Augensprache

Martina Hefter hat mit „Die Küsten der Berge“ einen wunderbar langsamen Roman geschrieben, dem nur der letzte Feinschliff fehlt

Von Daniel GrafRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Graf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn die Protagonistin mit den Augen die Landkarte abfährt, wenn sie den Mäandern der Flussläufe folgt bis sie versickern, um vielleicht anderswo wieder aufzutauchen – dann ist es ein wenig als beäugte der Erzähler die Planskizze seiner Rede. Drei Orte blendet Martina Hefter in ihrem neuen Roman „Die Küsten der Berge“ neben- und übereinander, schickt die namenlose Hauptfigur durch ihren Wohnort Leipzig, den Urlaubsort auf Rügen und den Geburtsort im Allgäu. Jeder der Erzählstränge hat unzählige kleine Nebenfasern, die die Autorin auf sehr raffinierte Weise fallen lässt, wieder aufnimmt und bei aller motivischen Dichte luftig verknüpft.

Dass sich die Ebenen durchdringen, ist die wichtigste Technik des Romans und zugleich sein Thema. Zeiten und Orte überlagern einander in ihren Zuschreibungen. Der Alltag dringt ins bescheidene Urlaubsdomizil; ein Hauch von Provinz nistet sich in der doch nicht recht urbanen Großstadt ein. Auch die vielen kleinen und großen Ausbruchsversuche drohen immer wieder in familiärer Enge zu enden. Überall warten neue Elternfiguren, die die Flüchtige, noch als sie schon selbst Familienmutter ist, einholen mit den Zumutungen ihrer gut gemeinten Bevormundung. Nur das alter ego, die ominöse Freundin, bleibt ebenso ungreifbar wie unverbürgt.

„Die Küsten der Berge“ ist eine Hommage ans Unterwegssein, rhythmisch präzis gearbeitet bis hin zur Interpunktion und darin, trotz Schnitt und Ausreißer-Thematik, ein Roman der Langsamkeit. Nicht dem äußeren Geschehen gilt die Aufmerksamkeit, sondern der Dramaturgie seiner Wahrnehmung. Augen spielen die eigentlichen Hauptrollen in diesem Text. Seine größte Stärke, so sehr das nach Kritiker-Floskel klingt, liegt in der Eindringlichkeit der Beobachtung. Man darf das ganz wörtlich nehmen. Die Blicke bei Martina Hefter durchstoßen, verschaffen sich Zugang. Statt zu wandern, versetzen sie das Angesehne in Bewegung. Darin liegt ihr spielerisches Moment und ihr bedrohliches Potential. Hefter spürt beidem und zahllosen Zwischenstufen nach.

Aber gerade weil ihre Augensprache eine Kunst der Nuancen ist, hätte der Roman in manchen sprachlichen Details noch eine letzte Präzisierung, mitunter auch Reduzierung vertragen können. Da zum Beispiel, wo die Beschreibung für einen Moment in Reiseführer-Rhetorik abgleitet („Ausgangspunkt für viele Wanderungen durch die Tiroler Alpen“) oder das Erzählen in einer ansonsten verstörend genauen Traumatisierungsszene einen Halbsatz lang aus der infantilen Figurenperspektive rutscht. Wo eine Anspielung etwas bemüht wirkt („ein wirklich toter, nicht totgesagter Park“) oder ein Kalauer zu gesucht – oder wo der Hafer am Hauptbahnhof sprießt und die Stelle vielleicht einen Tick zu laut „Symbol!“ ruft. Überall sonst ist „Die Küsten der Berge“ ein besonders leiser Text; ein Augenroman.

Titelbild

Martina Hefter: Die Küsten der Berge. Roman.
Wallstein Verlag, Göttingen 2008.
216 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783835303300

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