Zurück in die Dörfer

Christian Krachts Roman "Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten" ist alternative Geschichtsschreibung

Von Till HuberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Till Huber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Christian Krachts Roman "Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten" begegnet dem Leser der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" dieser Tage in Form eines Vorabdrucks. Anno 2008 ist Kracht zum kanonisierten Autor geworden, und Schüler können in der Reihe 'Königs Erläuterungen' eine Lernhilfe zu "Faserland" (1995) erwerben. Krachts Debüt hat inzwischen sogar Einzug in den Lehrplan gefunden.

Und doch lässt sich Krachts etwas überspitzte Bemerkung, der Literaturbetrieb wisse gar nicht um seine Existenz, nicht als Unsinn abstempeln. Wie kommt es, dass seine Texte in der Literaturwissenschaft so produktiv diskutiert werden, sie im Feuilleton aber immer wieder Unverständnis und Ablehnung hervorrufen, bisweilen grundlegend missverstanden werden? Das Fremdeln mit Kracht und seinem Werk beruht wohl auf dessen Rätselhaftigkeit - ein Attribut, auf das man unweigerlich auch in Besprechungen des neuen Romans stößt.

Die Vorgänger "Faserland" und "1979" (2001), besonders aber literarische Experimente wie das 2007 zusammen mit Ingo Niermann veröffentlichte "Metan" nährten diesen Ruf. Dabei wurde von Seiten des Feuilletons trotz quantitativ hoher Aufmerksamkeit selten versucht, sich dem Mysterium zu nähern, möglicherweise sogar das Rätsel um Kracht und seine Texte zu lösen. So bleibt er ein Autor, dessen literarische Projekte sich dem Rezensenten nicht gleich erschließen, und der deshalb tendenziell unterschätz wird. Dabei ließe sich etwa das Merkwürdige an "Metan" durchaus benennen, nämlich als Skizze für das Entwerfen neuer Weltordnungen. Alternative Interpretation von Geschichte wird hier zur alternativen Historiografie. Mit "Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten" liegt nun ein weiteres, äußerst fantasievolles Exemplar dieses bisher wenig beachteten Genres vor.

Beim neuen Roman, von dem der Autor sagt, er habe vier Jahre daran gearbeitet und im Entstehungsprozess viel Jacques Lacan gelesen, handelt es sich, trotz des konstruierten Settings, um eine geradlinig und realistisch erzählte Geschichte. Sie spielt in einer alternativen Gegenwart, in der die Schweiz das Zentrum einer Sowjetrepublik (der SSR) bildet und sich seit hundert Jahren im Krieg gegen ein faschistisches deutsch-englisches Bündnis befindet. Die Schriftkultur wurde in der Schweiz abgeschafft, es herrscht Analphabetentum und der Krieg hat die Sprache als Sinnmodell ersetzt. Krachts Ich-Erzähler ist ein Schwarzafrikaner, der zum Schweizer Militärkommissär ausgebildet wurde - ganz Afrika ist inzwischen von der Schweizerischen Sowjetrepublik kolonialisiert. Er erhält den diffusen Auftrag, den rätselhaften Oberst Brazhinsky ausfindig zu machen, einen Mann mit "projizierender Aura" und "magnetischer Persönlichkeit", von dem es heißt, er sei eine Gefahr oder eine Hoffnung für die SSR und habe den erleuchteten Zustand "Satori" erreicht. Brazhinskys Genie lernen wir in einer nur von ihm praktizierten 'Rauchsprache' kennen, wobei es sich um eine Art telepathische Sprachutopie handelt, die man vage als Einheit von Zeichen und Bezeichnetem umschreiben kann. Dieses unentfremdete Sprechen funktioniert im Roman dann so: "Brazhinsky öffnete den Mund, und ich erhielt einen gewaltigen Stoss versetzt, sein Willen drückte mir die Waffe aus der Hand". Kracht erfindet mit Brazhinsky eine Figur, an der sich, ganz in seinem Sinne, Kataloge der Seltsamkeit durchexerzieren lassen. Brazhinsky handle, so heißt es, mit "Morphium, Glaswaren, Dosenfleisch, Hundefellen, kleinen Sonden".

Außer solchen Seltsamkeiten tauchen auch ausgeprägt surreale Elemente auf. Das dominante Stilmittel ist die Verfremdung von Realität - und von Genres. Auf der Reise des Protagonisten von Neu-Bern zum Schreckhorn (zu Pferd) finden sich Western- und Science-Fiction-Motive, womit sich Kracht scheinbar wortgetreu an Leslie Fiedlers Richtlinien für eine postmoderne Literatur hält. Diese soll sich an den Genres Science Fiction, Western und Pornografie orientieren. Und tatsächlich gibt es - eine Premiere bei Kracht - auch eine Sexszene, an der sein Erzähler aktiv teilnimmt. Seine Sexpartnerin Favre ist wohl eine Androidin, sie hat eine Steckdose unter dem Arm, riecht im Nacken nach Metall und ihr Geschlecht wird durch das Vorhandensein eines Adamsapfels verfremdet. Wem bei so viel Roboterliebe Intertexte wie Philip K. Dicks "Do Androids Dream of Electric Sheep" (verfilmt bekannt als "Blade Runner") einfallen, für den ist es nicht weit zu Dicks "The Man in the High Castle" - einer alternate history, in der die Nazis den Zweiten Weltkrieg gewonnen haben. Innerhalb dieser Geschichte kursiert ein verbotenes Buch, das eine Situation beschreibt, in der die Alliierten den Krieg gewonnen haben. Der Text begegnet auch dem Ich-Erzähler von "Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten", doch der Titel "sagt ihm nichts". Krachts Komplexität im Umgang mit Zitaten und Anspielungen sorgt für zweierlei: sie wird einerseits zu gesteigerten Mystifizierungen beitragen und andererseits die Literaturwissenschaft auf Trab halten, gerade auch bei der Interpretation seines neuesten Werkes.

Zitiert werden vorzugsweise auch Krachts eigene Romane. "Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten" ist sein erster Roman ohne exzessive Nennung von Markennamen, doch schon auf den ersten Seiten begegnen uns die Filzlappen, die der Ich-Erzähler in "1979" als un-gelabelte Entsprechung der westlichen Berluti-Schuhe in Tibet kennen lernt. Auch die Barbourjacke aus "Faserland" taucht 'verfremdet' als tatsächliche Beschreibung einer Jacke wieder auf. Ein Schweizer Leutnant, "offensichtlich homosexuell", trägt die "gewachste grüne Jacke mit ansprechend kariertem Innenfutter".

Bilden "Faserland", "1979" und "Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten" eine Trilogie, oder, wie Kracht vorschlägt, ein "Triptychon"? Auch wenn der Trilogie-Gedanke mit diesem Begriff und dem Wiederauftauchen von Barbourjacke und Filzlappen eher als Witz im Raum steht, lassen sich in den drei Romanen thematische Konstanten ausmachen. Eine Gemeinsamkeit besteht darin, dass die Beobachtung der Oberfläche, der auch im neuen Roman viel Aufmerksamkeit zuteil wird, in ein Sinnvakuum führt. Krachts Ich-Erzähler teilen die Sehnsucht nach einem unentfremdeten Sein und eine metaphysische Einsamkeit. Im neuen Roman findet der Erzähler im Réduit ein Sinnvakuum, wo keines vorhanden sein sollte. Die riesige Schweizer Bergfestung stellt die Kommandozentrale der SSR dar, in der in Wirklichkeit Anarchie und "eine fürchterliche und allumfassende Dekadenz des Geistes" herrschen. Im Zuge der Bekanntschaft mit Brazhinsky, der sich hierhin zurückgezogen hat, erfährt Krachts Held: "Das Revolutionskomittee des Réduits gibt es nicht. Der Sowjet weiss nicht, was wir hier oben tun. Und es interessiert ihn auch nicht".

War der Ich-Erzähler bislang parteitreu und moralisch, so verabschiedet er sich nun von der Ideologie, lässt los - aber anstatt wie in "Faserland" und "1979" in den Selbstmord oder in ein Arbeitslager zu gehen, lernt er eine Idylle des Friedens kennen und tritt, zusätzlich euphorisiert durch das Einatmen eines halluzinogenen Gases, die Heimreise aus der besiegten Schweiz nach Afrika an. Hier endet der Roman in einem kitschigen und überdrehten Zurück zur Natur ("Ein Delphinschwarm begleitete unser Schiff"), die Kolonialisierung wird rückgängig gemacht und die Menschen kehren zurück in die Dörfer. Auch das vermeintliche Kernthema der utopischen Rauchsprache verfliegt - der Ich-Erzähler braucht sie nicht mehr. Die Anklänge eines happy ends scheinen vom Motiv der Auflösung auszugehen, einer Befreiung von Sprache, Ideologie, Zivilisation, Geschichte und Zeit.

Krachts Stärke liegt im Darstellen einer postmodernen Verfassung, wobei er nie angestrengt wirkt, sondern immer gut lesbar bleibt. Ganz nebenbei wird Kracht seinem erklärten Anspruch gerecht, 'light entertainment' produzieren zu wollen. Die Verfremdung uns bekannter Dinge macht seinen Roman zu einem großen Spaß. Kracht schafft es von Buch zu Buch, seltsame und damit ästhetisch innovative Fiktionen hervorzubringen, sei es im Blick auf Deutschland, im Blick auf die Fremde (Iran, Tibet, China) oder im Kreieren neuer Variationen der bestehenden Wirklichkeit. "Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten" ist sein bisher kunstvollster Roman, sowohl sprachlich als auch im Erschaffen nie da gewesener Szenarien.


Titelbild

Christian Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008.
160 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783462040418

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