Die Demokratie ist eine Fremde geblieben

Necla Kelek besucht ihre "bittersüße Heimat"

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gerade rechtzeitig zur diesjährigen Buchmesse mit dem Gastland Türkei ist Necla Keleks Bericht über ihre "bittersüße Heimat" erschienen. Zwar führt die Autorin eingangs aus, dass Heimat kein Ort sei, doch hindert die Feststellung sie nicht daran, diese wenige Seiten später dennoch räumlich zu verorten und zu konstatieren, wer gehe, habe "den Ort, der einmal Heimat war, für immer verloren." Es dauert auch nicht lange, bis klar wird, dass sie hier von sich und der Türkei spricht. Die Rede von ihrer verlorenen Heimat schließt natürlich nicht aus, dass sie eine zweite "neue Heimat" gefunden hat: Deutschland.

Ähnlich wie schon in ihren früheren Büchern hat Kelek mit ihrem aktuellen Werk eine Mischung aus Reisebeschreibung, Analysen, persönlichen Erinnerungen sowie aus Momentaufnahmen der türkischen Geschichte, Politik und Gesellschaft vorgelegt. Während ihrer historischen Ausflüge wirft sie diesmal auch einen Blick auf die hierzulande weithin unbekannte Deutschlandpolitik der Türkei zur Zeit des Nationalsozialismus. Doch Ihre Themen sind zahlreich. So erklärt sie etwa, wie das 'Türkentum' "erfunden" wurde und welcher Preis für die Freiheit zu zahlen ist. Sie erzählt von "heilige[n] Geschäften" und "osmanischen Tischsitten". Sie erläutert das "Kurdenproblem", berichtet vom Leben der "türkischen Juden" und von ihrem Besuch am Grabmal des Gründers der Türkei, dessen Monumentalität sie zu einer vehementen Kritik an dem exzessiven Personenkult und zu der Bemerkung veranlasst, es sei "an der Zeit, dass sich die Menschen in der Türkei von der Person Mustafa Kemal, genannt Atatürk, emanzipierten". Und sie sucht den Sitz der Diyanet, dem Präsidium für religiöse Angelegenheiten, auf, dessen Interpretation des Islam "faktisch Staatsreligion" und die Türkei darum nicht säkular sei.

Man erfährt auch von mancher Skurrilität. Bei den meisten bleibt einem das Lachen jedoch im Halse stecken. Skurril, aber nicht lustig mutet etwa an, dass das türkische Staatsfernsehen die Kinderserie "Pu, der Bär" nicht sendet, weil das darin vorkommende Ferkel Piglet die Kinder verwirren könnte. Miss Piggy aus der "Muppet-Show" wird den kleinen TürkInnen gleichfalls vorenthalten. Diese Merkwürdigkeiten nutzt Kelek um zu erläutern, warum Schweine im Islam als unrein gelten. Ihre Erklärung weicht zwar von der gemeinhin propagierten ab, der gemäß sich darin ein Wissen um die in Gestalt von Trichinen und Fadenwürmern lauernden Gefahren beim Verzehr von rohem Schweinefleisch spiegele, ist aber mindestens ebenso stichhaltig wie diese.

Gar nicht erst zum Lachen ist es, wenn Kelek vom Los vieler Frauen in der zutiefst patriarchalischen Türkei berichtet. Wie nicht anders zu erwarten, widmet sie einige der umfangreichsten Kapitel ihren Geschlechtsgenossinnen. So bietet die Autorin einen Überblick über die sich verändernde Stellung der Frauen in der Geschichte der türkischen Republik und berichtet darüber, wie sie heute in Ankara leben oder in Ostanatolien, wo die Demokratie noch immer "eine Fremde" ist. Hier wie dort hat sie Frauenorganisationen aufgesucht: In der türkischen Hauptstadt die "fliegenden Besen" und eine Frauenberatungsstelle, in Diybarkir die Feministinnen von "Ka-mer", eine Gruppe, die vor allem von 'Ehr'verbrechen bedrohten Frauen hilft und somit vielleicht die wichtigste Organisation im ganzen Land ist. Zurecht bericht Kelek besonders ausführlich darüber, was diese Frauen leisten und unter welchen Gefahren für Leib und Leben sie das tun.

Der letzte Abschnitt des Buches gilt aber nicht den türkischen Frauen, sondern der Kontroverse um den EU-Beitritt der Türkei, die noch "weit" von den "Standards" entfernt sei, "die wir den zivile Demokratien Europas abverlangen". Nebenbei wirft sich hier die Frage auf, welche anderen, vielleicht militärischen Demokratien Kelek denn in Europa oder auch sonst wo kennt. Wohlbegründet aber ist ihre Warnung vor der Illusion, "der EU-Beitritt werde schon richten, was uns zuweilen an Nachrichten über mangelnde Rechtsstaatlichkeit der Türkei erreicht." Gleiche Bedenken dürften zudem für manche gesellschaftlichen und kulturellen Gepflogenheiten in der Türkei, etwa die Stellung der Frau betreffend, gelten.

Die Frage, warum die Türkei überhaupt der EU beitreten möchte, beantwortet Kelek mit einem Hinweis auf den in diesem fall für das Land zu erwartenden "lukrative[n] Geldsegen", der die Europäische Union nach von Kelek angeführten Schätzungen der EU-Kommission jährlich 16 bis 27 Milliarden Euro kosten würde, von denen Deutschland wiederum 3 bis 5 Milliarden zu zahlen hätte.

"Wie aber", warnt Kelek, "soll die Integration von mehr als 70 Millionen Muslimen in die Wertegemeinschaft Europas funktionieren, wenn deren grundlegende Pfeiler - wie Gleichberechtigung, Rechtstaatlichkeit, die Freiheit des für sich selbst verantwortlichen Individuums - abgelehnt" und stattdessen "Türkentum, Ehre, Umma, Einheit, Nation" hochgehalten werden. Aufgrund dieser Haltung sei die Türkei "noch nicht reif" für den Beitritt und müsse sich, wolle sie der EU angehören, "von Grund auf reformieren." Dafür brauche sie nicht weniger als einen "neuen Gesellschaftsvertrag, der die Grundrechte und die Würde des Einzelnen in den Mittelpunkt stellt."

Schließt man Keleks Buch über ihre "bittersüße Heimat", so schmeckt das Bittere noch eine Weile nach, ähnlich wohl, wie es auf der Zunge der Autorin während des Schreibens vorgeschmeckt haben dürfte.


Titelbild

Necla Kelek: Bittersüße Heimat. Bericht aus dem Inneren der Türkei.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008.
303 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783462040425

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