Vermintes Gelände

Einige Bemerkungen zum Modernisierungsprozess im frühen 20. Jahrhundert und seinen literarischen Verarbeitungsformen vor und nach dem Ersten Weltkrieg

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Prolog

Die gesellschaftliche Entwicklung verstärkt zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihre Dynamik. Die Integrations- und Diffusions-, die Konstruktions- und Destruktionstendenzen werden gleichermaßen vorangetrieben. Auf der einen Seite werden die Funktionszusammenhänge weiter intensiviert. Auf der anderen Seite gehen Steuerungskompetenzen an die Individuen über, die zuvor von gesellschaftlichen Institutionen wahrgenommen wurden. Die Gesellschaft wird schneller und komplexer. Die Individuen bestimmen sich immer mehr selbst - und sie sind zu dieser Selbstbestimmung gezwungen. Die Gesellschaft wird für sie zu einem undurchschaubaren, chaotischen und gefahrreichen Ereigniszusammenhang - und zu einem totalen, alles integrierenden System, das ihnen Positionen zuweist, die sie zugleich selbst adaptieren müssen. Die großen Erzählungen am Beginn des 20. Jahrhunderts versuchen sich an der Beschreibung, Erklärung und Durchführung dieses "Ereignisses".

1. Auszug aus dem Paradies

"Er stand vor dem Tor des Tegeler Gefängnisses und war frei." So beginnen Geschichten von der Freiheit und von deren Katastrophe, in diesem Fall die des Franz Biberkopf. Sie wird - nach einigen lehrreichen Geschehnissen - mit seiner gesellschaftlichen Zurichtung enden, das heißt mit der Einsicht, wie die Einleitung formuliert, dass "vom Leben" nicht "mehr zu verlangen" ist "als das Butterbrot". Nun, soweit ist es noch nicht. Noch steht alles auf Anfang. Nur, welcher Anfang ist das? Voraussetzungslos jedenfalls ist er nicht.

"Gestern hatte er noch hinten auf den Äckern Kartoffeln geharkt mit den andern, in Sträflingskleidung, jetzt ging er im gelben Sommermantel, sie harkten hinten, er war frei." Nein, diese Zeiten sind vorbei, diese schönen Zeiten: "Der schreckliche Augenblick war gekommen". "Man setzte ihn wieder aus." Ja: " Die Strafe beginnt."

Ein erstaunlicher Anfang, wenngleich wir - wissend um die Erfahrungen, die Biberkopf im Lauf der nächsten paar hundert Seiten machen wird - seine Abneigung verstehen können. Natürlich, die Welt ist dem Delinquenten fremd geworden, ihre Entwicklung ist nicht stehen geblieben, während der Häftling sich in derselben Zeit in einem Raum befand, in dem alles für ihn immergleich geregelt war, Zeit, Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft, Tagesablauf, Entscheidungen, Kleidung, Einkommen, Ausgaben - nichts bleibt seiner eigenen Disposition überstellt. Die Verhältnisse sind klar, gerade auch die Machtverhältnisse. Die Obrigkeit entscheidet, sie verbietet, erlaubt, gesteht zu und entzieht, und sie hat ein Gesicht. Der Raum, in dem sich Biberkopf bewegt hat, ist klein, beherrscht einerseits und geschützt andererseits. Für Biberkopf zählt vor allem der Schutz.

Dieser Schutz ist nun aufgehoben. Mit einem Mal ist Biberkopf selbst die regelnde Instanz, er muss alles entscheiden, zum Beispiel ob er morgens aufstehen will, wie er sein Geld verdient, mit wem er sich umgibt, welchen Platz er für sich beansprucht. Keine große Sache eigentlich. Aber mit weit reichenden Implikationen, denn eine selbst gesteuerte Monade zu sein, bedeutet zugleich, Teil eines großen Konnexes zu sein (der Gesellschaft) und sein zu wollen. Doch, gerade das ist die Crux in diesem Fall. Biberkopfs Wille dazugehören, und das zu "seinen" Bedingungen, wird als "hochmütig und ahnungslos, frech, dabei feige und voller Schwäche" decouvriert.

2. Einzug in die Stadt

Dazu gehören: Ein hohes Ziel, das einen einige Jahre lang in den Ruf brachte, Agent des Monopolkapitals zu sein. Den Zeitgenossen war es egal, für sie war die notwendige und sinnvolle Zugehörigkeit zu einem sozialen Konnex, zur Gemeinschaft, für die Zeitgenossen von unbezweifelbarer Attraktivität: "Das Idol dieses Zeitalters ist die Gemeinschaft", sagt Helmuth Plessner, sei es die bürgerliche, kapitalistische, faschistische oder sozialistische, das ist egal. Ach, süßes Gift der Gemeinschaft, zu der man gehört. Und zu der man gehören will, der "Inbegriff lebendiger, unmittelbarer, vom Sein und Wollen der Personen her gerechtfertige[r] Beziehungen zwischen Menschen." Doch lassen wir die historische politische Konsequenz dieses Bedürfnisses für eine Weile außen vor.

Irmgard Keuns Heldin Gilgi steht diese Vision - von einer "kleine[n], gelbe[n] Apfelsine", die vor der Lokomotive liegt, ausgelöst - für einen glückhaften Moment vor Augen, als sie - mittlerweile schwanger - ihren Geliebten verlässt, um von Köln nach Berlin zu fahren, um Abschied zu nehmen von der solipsistischen Zweisamkeit, einen Neuanfang zu wagen, der sie voranbringen und zurückführen wird in die wohltuenden Fänge der Gemeinschaft: "Eine winzige Freude zuckt auf - Sekundenblitz: man wird wieder dazugehören - eingereiht sein in Pflicht und geschaffenem Räderwerk - man wird wieder geschützt sein im gewünschten Zwang erarbeiteter Tage, in dem gewollten Gesetz eigenen Schaffens".

Verblüffend? Nein, verblüffend ist lediglich, dass Gilgi den Ort, an den sie gehört, nicht an der Peripherie der Gesellschaft sucht, sondern in deren Zentrum: Sie fährt in die Großstadt, sie fährt nach Berlin, jene Stadt, von der wir immer noch diesen - literarischen - Eindruck haben, den Alfred Wolfenstein in seinem Text "Städter" formuliert hat: "Nah wie Löcher eines Siebes stehn / Fenster beieinander, drängend fassen / Häuser sich so dicht an, daß die Straßen / Grau geschwollen wie Gewürge stehn. // Ineinander dicht hineingehakt / Sitzen in den Trams die Fassaden / Leute, wo die Blicke eng ausladen / Und Begierde ineinander ragt. // Unsre Wände sind so dünn wie Haut, / Daß ein jeder teilnimmt, wenn ich weine, / Flüstern dringt hinüber wie Gegröhle: / Und wie stumm in abgeschloßner Höhle / Unberührt und ungeschaut / Steht doch jeder fern und fühlt: alleine."

Auch wenn Gilgi die große Stadt nicht für einen "sich selbst genügenden Haushalt, ein[en] gemeinschaftlich lebende[n] Organismus" hält, ist sie davor gefeit, zusammengepfercht und doch allein zu sein?

Auch das ist nur ein Bild, aber ein wirkungsmächtiges. Und ist es weit hergeholt anzunehmen, dass sich Gilgis Hoffnungen wohl kaum erfüllen können (das kunstseidene Mädchen Doris wird das im Folgeroman demonstrieren, aber deren Ausgangsbedingungen sind noch schlechter). Franz Biberkopf hat mit seiner Furcht vor dem, was kommen wird, recht. Denn der Raum, in dem er sich nun bewegen soll, ist unübersichtlich, gewalttätig, groß, dynamisch und sehr schnell, die Stadt, der Alexanderplatz, die Schlachthöfe, der Grunewald - das ist in der Tat ein grundsätzlicher Gegensatz zum Gefängnis. Alles ist in Bewegung und Veränderung, am meisten der Protagonist selbst, aber nichts hat Gesicht. Schon der erste Eindruck überfordert ihn mächtig. "Achtung, Achtung, es geht los" - Franz Biberkopf fährt und geht in die Stadt, das Leben, er spürt das, die Stadt, sie ist gefährlich. Sie überwältigen ihn und dabei ist es nicht einmal so gemeint. Was nur passiert, geschieht ohne Lenkung, Bezug, Ziel und ohne Rücksicht, der Einzelne ist dem ausgeliefert: "Was war das alles. Schuhgeschäfte, Hutgeschäfte, Glühlampen, Destillen. Die Menschen müssen doch Schuhe haben, wenn sie so viel rumlaufen, wie hatten ja auch eine Schusterei, wollen das mal festhalten. Hundert blanke Scheiben, lass die doch blitzen, die werden dir doch nicht bange machen, kannst sie ja kaputt schlagen, was ist denn mit die, sind eben blankgeputzt. Man riß das Pflaster am Rosenthaler Platz auf, er ging zwischen den anderen auf Holzbohlen. Man mischt sich unter die andern, da vergeht alles, da merkst du nichts, Kerl. Figuren standen in den Schaufenstern in Anzügen, Mänteln, mit Röcken, mit Strümpfen und Schuhen. Draußen bewegte sich alles, aber - dahinter - war nichts! Es - lebte - nicht! Es hatte fröhliche Gesichter, es lachte, wartete auf der Schutzinsel gegenüber Aschinger zu zweit oder zu dritt, rauchte Zigaretten, blätterte in Zeitungen. So stand das da wie Laternen - und - wurde immer starrer. Sie gehörten zusammen mit den Häusern, alles weiß, alles Holz. [...] Schreck fuhr in ihn, als er die Rosenthaler Straße hinunterging und in einer kleinen Kneipe ein Mann und eine Frau dicht am Fenster saßen: die gossen sich Bier aus Seideln in den Hals, ja was war dabei, sie tranken eben, sie hatten Gabel und stachen sich damit Fleischstücke in den Mund, dann zogen sie die Gabeln wieder heraus und bluteten nicht." Da rede noch jemand vom Verlust konkreter, sinnlicher Erfahrung in der Moderne oder der Langeweile des zivilisierten Lebens: Ein Wunder, dass so viele Menschen auf so engem Raum zusammenleben - und es geschieht nichts. Ein Wunder, dass sie mit so vielen gefährlichen und tödlichen Werkzeugen und Einrichtungen umgehen, und nicht durch sie umkommen (Franz Biberkopf kann sich darüber noch wundern).

Das schafft er allerdings nie. Die selbstverständlichen Dinge des täglichen Lebens werden hier zu lebensgefährlichen Aktionen, aus denen nur geschickte, schnelle, unempfindliche Menschen heil herauskommen - nicht so Franz Biberkopf: "Oh krampfte sich sein Leib zusammen. Ich kriege es nicht weg, wo soll ich hin? Es antwortete: Die Strafe."

Und wie bitter ernst es damit ist, zeigt nicht zuletzt das berühmte Schlachthofkapitel in Döblins "Berlin Alexanderplatz": "Denn es geht dem Menschen wie dem Vieh, wie dies stirbt, so stirbt er auch" - heißt es dazu einleitend. Das Vieh jedenfalls stirbt unter der sachlichen Hand des Schlächters, einem "junge[n] Mann von blasser Farbe, mit angeklebtem blondem Haar, hat eine Zigarette im Mund [...] Er hat eine Verwaltungsangelegenheit [...] zu regeln."

Die Regeln sind unerbittlich, vielleicht unklar, dennoch werden sie exekutiert, die Szene ist unübersichtlich, im Fluss, gesichtslos, die Folgen für das Handeln sind eindeutig und klar. Die soziale Romantik der kleinkriminellen Existenz - eine der letzten Zufluchtsorte individueller Freiheit - wird zerschlagen. Die Gesellschaft verfolgt sogar den, der sich an ihrem Rand aufrecht halten will. Sie integriert jeden, für sie gibt es kein Außen. Und sie zerstört jeden, zumal den, der gegen ihre Integrationsmacht Bestand sucht, opponiert. Sie will keine mächtigen Einzelnen, also zertrümmert sie sie, damit sie dazugehören können, wie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno 1944 im Exil formulierten: "Man braucht nur der eigenen Nichtigkeit innezuwerden, nur die Niederlage zu unterschreiben, und schon gehört man dazu." Als Entmächtigung des Subjekts ließe sich diese Tendenz der modernen Gesellschaft beschreiben. Als Kapitulation des Einzelnen.

3. Exkurs: Wie man früher hineinkam, auch um hinauszukommen

Vergleicht man nun die Exposition von "Berlin Alexanderplatz" mit einem anderen, ihm zeitlich und von der Ausstattung her nahestehenden Text, nämlich:

Carl Zuckmayers "Hauptmann von Köpenick". So denkt man zunächst: Welch eine Erholung, immerhin ein "deutsches Märchen". Auch hier haben wir einen Kleinkriminellen, einen Desperado, einen Schelm, der - zurück aus dem Ort jenseits - einen Neubeginn wagen muss und der hinein will: "det rumlaufen ohne Paß, und det Versteckspielen, und det janze Schinderei, det kann ick nu nicht mehr mitmachen. Det kann ick nich mehr." Immerhin geht er ins "Siebenundfuffzichste". Zu Beginn steht er, aus dem Gefängnis entlassen, wieder außen vor: Die Gesellschaft - in Person der Polizeibehörden (die sich später, nachdem Ruhe und Ordnung vor dem Köpenicker Rathaus wiederhergestellt sind, vom Hauptmann Badeurlaub geben lassen) - lässt ihn nicht hinein und weist ihn aus "den Bezirken Rixdorf, Reinickendorf, Neukölln, Groß-Lichterfelde" aus.

Welch einfache Zeiten: Der Grund für diese behördliche Anordnung ist klärbar - Wilhelm Voigt hat gestohlen, er ist eingebrochen, er steht außerhalb, am Rand. Aber wie einfach ist diese Exklusion zu unterlaufen: Er kauft sich eine gebrauchte Uniform, rekrutiert einen Trupp Soldaten auf der Straße, verhaftet den Köpenicker Bürgermeister Obermüller und beschlagnahmt die Stadtkasse Köpenicks - nur den Pass, auf den es ihm eigentlich ankommt und den er braucht, um endlich ins Ausland reisen zu können, um dort neu anfangen zu können, den kriegt er nicht, denn Köpenick - Voigt hat das übersehen - gibt keine Pässe aus. Was ihm bleibt, ist die symbolische Posse zuende zu spielen (und vielleicht so doch sein Ziel zu erreichen).

Die notwendige Ausstattung hat er. So eindeutig sie ist, ist sie (zum Zeitpunkt des Geschehen bereits, aber erst recht zur Zeit, in der der Stoff ins Theater gebracht wird) zugleich anarchronistisch: eine Uniform, die Voigt eindeutig ausweist, nicht nur als Internen, als einen, der dazugehört, sondern auch als einen, der weitreichende Handlungsrechte hat. Also genau als Gegenteil dessen, was ihn eigentlich und zuvor ausmacht. Kleider machen Leute - in diesen Jahren machen sie vor allem noch bestimmte Leute. Stand und Status werden eindeutig durch die Ausstattung gekennzeichnet, durch die Uniform, durch die Kleidung, das Tschako der Polizisten, den bürgerliche Hut oder die proletarische Schlägerkappe: "Wie der Mensch aussieht, so wird er anjesehn", stellt Voigt sachlich fest.

Natürlich ist Zuckmayers Stück als Komödie gedacht und vielleicht auch als Kritik der Obrigkeitshörigkeit geschrieben. Es feiert den Erfolg des widerständigen Subjekts, das sich von den Verhältnissen nicht demontieren lassen will, das die eigene Freiheit, das eigene Recht, und dabei auch das Recht dazuzugehören behauptet. Die Uniform ist - immer noch - das überdeutliche Siegel darauf.

Wie froh wäre man nur wenige Jahre später gewesen (der Hauptmann spielt vor dem Krieg, das Stück aber wird 1930 veröffentlicht und 1931 zum ersten Mal gespielt), wenn wenigstens noch Uniformen Signum einer funktionierenden Gesellschaft gewesen wären - oder wenigstens eindeutige Positionen bezeichnet hätten.

4. Vom Verfall der Sitten

Dabei ist der Uniform textintern der Ausstattungsverfall bereits eingeschrieben: Im Laufs des Stückes gerät sie vom Auszeichnungs- und Paradestück zum Possenkostüm - angedeutet bereits in jener Wirtshausschlägerei, in der ihr erster Träger von Schlettow - ohne Uniform - einen Schlag "mitten ins Gesicht" erdulden muss und darauf gezwungen ist, seinen Abschied einzureichen. Der "Schliff, der Schnick, der Benimm, die ganze bessere Haltung", die von Schlettow sich selbst noch quasi unter die Uniform schreibt, machen es anscheinend doch nicht allein. Oder, wie der Grenadier, der Gegner von Schlettows mehr als deutlich zu verstehen gibt: "Ohne Charge biste for mir 'n janz deemlicher Zivilist!!"

Was ist also aus der guten Haltung geworden? Der Offizier zeigt sie ebenso wie der Empfangschef eines Hotels (Hans Fallada wird in seinem späten Roman "Wolf unter Wölfen" (1938) einen seiner Offiziershelden während der Weimarer Zeit zum Empfangschef eines Hotels machen). Und beide sind Repräsentanten eines untergehenden Systems. Aber die vermeintlich gute Haltung hilft niemandem und zeichnet niemanden mehr aus.

Und so, wie es dem Offizierskörper geht, geschieht es auch in einem gleich mit der Uniform: Sie ist bereits mit dem Start der Handlung in seiner Sistierungsfunktion doppeldeutig bestimmt, als Versuch, die verfallende Ordnung der Zeichen neu zu behaupten, ist sie zugleich Siegel der Eindeutigkeit und Hinweis auf deren Verlust.

Die Uniform ist nach dem Krieg zum willfährigen Kleidungsstück verkommen. Es kleidet lange Jahre die Veteranen, die sonst nichts mehr haben. Oder "junge Mädchen", die "notdürftig umgearbeitete feldgraue Mäntel" tragen und die halblegalen Marodeure der Freikorps, die immer noch die einfachen Verhältnisse aus Kriegszeiten aufrecht erhalten wollen. Und am Ende der Republik umhüllt die Uniform die Schlägerhorden der neu erstandenen NSDAP.

Aber der Verfall der Sitten geht noch weiter, denn nicht der Offizier, nicht der Soldat stehen für das neues System - in der Terminologie der Zeit und eines ihrer schärfsten Beobachter ist das der Arbeiter. Nicht der Kaufmann, der Spekulant, der Ingenieur (die intellektuelle Variante des Arbeiters) oder das Tippfräulein, nein, der Arbeiter. Ernst Jünger, der Apologet einerseits des letzten Abenteuers Weltkrieg und der titanischen Zeitalter andererseits, hat diesen Begriff mit dieser Bedeutung popularisiert, weil er - vielleicht weil er dem Krieg nachtrauert - die Veränderung der zivilen Gesellschaft besonders sensibel wahrnimmt. Die Veränderung hin zu immer stärkerer Integration, die Nivellierung der Ausstattung, der Profile hin zum fachlich kompetenten, sachlich agierenden und seine Position erfüllenden Funktionär, zum Arbeiter. Wenn man so will eine abgesunkene soldatische Gestalt, mit Betonung auf ihre Funktion, freilich ohne Tilgung ihrer aggressiven Eigenschaften. Franz Biberkopf sieht das ganz genauso.

Die Freikorps-Soldaten haben diesen Zug verpasst. Sie sind bestrebt, das Kriegsszenario zu verlängern, und sie verpassen dabei vor allem einen Paradigmenwechsel, den nämlich, dass die Friedensgesellschaft nach 1918 den Kriegsbedingungen längst ähnlicher ist, als sie je für möglich gehalten hätten. Die Situation im Felde mochte unübersichtlich, undurchschaubar, von extremer Gefahr, voll todgesinnter Feinde und größter denkbarer Beanspruchung für den Soldaten gewesen sein, der Frieden war viel schlimmer. Nichts war in ihm so, weil es irgendjemand gewollt hatte. Weder sind die Verhältnisse klar, noch die Positionen eindeutig verteilt. Ganz im Gegenteil: Hier werden Positionen in Anspruch genommen, obwohl niemand daran Verdienst hat. Jede Situation muss immer von Grund auf definiert werden, nichts steht fest. Nicht einmal wer Freund und wer Feind ist.

Das Gelände ist unübersichtlicher, die Verhältnisse sind komplizierter, Freund und Feind nicht eindeutig definiert. Erinnern wir uns an Rittmeister von Prackwitz, den Hans Fallada in "Wolf unter Wölfen" "viel zu elegant", nach Berlin fahren lässt, damit er dort einen Tross polnischer Erntearbeiter anheuert. Wir treffen ihn auf der Straße an: "Er sieht geradeaus vor sich hin, auf einen imaginären Fleck, der in Augenhöhe fern von ihm die Straße hinunter liegt, um niemanden und nichts sehen zu müssen. Er möchte auch gerne mit seine Ohren weghorchen können, [...] er bemüht sich, wegzuhorchen von dem, was ihm Hohn und Neid und Gier nachrufen.

Plötzlich ist es ihm wie in den unseligen Novembertagen des Jahres 1918, als er mit zwanzig Kameraden [...] auch eine Berliner Straße lang marschierte, in der Reichstagsnähe - und plötzlich prasselte aus den Fenstern, von den Dächern, aus dunklen Torgängen eine wüste Schießerei auf den kleinen Zug herab, ein regelloses, wildes, feiges Geknalle. Auch damals waren sie so weiter marschiert, das Kinn vorgestoßen, den Mund fest geschlossen, mit den Augen einen imaginären Punkt am Ende der Straße fixierend, den sie wohl nie erreichen würden.

Und dem Rittmeister ist, als sei er in den fünf Wahnsinnsjahren seitdem eigentlich immer so weitermarschiert, einen imaginären Punkt fixierend, wachend wie schlafend - denn es gab in diesen Jahren keinen Schlaf ohne Traum. Immer eine trostlose Straße voller Feinde, Haß, Gemeinheit, Würdelosigkeit hinunter, und kam, wider alles Erwarten, doch die Ecke, so tat sich nur eine neue, ganz gleiche Straße auf, mit demselben Haß und derselben Gemeinheit."

Die soldatischen Tugenden spalteten sich, in jene, die in der neuen zivilen Gesellschaft verwendbar waren: die Flexibilität, die Anpassungsfähigkeit, die Gedankenlosigkeit, die Fähigkeit, sich in unübersichtlichem Gelände - auch im übertragenen Sinn - orientieren zu können, die Fähigkeit, die Aktionen des Gegenüber mitzudenken, Konkurrenzfähigkeit, strategisches und taktisches Denken. Und in jene, die in jedem Modernisierungsschub obsolet werden: Ehre, Standhaftigkeit, Mut, Rückgrat, Männlichkeit und dergleichen mehr. Schon im Krieg hat das eigentlich niemand brauchen können, was sogar beim einem einschlägigen Autor wie Hans Zöberlein durchscheint, seine feldgrauen Helden rutschen, tappen, schütteln sich vor Frost, werden von der gegnerischen Artillerie gehetzt und von den eigenen Leuten verheizt. Soldaten sind schon vor 1918 keine Helden mehr, keine Krieger - und es nützt überhaupt nichts, dass "Leutnant Jünger seinen Mantel auszieht", auch wenn er es "einige Male sehr energisch" ruft. Es dauert eben eine Weile, bis sie das auch wirklich gemerkt haben. Die "heroischen Optimisten des Maschinenzeitalters sind selten".

Den Paradigmenwechsel sehen wir vielleicht am deutlichsten bei den Jungen, die nicht "im Felde" waren und die nun auf dem Sprung stehen in die absurde militärische Welt von Uniform und Haltung. Sie haben noch ideale Vorstellungen von dem, was kommen wird. Aber der Eintritt in diese Welt wird ihnen nicht gelingen. Sie sind "schon zu spät auf die Welt gekommen", sie werden "nie zur Zeit kommen".

Diese Welt verliert ihre Achselklappen, Respekt und Ehrfurcht, ihre feste Rangordnung und damit ihre Regeln, die das Leben nicht nur einfach, sondern überhaupt möglich machen. Im symbolischen und zugleich sinnlosen Auflehnen gegen diese Entladung des Signums Uniform entwirft sich der junge, moderne Nationalist selbst: Es ist "die Unbeirrbarkeit einer Haltung", um die er "von nun an zu ringen" hat.

Das ist die Exposition von Ernst von Salomons Roman "Die Geächteten": Er, der junge Mann, der Offizier werden wollte, wie alle Männer in seiner Familie zuvor. Die Handlung, die er dafür aufzubringen imstande ist, sieht so aus:

1. Die Vorbereitung (Mutter ist die Beste, aber sie ist doch im Grunde genommen nur eine von ihnen):

"Als ich am Morgen in die Küche kam" - der Kadett wohnt noch zuhause - "sah ich, wie meine Mutter die weißen Achselklappen von meinem Mantel trennte. Ich konnte ihr nicht ins Gesicht sehen, ich trank die dünne braune Brühe und griff nach dem dunklen Brot, ich schnitt hastig zwei feuchte Scheiben und saß kauend und mit gesenkten Augen da."

2. Die Ausführung (Ein Mann, gerade ein kleiner, muss tun, was ein großer Mann vermeintlich tun muss, aber Mutter soll nichts merken):

"Dann nahm ich den Mantel, stieg in meine Kammer und nähte die Achselklappen wieder an. Ich ging leise, die Füße in den schweren, genagelten halbschäftigen Kadettenstiefeln vorsichtig hebend, die Stiege hinunter zum Vorplatz. Die Koppel schnallte ich über den Mantel, entgegen der Vorschrift, die den Kadetten das Unterschnallen gebot. Das Seitengewehr, lang, schmal, in eleganter Lederscheide, war blank und spitz, aber nicht geschliffen. Ich zog es heraus und beschaute es verlegen./ Schließlich ging ich auf die Straße."

Natürlich gerät der junge Kadett unter die revolutionären Haufen, die durch die Stadt ziehen, dünne, ausgemergelte Gestalten, "wie Ratten [...], die den Staub der Gosse auf ihren Rücken tragen, [...] trippelnd und grau mit kleinen, rotgeränderten Augen." Woraus ihn nur noch der blauuniformierte Husar retten kann und retten wird, der Zeuge seiner Heldentat ist.

Aber trotz solcher Rettung und trotz des symbolischen Widerstands ist auch dieser naive Neuling im Land der Moderne hoffnungslos verloren. Die Zeichen der schnellen neuen Welt, die ihn schließlich unter sich begraben oder ihn einverleiben wird, sind deutlich: "Autos" "rasten durch die Stadt, vollbesetzt mit roten Bewaffneten, und ich musterte sie genau und sah kräftige, entschlossene Gestalten gepackt vom Rausch der schnellen Fahrt, und überlegte mir, ob ihnen auch der Rausch eines tollen Widerstandes gegen den Einmarsch der Franzosen zuzutrauen sei." Die Antwort ist natürlich nein (sie wird ihm von den Matrosen selbst gegeben), aber dennoch spürt er eine "gefährliche, bezaubernde Energie", "einen heißen Willen". Sind diese also Verwandte im Geiste? "Stramme Burschen" - so heißt es in Horst Wessels Roman "Ein deutsches Schicksal" - sind sie immerhin auch. Nach 1930 wird man sich das zu nutzen wissen.

5. Der neue Mensch

"O Gott, wie sahen sie aus, wie sahen diese Männer aus! Was war das, was da heranmarschierte? Diese ausgemergelten, unbewegten Gesichter unter dem Stahlhelm, diese knochigen Glieder, diese zerfetzten, staubigen Uniformen! Schritt um Schritt marschierten sie, und um sie herum war gleichsam unendliche Leere. Ja, es war, als zögen sie einen Bannkreis um sich, einen magischen Zirkel, in dem gefährliche Gewalten, dem Auge des Ausgeschlossenen unsichtbar, geheimes Wesen trieben. Trugen sie noch, zu einem Knäuel quirlender Visionen geballt, die Wirre tosender Schlachten im Hirn, wie sie den Dreck und den Staub der zerschluchteten Felder noch in den Uniformen trugen? Dies war kaum zu ertragen. Sie marschierten ja, als seien sie Abgesandte des Todes, des Grauens, der tödlichsten, einsamsten eisigsten Kälte."

Für den jungen Kadetten bilden diese Soldaten die Gegenwelt, die Gegenmacht zu den marodierenden Matrosen. In viel größerem Maße jedoch stehen sie im Gegensatz zur bürgerlichen Gesellschaft, zu den "ältere[n] Männer[n] in schwarzem Rock und steifem Klappkragen". Sie sind Botschafter des Todes der bürgerlichen Gesellschaft, deren Ordnung sich selbst überholt hat. Sie stehen für eine Gesellschaft, in der nicht Ruhe und Ordnung, sondern elementare Gewalten wirksam sind. Der Krieg ist nicht Rückfall in die Barbarei, nicht Stahlbad: Es hat sich, so spricht der Prophet des "Arbeiters" Ernst Jünger 1932, "ein neuer und noch ungebändigter Zufluß elementarer Kräfte unserer Welt bemächtigt", in der "eine neue Vermählung des Lebens mit der Gefahr erzeugt worden ist". "In den modernen, mit den letzten technischen Mitteln gerüsteten Heeren ficht nicht mehr ein ständisches Kriegertum, sondern diese Heere sind der kriegerische Ausdruck, den die Gestalt des Arbeiters sich verleiht." heißt es weiter bei Jünger, deren Triebkraft ist die Technik - losgelöst von Politik und Wirtschaft. "Welch eine Erlösung war die Maschine", (Heinrich Lersch) sagt der Arbeiter, der es wissen muss, denn er steht an der Maschine und weiß, welche Mühe es macht, wenn er sie nicht zur Verfügung hat und tun muss, als sei er sie selbst. Deren Produkt, deren Gestalt ist "im unbesiegten Soldaten des großen Krieges" zu finden, "der in seinen entscheidenden Augenblicken, in denen um das neue Gesicht der Erde gerungen wurde, gleichermaßen ein Wesen der Urwelt und als Träger eines kalten, grausamen Bewußtseins zu begreifen ist. Hier schneiden sich die Linien der Leidenschaft und der Mathematik."

Die Gesichter der Männer - der sichtbare Ausweis ihrer Wesenszustände - sind danach so Jünger in "Arbeiter": "Es hat in der Skala seiner Ausführungen [...] an Mannigfaltigkeit und damit an Individualität verloren, während es an Schärfe und Bestimmtheit der Einzelausprägung gewonnen hat. Es ist metallischer geworden, auf seiner Oberfläche gleichsam galvanisiert, der Knochenbau tritt deutlich hervor, die Züge sind ausgespart und angespannt. Der Blick ist ruhig und fixiert, geschult an der Betrachtung von Gegenständen, die in Zuständen hoher Geschwindigkeit zu erfassen sind."

Selbstverständlich fürchtet sich der kleine Offizier in spe vor den Kriegsheimkehrern und ist zugleich fasziniert von ihnen. Denn sie zeigen sich nicht nur als Wesen einer neuen Dimension, sie zeigen auch, dass die Zugehörigkeit zu diesem neuen Menschenschlag ungeheuere Konsequenzen hat: "Das tiefste Glück des Menschen besteht darin, daß er geopfert wird, und die höchste Befehlskunst darin, Ziele zu zeigen, die des Opfers würdig sind." Zu etwas zu gehören, das größer ist als man selbst, fordert das Leben den Menschen ab. Die neue Gesellschaft frisst ihre Kinder - aber wenn, dann stirbt nur der Einzelne, und auf den kommt es nicht an.

6. Was sind das für Menschen?

Wechseln wir nochmals die Szenerie und reden von einer anderen Ankunft: "Trenne dich von deinen Kameraden auf dem Bahnhof / Gehe am Morgen in die Stadt mit zugeknöpfter Jacke / Suche dir Quartier und wenn dein Kamerad anklopft: / Öffne, o öffne die Tür nicht / Sondern / Verwisch die Spuren!", so Bertolt Brecht in seinem "Lesebuch für Städtebewohner".

Ein Mann - immerhin das ist klar - kommt in die Stadt, er trennt sich von seinen Reise- oder Fahrtgenossen, und mit diesem Moment ist er völlig auf sich allein gestellt. Er verleugnet Herkunft, Freunde, Familie, irgendwelche Verpflichtungen, er denkt nicht an die Zukunft, er lebt für den Augenblick, nicht einmal sein eigenes Handeln verpflichtet ihn, seine Gedanken nicht, seine Unterschrift nicht, er ist nicht haftbar, nach seinem Tod soll nichts mehr an ihn erinnern. Es soll sein, als ob er nicht gewesen wäre. Das Gedicht präsentiert ein System von Trennungen: von der geographischen und sozialen Herkunft (Bahnhof, Kameraden sozialer Kontext gleiche Ebene), Eltern (sozialer Konnex diachronisch), es spricht von der Flüchtigkeit der sozialen Orte (Stühle besetzen, Fleisch essen, aber wieder gehen), der sozialen Beziehungen (Wiedererkennbarkeit des Bildes, Unterschrift) und der eigenen Existenz (Grab), Vergangenheit und Zukunft verschwinden und damit - beinahe - das Subjekt selbst, das zur kleinst möglichen Größe schwindet. Wenig zeichnet ihn noch aus: zum Beispiel, dass er erwachsen ist, dass er ein Mann ist, dass er einen Hut trägt. Für eine Psychologie ist das arg wenig Material. Für einen Steckbrief reichen solche Angaben vielleicht schon aus.

Dieses Gedicht gehört zu einer Sammlung, die Bertolt Brecht 1930 in den Versuchen bei Kiepenheuer veröffentlichte, "Aus dem Lesebuch für Städtebewohner". Zehn Gedichte, die meisten aus den Jahren 1926 bis 1928, hatte Brecht im "Lesebuch" zu einem Ensemble versammelt, das von gnadenloser Härte scheint und einen neuen, einen sehr modernen Menschentypus präsentiert. "Moderne Barbaren" hat Walter Benjamin - zweifelsohne in der Tradition Friedrich Nietzsches und Oswald Spenglers zugleich stehend, diesen geschichts-, zukunfts- und eigenschaftslosen Menschenschlag genannt, der symptomatisch für die neue Zeit sei.

Egal, welches soziale Feld die folgenden Gedichte behandeln, Brecht räumt sie von allen Selbstverständlichkeiten, von allen überkommenen Normen und Strukturen frei. Übrig bleiben extreme Gewaltverhältnisse, in denen die Einzelnen unterzugehen drohen, da es ihnen an Platz und Ressourcen fehlt: "Und nicht schlecht ist die Welt / Sondern / Voll", heißt es im zweiten Gedicht. Um in solchen Verhältnissen überleben zu können, bedarf es völlig neuer Fähigkeiten, die den Einzelnen auf sich selbst verweisen, und die optimale Nutzung seiner Ressourcen, der konkreten Möglichkeiten. Diese Menschen müssen "frisch [...] bleiben und hart". Sie sind der "harte Mörtel, aus dem / Die Städte gebaut sind."

Walter Benjamin hat diese Barbaren, die das Bild unserer heutigen asozialen Horden so überraschend trifft, noch in die von der guten und der schlechten Art unterscheiden wollen. Den neuen, von allen Traditionen entpflichteten Menschen hat er nicht von vorneherein ablehnen wollen, sondern auch sein Potenzial gesehen. Das Potenzial für einen völligen Neuanfang.

Der Raum, in dem sich die Figuren bewegen, ist leergeräumt von sämtlichen sozialen Geflechten. "Die Städte dürfen sich ändern / Aber du darfst dich nicht ändern. / Den Steinen wollen wir zureden / Aber dich wollen wir töten / Du mußt nicht leben. / Was immer wir an Lügen glauben müssen: / Du darfst nicht gewesen sein. // (So sprechen wir mit unsern Vätern.)"

Natürlich, es gibt noch Fleisch, das gegessen werden kann, es gibt noch Häuser, in die gegangen werden kann, es gibt noch Telefone, es gibt Spiegel, in die geschaut werden kann, Hüte, die ins Genick geschoben werden, Straßen, Gräber und Geld vor allem: "Geld müssen Sie eben haben / Ich frage Sie nicht, wo sie es hernehmen / Aber ohne Geld brauchen Sie erst gar nicht abzufahren."

Niemand fragt danach, wieso eigentlich. In dieser Szenerie bewegen sich die Menschen vereinzelt und auf sich selbst gestellt, unbehauste und zeitweilige Gäste. Sie sind anonyme Monaden, isolierte Elemente, von fortgeschrittener Grausamkeit gegen sich und andere: "Wenn du dich an uns halten willst, werden wir weggehen / Wenn deine Frau weint, werden wir unsre Hüte ins Gesicht ziehen / Aber wenn sie dich holen, werden wir auf dich deuten / Und werden sagen: das muß er sein."

Sie sind mit dem Geringsten zufrieden, eine "Kammer", "Platz für deine Sachen", "eine Stube [...] für uns alle / Und für dich ein Zimmer mit einem Bett". Mehr können sie nicht erwarten, denn sie sind nicht von Bedeutung: "Ich bin ein Dreck. Von mir / Kann ich nichts verlangen, als / Schwäche, Verrat und Verkommenheit". Sie sind immer schon Ausgeschlossene, und sie sind es, die permanent ausschließen aus dem bestehenden fragilen Konnex Gesellschaft. "Nichts", so assistiert der Moderne von Jüngers Seite, "ist beständig als die Veränderung, und an dieser Tatsache zerschellt jedes Bestreben, das auf Besitz, Zufriedenheit oder Sicherheit gerichtet ist."

Die Gnadenlosigkeit der Verse ist - so kommentiert das zehnte Gedicht der Sammlung - der Wirklichkeit selbst verpflichtet. Nicht der Sprecher ist hart, sondern eine Realität, die er nur referiert - die Gedichte des Lesebuchs sind als Lehren, als Erzählungen, als Reflexionen angelegt und nicht als reale Aktion.

Brecht schreibt: "Wenn ich mit dir rede / Kalt und allgemein / Mit den trockensten Wörtern / Ohne dich anzublicken / (Ich erkenne dich scheinbar nicht / In deiner besonderen Artung und Schwierigkeit) // So rede ich doch nur / Wie die Wirklichkeit selber / (Die nüchterne, durch deine besondere Artung unbestechliche / Deiner Schwierigkeit überdrüssige ) / Die du mir nicht zu erkennen scheinst."

Und damit ist der Verfall der äußeren Welt respektive ihrer geordnet scheinenden Symbolordnung abgeschlossen. Es bleiben nur Reste, und auch die werden nur hingenommen und nötigenfalls aufgegeben, denn die - und das ist wohl der zentrale Widerspruch der modernen, komplexen und dynamischen Gesellschaft - Individuen sind in erster Linie mit dem Überleben beschäftigt, nicht mit einem Leben. Es sind nicht einmal mehr Orientierungsversuche, sondern schlichte Überlebensstrategien, die hier greifen. Das Leben in der Moderne ist - in seiner Gesamtheit und aus seinem Extrem her gedacht - ein Leben in vermintem Gelände. Die komplexe und mächtige kapitalistische Industriegesellschaft erzeugt, denkwürdigerweise, depravierte Nomaden, einen sozialen Ausschuss, der nur eine Aufgabe hat, gegen den Untergang zu kämpfen, und ein Ziel, dabei erfolgreich zu sein. Und auch das ist eine Erzählung.