2005) widmet Klein einen bedeutenden Teil ihrer Arbeit, nachdem sie sich mit großer Kennerschaft und Gespür für Details in einem Kapitel über die Verserzählung "Vom Schnee oder Descartes in Deutschland" (2003) mit Themen wie der Bedeutung vom T.S. Eliot'schen "forgetful snow" oder der Trennung von Körper und Geist auseinandergesetzt hat. Als "Porzellan", eine Sammlung von zwischen 1992 und 2005 verfassten Gedichten über die Zerstörung der Geburtsstadt des Dichters, erschien, reagierte die Literaturkritik vorwiegend negativ: Harsche Rezensionen sprachen von "verunglückte[m] Zynismus" (Nicolai Kobus) und "unfreiwilliger Komik" (Michael Braun) Grünbeins, der mit diesem "pornographisch[en]" Band (Thomas Steinfeld) Dresden "mit Spott" überschüttet habe (Dorothea von Törne).

In apologetischem Ton, aber immer fair bleibend, erklärt Klein diese Kritikwelle als "substanzlos" und verteidigt die Intentionen und die Relevanz dieser Gedichte, indem sie eben die Zentralität des Verhältnisses zwischen Fragment und Erinnerung nochmals betont. Der Dichter als (zu?) "Spätgeborner", dem die Erinnerung "noch weh" tut, hat die Bombenangriffe von 1945 nicht miterleben können und rechtfertigt also seine Klage, die bereits am Anfang bewusst zwecklos erscheint, nur mit dem unvorhergesehenen Ursprung seiner Verse.

"Wozu brüten?" Die Erinnerung ist nicht steuerbar. Sie erschüttert den Körper wie ein unkontrollierbarer Schluckauf. Die Zerbrechlichkeit und Bruchstückhaftigkeit dieser "mémoire involontaire" (Marcel Proust) wird sogar im äußerlichen Layout des Büchleins gespiegelt: Die Gedichte werden in unregelmäßigen Abständen gereiht und oft durch weiße Seiten von einander getrennt, die auf die lückenhafte Diskontinuität der Erinnerung hinweisen. Die alten Photographien der Stadt, die Erzählungen seiner Familie und anderer Zeugen der Katastrophe haben den Dichter und sein Gedächtnis seit der Kindheit geprägt. Die Beschreibung des Untergangs "seiner" (!) Stadt sei nach Klein also individuell und intim, nicht universell und kollektiv zu verstehen: "Der Dichter und Spätgeborene maßt es sich nicht an, über Dresden als einen allgemeinen Erinnerungsort zu schreiben. Das einzige, worüber er dichten kann, ist ,seine Stadt', ein Ort, der letzlich nur für ihn und ihn allein durch seine persönliche Biografie be- und entsteht, und an dem sich niemand als er selbst findet".

Gegen Ende ihrer Studie analysiert Klein in einem kleinen Exkurs das Gedicht "Fragment Ovid nach Johann Heinrich Voss" aus dem weniger bekannten Band "Daphne - Metamorphose einer Figur" (2005), der Gedichte Grünbeins sowie Bilder einer bronzenen Daphne-Skulptur des Künstlers Markus Lüpertz enthält. In seinem "Fragment" zerstückelt Grünbein eine Passage aus der 1798 veröffentlichten deutschen Übertragung der Ovid'schen "Metamorphosen" von Johann Heinrich Voss, so dass nur Zitatbruchstücke und unvollständige Zeilen zu lesen sind. Mit diesem Verfahren, das eindeutig auf die Bruchstückhaftigkeit der literarischen Überlieferung anspielt und die Grünbein'sche Vorliebe für die Antike hervorhebt, schafft der Dichter eine Art ready made im Zeichen einer Fragmentierung des mythischen Materials.

Mit ständigem Rekurs auf das Zusammenspiel von Erinnerung und Fragment präsentiert Klein das (Grünbein'sche) Kunstwerk als "Signum des Verlorenen" und "Resultat einer Zeit, die nicht mehr ist". Daher die - schwer zu widerlegende - These, Grünbein habe Marcel Prousts "Suche nach der verlorenen Zeit" als Grundlagenwerk für sein ganzes Opus adoptiert. Die ausfindig gemachte Zäsur in der Produktion des Dichters bezeugt keine bloße Hinwendung vom Fragmentarischen zugunsten geschlossener Zyklen und formeller Harmonie, sondern vielmehr einen "Wechsel von einer äußeren zu einer inneren ,Poetik des Fragments'. [...] Indem Grünbein den Verlust zum notwendigen Moment der poetischen, dauerhaften Wiedergewinnung umdeutet, erhebt er das Fragment zum inneren Prinzip des Schreibprozesses. Der zerbrochene Zusammenhang, den das Fragment bezeigt, ist gleichzeitig Ausgangspunkt für dessen (imaginäre) Restitution".

Dass seine Gedichte einzelne Steinchen im Mosaik der wiedergewonnenen Erinnerung sind, hat Grünbein selbst 2002 in einem Gespräch mit Renatus Deckert geäußert: "Ich glaube, das Schreiben ist ein Versuch, wenigstens Teile des zerstörten Puzzles wiederzufinden und hier und da auf linkische Weise zusammenzufügen. Als Adresse an eine unbekannte planetarische Zukunft".


Titelbild

Sonja Klein: "Denn alles, alles ist verlorne Zeit". Fragment und Erinnerung im Werk von Durs Grünbein.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2008.
270 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-13: 9783895286780

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