Nicht ganz bis zu den Grenzen des Möglichen

Ann Cotten hat Prolegomena zu einer Theorie der Listen verfasst

Von Sigrid GaisreiterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sigrid Gaisreiter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer im Alltag den Überblick zu verlieren droht, muss sich an Listen halten. In ihnen findet alles Mögliche seinen Platz. Diese Form, in der nicht erzählt, sondern aufgezählt wird, begeisterte auch manchen Autor. Und so entstand in den letzten Jahren daraus ein Listenwurm: Er reichte von Dr. Ankowitschs Handreichungen bis zu David Wallechinskys "Großes Buch der Listen". Allein eine Liste dieser Listen wäre lang. Unmöglich jedoch ist es, eine Liste von Listen zu erstellen, zumal auch in Kunst und Literatur gern aufgelistet wird.

In der Bibel etwa finden sich, vornehmlich im Alten Testament, viele genealogische Listen. Sodann setzt sich das fort durch Zeiten und Räume in den Gesprächen des Konfuzius, in Homers "Ilias" oder Gustav Flauberts "Bouvard und Pécuchet".

Einer der ersten, der sich theoretisch mit dieser Form beschäftigte, war François Jullien. An vielen Beispielen aus der fernöstlichen Literatur zeigt er, dass die "Kunst, Listen zu erstellen" kulturell "neutral" sei. Dieser Vorliebe für "lexikalische Wucherungen" wie Jullien sie nennt, scheinen auch Literaten zu frönen, die sich zur Konkreten Poesie zählen. Die Schriftstellerin Ann Cotten, unlängst erst mit Fremdwörterbuchsonetten aufgefallen, widmet sich in ihrer Studie mit dem Titel "Nach der Welt" abermals dieser exotischen Literaturform. Induktiv und anhand vieler Beispiele der Konkreten Poesie reflektiert sie, so der Literaturwissenschaftler Wendelin Schmidt-Dengler im Nachwort, eine "poetologische Grundsatzfrage" ohne eine Theorie anzustreben. Cotten bekennt sich zu einer "wabernden Definition", das heißt zu keiner.

Was eine Liste ist oder sein könnte, bleibt im Durchgang verschiedener Formen von Aufzählungen daher beabsichtigt offen. "Lose Listenartigkeit" nennt Cotten dies und nimmt sich auf ihrer Passage zunächst die Optik von Texten vor, von "Gebilden, die aussehen wie Listen" und "Lauftexten[n] im Block- oder Flattersatz, die eine gleichförmige Interpunktion in regelmäßigen Abständen aufweisen." Als illustrierende Beispiele wählte sie je einen Text von Liesl Ujvary "Sicher & Gut" und von Reinhard Priessnitz "Vierundvierzig Gedichte" aus. Anschaulich werden Cottens Ausführungen vor allem durch den Abdruck der besprochenen Texte wie eine Liste in Form eines O in Franz Mons Lesebuch, um die Behauptung, der Großteil der Konkreten Poesie befasse sich mit der Form der Liste, zu demonstrieren.

Wie bei der SMS, der Email, dem Rezept, der Enzyklopädie oder dem Wörterbuch, bestechen auch Listen, laut Ann Cotten, durch ihren "praktischen Nutzen". Dieser aber steht bei literarischen Listen nicht im Vordergrund, da sich diese Funktion durch die literarische Montage verschiebt, weil der Autor von außen auf "das Funktionieren selbst" sieht. Der Text kann "als Liste verfasst" oder eine Liste kann in den literarischen Text eingefügt werden. Weit über den Rahmen hinaus, der durch die Protagonisten der Konkreten Poesie beziehungsweise der Wiener Gruppe abgesteckt wird, betrachtet Cotten gegen Ende ihrer Ausführungen Autoren, die listenreich mit Sprache experimentieren: Peter Waterhouse, Emmett Williams, Robert Filliou oder Autoren der Gruppe Oulipo.

Trotz fehlender Definition und Theorie greift Cotten tief in den literaturwissenschaftlichen Werkzeugkasten, um die vielen Formen der Liste näher zu beleuchten. Als interne Liste gibt es am Ende des Buches ein Glossar, das eher zu der Rubrik Listenwitz gehört. Die dort angebotene Definition ist keine und der sich daran anschließende Kommentar fabuliert vor sich hin "irgendwas mit Peter, Franz und Helmut".

Eine letzte Liste, die Bibliografie, beschließt den Band. Angeführt wird darin auch ein schöner Vorgängerband von Thomas Ballhausen, "Listenweise", zur "Poetik und Poesie der Liste" - leider aber nicht die große Untersuchung von François Jullien, dessen Motto auch über Cottens Experiment stehen könnte: "Es geht darum, das intellektuelle Abenteuer einzugehen, höchst unterschiedliche Formen der Rationalität - bis zu den Grenzen des Möglichen - zu erkunden."


Titelbild

Ann Cotten: Nach der Welt. Die Listen der Konkreten Poesie und ihre Folgen.
Klever Verlag, Wien 2008.
220 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783902665010

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