Von Websonatinen, Wörterbillard und der Wiener Litanei

Robert Schindels Gedichtband "Mein mausklickendes Saeculum"

Von Iris HermannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Iris Hermann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist ein reicher Ernteherbst für den Dichter aus der Leopoldstadt in Wien: Im August erschien der neue Gedichtband "Mein mausklickendes Saeculum" wie gewohnt bei Suhrkamp. Bei Haymon werden frühe Prosastücke zusammen mit noch nie veröffentlichten aufgelegt ("Der Krieg der Wörter gegen die Kehlkopfschreie"), und, wie zu erfahren ist, wird bald das frisch fertig gestellte Drama "Dunkelstein" im Wiener Volkstheater uraufgeführt.

Robert Schindel, dem Ruth Klüger ein reiches Alterswerk vorausgesagt hat, hält sich an diese Ermutigung. Er lässt nicht nach, Lesern und Leserinnen sein virtuoses "Wörterbillard" um die Ohren zu donnern. Überhaupt die Ohren! Wie so viele Körperteile in diesen wie immer bei Schindel so überaus sinnlichen, deshalb auch "furzenden" und "schwurbelnden" Gedichten, tauchen sie schon ganz zu Beginn auf. In Übergröße am Kopf befestigt, übernehmen sie die Funktion der Flügel eines Benjamin'schen Engels der Geschichte. Von hinten erfasst der Wind die Ohren und treibt das lyrische Ich unaufhaltsam vorwärts. Aber, obwohl das der Ausgangspunkt dieser Gedichte "im mausklickenden Saeculum" ist, wie Schindel mit und nach Friedrich Schiller etwas unbescheiden kalauert, sieht man genau hin, besteht zu Benjamins Engel der Geschichte eine deutliche Differenz. Die Ohrenflügel bleiben fest am Kopf. Selbst wenn der Wind anhöbe, stünde dieses Ich still und würde damit exakt die Position einnehmen, die Schindel in seinem Roman "Gebürtig" (1992) seiner Schriftstellerfigur Sascha Graffito zuwies: Überall dort sich aufzuhalten, wo Worte fallen im Hier und Jetzt und diese unermüdlich, unbestechlich aufzunotieren. Aber das lyrische Ich, das Schindel hier entwirft, bleibt kein Chronist. Es mischt sich ein (wie Sascha Graffito im Roman schlussendlich auch!) und begibt sich mitten hinein in die fallenden Wörter.

Der Band beginnt mit Poetologischem (wie im vorherigen Gedichtband, der wunderbaren "Wundwurzel" 2005), das lyrische Ich beugt sich, gewissermaßen für die Lesenden sichtbar, über die Tastatur. Es sucht, es entwirft sich selbst, indem es beispielsweise möglichen Genealogien nachspürt (Das liegt bei Schindel, dem die Nazischergen fast seine ganze Familie mordeten, natürlich nahe!).

Die Worte, die aus den Mündern kommen, aus dem Netz, wo auch immer sie sich artikulieren, beginnen dabei zu klingen: "Wintersinfonien" entstehen, "Websonatinen", "Flüstersinfonien", so als sei der Computer eher ein Musikinstrument als eine Wörtermaschine. Schindel begreift das dichtende Verwörtern der Welt als Atemvorgang: "Das Durchschreiten der Schweigsamkeit durch Satzatem." In diesem Dichten kommt die Stimme selbst dann zum Einsatz, wenn man sie nicht hört. In allen, auch in Worten, die eher die Schweigsamkeit transportieren, hört man sie mit, wenn man diesen lispelnden, aber vor allem so unglaublich eindringlichen Menschenflüsterer einmal lesen gehört hat. Dann haben Schindels Worte eine Kraft des Atems, eine Wortmusik, die sie auch brauchen, weil die intelligible Durchdringung der Gedichte allein nicht ausreicht, um nicht von den galoppierenden Wortpferden abgeworfen zu werden.

Schindels Gedichte geben Rätsel auf und zelebrieren sie. Auch wenn er der unbedingten Meinung ist, sie seien nur allzu verständlich. Das sind sie tatsächlich, aber eben nur, wenn man sich beim Lesen traut, sie ein bissl Wienerisch eingefärbt vor sich hinzumurmeln und ihnen so zuzuhören. Aber Schindels Gedichte sind nicht nur sinnliche Kaskaden, blitzende Feuerwerke ungewöhnlich schillernder Sprachbilder, Sprengmetaphern, wie Hans Blumenberg sie nennen würde, sondern viel mehr: Sie sind hochintelligente Verdichtungen abendländischer Ideengeschichte, mythischer Anspielungen und literarischer Verweise, ohne dass damit laut geklappert werden müsste. Schindels Bildungsgepäck ist gut geschnürt und zugleich so kompakt, dass mit ihm jede Bewegung in dem schwingenden Karussell seiner Dichtung möglich bleibt.

Dabei liebt er es, die Dinge nur anzudeuten, sie nicht "totzusagen": "Das Wort unausgesprochen / Unerfunden lässt / Das Herz reisen und heraufschau ich / Durch die Atemkristalle hindurch / Zu den Schindeln." Das Unausgesprochene, nur Angedeutete ermöglicht es, durch die "Atemkristalle" (die Schindel mit Paul Celan als das todbringende Zyklon B begreift) auf das zu schauen, was übrig blieb: Es gibt ja noch Schindel(n)! Als er diese Verse schrieb, gab es zumindest noch zwei Schindelmenschen: Ihn und die Mutter Gerty Schindel, die im März 2008 hochbetagt starb. Er widmet ihr seine Gedichte.

So lebensbejahend der Gedichtband anfängt, so "eingedunkelt" zeigen sich viele der weiteren Gedichte insbesondere des Mittelteils. Sie sind, was neu ist im Schindel'schen Ton, depressiv zu nennen. Sie sind allzu melancholische Preziosen, die über sich hinauswachsen, indem sie verweisen auf etwas Unabänderliches außerhalb ihrer selbst: den Tod, der an dieser Stelle in den "Websonatinen" den Basso continuo bildet: "Da bin ich und das wars", sagt eine hier auftretende Amfortasfigur, die von sich auch noch sagt: "Es greift mein Atemüberschwangeres sich in die Schmerzensspeichen". Das ist ein verwickelter Vers, der wie viele der Schindel'schen Einfälle ganze Kavalkaden an Gedankenrotationen in Gang setzen kann: Das "Atemüberschwangere" etwa setzt sich aus drei Komposita zusammen, gemeint ist aber keine Atemnot. Es bleibt völlig offen, ob eine Sache des Atems, die "Schmerzensspeichen" aufzuhalten vermag. Am wahrscheinlichsten ist wohl dies: Nichts, kein Überschwang, keine Fruchtbarkeit, erst recht nicht das immer weiter auch noch im Keuchen (auch dem der Lust geschuldeten!) mitgeführte Leid der Shoah vermag das Rollen des Schmerzrades aufzuhalten. Ein Amalgam aus diesen verschiedensten Empfindungen hat sich in Schindels Amfortasgedicht zusammengemischt und einen Amfortas gestaltet, der kürzestmöglich bilanziert: "Das wars." So einspruchsbereit, so ambivalent letztlich und vexierbildhaft präsentieren sich viele von Schindels allerneuesten Gedichten.

Jedoch bleibt das Resignative nicht das letzte Wort. Zudem gibt es in diesem neuen Band Liebesgedichte, in denen, man mag an Johann Wolfgang Goethes "Selige Sehnsucht" erinnert werden, "Schmetterlinge beim unentwegten Landeversuch" auftauchen. In den Gedichten diktiert die Sehnsucht die Worte und Zeiten und Orte glücklicher Wiederbegegnungen werden herbeiphantasiert. Vielleicht ist es das, was Schindels Gedichte so anziehend macht, dass sie hineingehen in die verzweifelten und dunklen Tiefen der Todesnähe und dennoch, das normale Elend aushaltend, beim Spaghetti-Kochen zusehen und aus diesen so verschiedenen und doch zusammengehörenden Erfahrungen heraus "Wörter im Silbendrang" artikulieren. Es ist folgerichtig, wenn am Ende eine "Wiener Litanei" die "Melange" aller so eigenwilligen und das Denken befeuernden Wortkaskaden beschließt. In ihr verrät Schindel etwas von seiner Art zu leben in der Stadt, in der der "Schmäh" "Blut und Wein" verrührt. In ihm ist das ständige Empfangen von E-Mails ein wichtiger Bestandteil des Lebens: Tatsächlich ist Schindel elektronisch fast immer auf Empfang und dazu ein altmodischer Caféhausliterat, der wie das Ich in seinen Gedichten nicht verlernt hat, den Engeln zuzuhören, auch wenn ihm die "Klumpen ins Ohr" singen. Sein lyrisches Ich ist eben deshalb auch kein Benjamin'scher Engel der Geschichte, der in die Zukunft getrieben wird, sondern einer, der auf dem Verweilen beharrt, um die Zeit zu haben, dem Erinnern Worte zu verleihen.

Man schämt sich förmlich, für die Fülle des von Schindel Dargebotenen nicht mehr als den Platz einer Rezension zu haben. Man kann mit diesen Gedichten über den Herbst kommen und sich daran freuen, dass er sogar noch mehr aus Schindels Füllhorn geschüttelt hat als diese nie einzufangenden Gedichte. Sie gehören ohne Übertreibung zu dem Besten, was die deutschsprachige Lyrik aktuell zu bieten hat.


Titelbild

Robert Schindel: Mein mausklickendes Saeculum. Gedichte.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
100 Seiten, 17,80 EUR.
ISBN-13: 9783518420249

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