An der Grenze

Gábor Pusztai untersucht das "Eigene" und das "Fremde" in deutscher und niederländischer Kolonialliteratur

Von Susan MahmodyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Susan Mahmody

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Definition des 'Fremden' hat vor allem den Zweck, das 'Eigene' zu konstruieren, denn schließlich wird das 'Eigene' auch immer erst im Moment der Konfrontation und gleichzeitigen Differenzierung zum 'Anderen' produziert. Das 'Eigene' und das 'Fremde' treffen sich dabei an der Grenze, an der auch die Unterschiede zwischen den beiden Polen sichtbar werden. Genau diese Grenze zwischen dem 'Eigenen' und dem 'Fremden' und wie sich diese in der Literatur niederschlägt, steht in Gábor Pusztais Studie "An der Grenze. Das Fremde und das Eigene. Dargestellt an Werken der deutschen und der niederländischen Kolonialliteratur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von C.W.H. Koch, H. Grimm, M.H. Székely-Lulofs und W. Walraven" im Mittelpunkt.

Anhand von jeweils zwei Erzählungen zweier niederländischer und zweier deutscher Autoren wird versucht, jenen Punkt auszumachen, am dem 'Eigenes' und 'Fremdes' aufeinandertreffen, nämlich die Grenze. Pusztai erklärt, dass er für seine Analyse bewusst Schriftsteller gewählt habe, die ganz unterschiedlich rezipiert werden und wurden - nämlich den vor allem nach 1945 sehr negativ bewerteten Hans Grimm und den unbekannten Carl Koch aus Deutschland und die beiden sehr bekannten und überaus positiv beurteilten niederländischen Autoren Madelon Székely-Lulofs und Willem Walraven -, um zu untersuchen, ob die Fremdheitskonstruktionen in den Werken der negativ beurteilten Autoren negativ und in denen der positiv beurteilten Autoren vergleichsweise positiv sind. Dieses Vorhaben ist äußerst interessant, da es Biografie, Ideologie und Œuvre der betreffenden Autoren mit Rezeption und Kritik ihrer Werke und Person verbindet. Allerdings wäre es womöglich besser gewesen, jeweils einen negativ beurteilten Autor aus Deutschland und den Niederlanden einem positiv beurteilten Schriftsteller gegenüber zu stellen, um so für ein ausgeglicheneres Bild zu sorgen.

Pusztai wählt für seine Analyse eine dekonstruktivistisch orientierte Verfahrensweise, die den Ansätzen Jacques Derridas folgt, da diese ihm als besonders geeignet erscheint, das Verhältnis zwischen 'eigen' und 'fremd' darzustellen. Der Ausgangspunkt sind dabei Stereotype und zwar sowohl Autostereotype, die auf das Eigene bezogen und folglich meist sehr positiv sind und Heterostereotype, die zur Abwertung des 'Anderen' in Folge von Abgrenzung benutzt werden. Um die hierarchischen Strukturen zwischen 'eigen' und 'fremd' umwälzen zu können, müssen sich die Pole des Oppositionspaares in Form einer Verschiebung oder Umkehrung bewegen (was Derrida Inversion nennt), um durch eine wiederholte Umkehrung (Iterabilität nach Derrida) nicht nur die Differenzen zwischen 'eigen' und 'fremd' aufzeigen, sondern auch die Differenzen innerhalb des 'Eigenen' und des 'Fremden' selbst enthüllen zu können. Die Konstruktion des 'Eigenen' und des 'Fremden' und deren Dekonstruktion im Laufe der Lektüre kann also zu Verschiebungen führen, denn die andauernde Wiederholung der Stereotype bewirkt eine Veränderung der Opposition, die sogar in einer Umkehrung der Pole münden kann.

Um die Stereotype innerhalb der Erzählungen ausfindig machen zu können, benutzt Pusztai eine polarisierende Lesestrategie. In Folge wird anhand des gebildeten Gegensatzpaares eine Untersuchung von Ort, Sprache und Personen vorgenommen. Ziel dieser Vorgehensweise ist die Analyse der Hierarchie zwischen den beiden Polen, der Darstellungsweise der Grenze zwischen 'eigen' und 'fremd' (in welcher Form diese auch immer auftreten möge) und der Veränderungen dieser Grenze in Folge eines auftretenden Umkehrungsprozesses. Die Pole 'eigen' und 'fremd' ergeben sich dabei aus acht verschiedenen Aspekten: Fremd - Eigen (Identitätsfrage), Tier - Mensch (Animalisierung), Schwarz - Weiß, Täter - Opfer, Individuum - Gruppe, Herr - Diener, Wilde - Zivilisierte und Gewinner - Verlierer. Die Grenze zwischen den Polen wird jedoch nicht primär als Trennlinie gesehen, sondern als "(literarischer) Raum, in dem die verschiedenen Aspekte des Phänomens fremd und eigen als Pole, die in einer negativen Beziehung zueinander stehen (fremd = nicht eigen, eigen = nicht fremd) selbst fühlbar, hörbar, sichtbar, erfahrbar werden".

Nicht nur durch diesen unkonventionellen, aber durchaus nachvollziehbaren und zielführenden Forschungsansatz, sondern auch durch den breiten Rahmen zeichnet sich "An der Grenze" aus. So werden bei der Vorstellung der behandelten Autoren nicht nur Biografie und Œuvre sowie dessen Rezeption angeführt, um die Position des Autors innerhalb der Literaturgeschichte zu illustrieren, sondern auch die Rolle der Kolonialliteratur in Deutschland beziehungsweise den Niederlanden angesprochen. Die Frage ist dabei, ob die Kolonialliteratur in diesen Ländern innerhalb des nationalen Kanons als eigene Literatur gesehen oder aus diesem ausgegrenzt wird und wurde. Auch geschichtliche Hintergründe sowie politische und gesellschaftliche Umstände der damaligen Zeit werden hierbei erwähnt. Hilfreich ist auch, dass der Autor den Lesern seine Intentionen an mehreren Stellen der Studie immer wieder ins Gedächtnis ruft, was es ermöglicht Zielsetzungen, Methoden, Praxis und Konklusion miteinander zu vergleichen.

Bei allem Lob für Pusztais wirklich gelungene und wertvolle Studie muss leider auch etwas Kritik geäußert werden. Teilweise ist das Buch in einem etwas hölzernen Stil gehalten, der sich durch kurze, abgehackte, für das Deutsche ungewöhnlich anmutende Sätze mit seltsamer Satzstellung äußert. Auch einige Grammatikfehler sind dem Lektorat entgangen. Schwere inhaltliche Kritik ist zum einen bezüglich der Verwendung des Ausdruckes "Halbblutkind", der äußerst negativ (da rassistisch und diskriminierend) behaftet ist und zumeist eher in Bezug auf Tiere (vor allem Pferde) benutzt wird, angebracht. Zum anderen ist sie bei der Betrachtung des folgenden Satzes, der im Kontext der Erzählung "Isah" von Madelon Székely-Lulofs steht, nötig: "Die Stimme befiehlt ihm noch im ,Poeassa' (Fastenmonat) den Weißen zu töten und Iman, wie jeder andere Moslem, weiß, dass er, nach seinem Glauben in den Himmel kommt, wenn er während des Fastenmonats einen Ungläubigen tötet". Diese Aussage lässt Pusztai ohne jeglichen Kommentar stehen, ohne zumindest zu erwähnen, ob diese "Feststellung" so im Werk der Autorin getätigt wird oder seiner eigenen Vorstellung entspringt. Eine erläuternde Fußnote wäre mehr als angebracht gewesen, wenn man bedenkt, dass das Töten im Islam wie in jeder anderen Religion verboten ist und dass alle Regeln und Gebote im Fastenmonat akribisch eingehalten werden sollen. Gerade in politisch brisanten Zeiten wie diesen sind solche Äußerungen fahrlässig. Auch in Anbetracht dessen, dass vom Autor die ganze Studie hindurch betont wird, dass gerade Stereotype zur Festschreibung eines falschen, negativen Bildes vom 'Fremden' benutzt werden, sind solche pauschalisierenden Behauptungen mehr als unglücklich.


Titelbild

Gábor Pusztai: An der Grenze. Das Fremde und das Eigene dargestellt an Werken der deutschen und niederländischen Kolonialliteratur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von C.W.H. Koch, H. Grimm, M.H. Székely-Lulofs und W. Walraven.
Herausgegeben von Tamás Lichtmann.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
221 Seiten, 41,10 EUR.
ISBN-13: 9783631542491

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