Das Kriegsbild des ,einfachen' Soldaten

Erich Maria Remarques "Im Westen nichts Neues" und die westliche kulturelle Tradition

Von Thomas F. SchneiderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas F. Schneider

Der Erste Weltkrieg gilt in der westlichen kulturellen Tradition als der erste "moderne" Krieg schlechthin, der die Jahrhunderte alte abendländische Tradition des selbst bestimmten, heroischen Kriegers als Individuum durch die Vorstellung eines vom zufälligen Tod bedrohten Elements eines industrialisierten Massenkrieges ablöste. "Im Westen nichts Neues" von Erich Maria Remarque gilt seit seinem Zeitungs-Vorabdruck 1928 und der Publikation von Übersetzungen in mindestens 55 Sprachen als adäquate literarische Abbildung dieses Krieges, die sich einer politischen Einordnung enthält und das Kriegsgeschehen aus der Perspektive des ,einfachen' Soldaten, des "Muskoten" schildert.

Remarques Kriegsbild sprang bereits 1929 über die ehemaligen Fronten: Englische, amerikanische, französische und russische Leser identifizierten sich ausgerechnet mit dem Schicksal einer Handvoll deutscher Soldaten und machten deren fiktionale Erfahrungen zu den ihren. "Im Westen nichts Neues" wurde universell und der Protagonist Paul Bäumer zum "Simplicissimus des 20. Jahrhunderts".

Worin genau dieses internationale Identifikationspotential des Textes begründet lag, lässt sich bis in die Gegenwart hinein nicht klären und wird wohl auch ungeklärt bleiben, da das kriegs-kritische Image des Textes immer weiter fortgeschrieben wird - bis hin zu unkommentierten Abdrucken von Textpassagen anlässlich aktueller Kriege wie zuletzt während des letzten Irak-Kriegs. Die Zeitgenossen sahen 1929 in "Im Westen nichts Neues" zumindest eine Ausdrucksform als Sublimat ihrer eigenen Unfähigkeit, die individuellen Kriegserfahrungen beiderseits der Fronten des Ersten Weltkrieges zu formulieren.

Remarques Text - obwohl vom Autor ursprünglich als ein Kommentar zur Nachkriegsgesellschaft intendiert - bot und bietet in dieser Hinsicht zahlreiche Voraussetzungen, die eine solche Lesart ermöglichen: Im Gegensatz zu anderen Texten der Kriegsliteratur zum Ersten Weltkrieg ist die Handlung zwar eindeutig an der Westfront angesiedelt und bei genauer Lektüre auch zumindest partiell auf die Flandernfront einzugrenzen, der Text enthält jedoch keine konkreten Orts- oder Zeitangaben und beschreibt keine identifizierbaren Schlachten oder Einheiten. Das, was passiert, hätte überall (an der Westfront) geschehen können.

Der Protagonist des Textes ist nicht eine einzelne Figur, sondern eine Gruppe. Zwar werden die Ereignisse durch die Perspektive des Erzählers Paul Bäumer gefiltert, der aber das Wort "wir" mehr als das Wort "ich" benutzt. Die Gruppe ist sozial repräsentativ zusammengesetzt: Vier von der Schulbank in den Krieg gezogene Freiwillige ohne Lebensperspektive und vier weniger gebildete ,einfache Leute' (Bauern, Handwerker und Arbeiter), die bereits ihren Platz in der Gesellschaft durch Familie und Beruf gefunden haben, für die der Krieg demnach zunächst ,lediglich' eine Unterbrechung ihres zivilen Lebens darstellt, den jedoch nur zwei überleben werden. Die Gruppe wird als Folge der Kriegserlebnisse zum Familienersatz, und ihr sozialer Zusammenhalt als "Kameradschaft" deklariert, die das "wertvollste" sei, was der Krieg hervorgebracht habe. Die früheren sozialen Bindungen und kulturellen Werte sind zumindest für die Schüler durch den Krieg obsolet geworden - sie sind, wie das Motto des Textes präzise beschreibt, die "Generation, die vom Kriege zerstört wurde - auch wenn sie seinen Granaten entkam".

Die Gruppe durchläuft im Fortgang des Textes alle denkbaren Standardsituationen des Kriegs: Die Kriegsbegeisterung, den zunächst als Schikane erscheinenden Drill der militärischen Ausbildung, den ersten Fronteinsatz, den Verlust von Freunden, die Entfremdung von der Heimat, das dem Zufall Ausgeliefert-sein im Trommelfeuer, die Degradierung zum Material, die Maschine Krieg, die Differenz zwischen Front und Etappe, erste sexuelle Abenteuer, das Lazarett, den Verlust von Körperteilen und damit auch die physische Entfremdung, das Begreifen der Leiden des ,Feindes' und schließlich die Erkenntnis, dass die Kriegserlebnisse zu einer fundamentalen Veränderung des Lebens führen und sich nicht einfach aus dem Gedächtnis werden streichen lassen.

Remarque wurde bis zu seinem Tod nicht müde zu betonen, dass er ,lediglich' die allgemein-menschliche Perspektive und die humanen Folgen des Krieges habe schildern wollen - und dies war ihm mit seiner perfekt konstruierten, alternierenden Abfolge von grausamen, abschreckenden, emotional aufwühlenden mit retardierenden und reflexiven aber auch humoresken Standardsituationen des ,Kriegs' gelungen. Dabei hatte er sich jeglicher politischer Positionierung enthalten und die Ursachen des Kriegsausbruches mit den politischen und ökonomischen Interessen - mit Ausnahme von Allgemeinplätzen, die bewusst aus der Perspektive der politisch ungebildeten "Muskoten" herrührten - nicht thematisiert.

Der Krieg war zwar kein von einer unbekannten Macht provoziertes und unbeeinflussbares ,Schicksal' bei Remarque, sondern von Menschen ,gemacht'. Aber letztlich änderte dies an den Einflussmöglichkeiten des ›einfachen‹ Soldaten auf den Fortgang des Kriegs und auf ihre Rolle und Handlungsspielräume nichts: Sie blieben Schlachtvieh, und ihr Tod war den Betreibern des Kriegs nicht einmal eine Notiz wert: "Im Westen nichts Neues".

Das Bild des ,modernen' Krieges in Remarques Text ist daher letztlich ein phlegmatisches: Der Krieg ist ein vom Einzelnen nicht zu überschauendes und nicht von ihm nicht zu beeinflussendes Ereignis, in dem er vielmehr seine Kultur, seine Werte, seine Lebensperspektive und schließlich seine physische Existenz verliert. Die Soldaten liegen sich auf kurzem Abstand unter katastrophalen Lebensbedingungen gegenüber, führen Angriffe durch oder sehen sich mit Angriffen konfrontiert, deren militärische Ziele sie nicht durchschauen und deren Erfolge oder Misserfolge sie nicht ermessen können, da ihre Kriterien für ,Erfolg' und ,Misserfolg' einzig (und zu Recht) am individuellen Überleben orientiert sind. Die im traditionellen Kriegsbild gegebene Übereinstimmung zwischen individuellem Einsatz und übergeordneter militärischer Zielsetzung ist unwiderruflich zerstört. Diese Erkenntnis gilt für beide Seiten der Front, was zu einer Verschiebung des Feindbildes von ,gegenüber' nach ,oben' in der militärischen Hierarchie führt, ohne dass dieses Feindbild damit qualitativ verändert würde: Es bleibt in dem Roman nebulös und von Simplifizierungen und Vorurteilen geprägt. Eine explizite Aufforderung zum Handeln oder eine wenn auch utopische Perspektive für die Nachkriegszeit enthält der Text nicht.

Es ist durchaus möglich, dass der Autor Remarque im Sinne seiner Nachkriegsorientierung (und nicht als quasi historischer Berichterstatter über den Ersten Weltkrieg) seinen Text bewusst derart ,offen' gestaltete, um es dem Leser zu überlassen, die notwendigen Überlegungen und Handlungen zur Verhinderung einer Wiederholung eines Kriegs zu unternehmen. Letztlich spricht die Konstruktion der Erzählung - ein menschlich unerfahrener, nicht politisch denkender Schüler schildert den Krieg aus seiner Perspektive - dafür: Die Unerfahrenheit und Sentimentalität Paul Bäumers sollten wohl gerade an das Bewusstsein des Lesers appellieren. Und Remarque wählte 25 Jahre später, im Jahr 1954, ebenfalls die Frage nach der eigenen individuellen Schuld am Kriegsgeschehen und die Verantwortung des einzelnen Soldaten zum Thema seines Romans über den Zweiten Weltkrieg, "Zeit zu leben und Zeit zu sterben".

"Im Westen nichts Neues" wurde jedoch von der zeitgenössischen demokratischen Kritik als adäquate Schilderung, als ,wahres' Bild des Kriegs gegen den Widerstand der nationalsozialistischen, nationalistischen und kommunistischen Kritik vereinnahmt, wobei Paul Bäumers Aussagen mit den Intentionen Remarques gleichgesetzt und damit die Ebene der appellativen Reflexion ausgeblendet wurde - und diese Lesart hat sich national und international durchgesetzt.

Das Bild des Krieges in "Im Westen nichts Neues" ist daher in der westlichen kulturellen Tradition nicht das Kriegsbild des ,einfachen' Soldaten Paul Bäumer, sondern das des Autors Remarque, der für eine ganze Generation - mehr noch - für alle Kriegsteilnehmer spricht, in jedem Krieg.

Über diese allgemeine Kriegskritik hinaus bietet der Roman heute wie 1929 keine Möglichkeit, jenen Versuchen argumentativ zu begegnen, bewaffneten Konflikten einen ideologisch aufgeladenen, mit politischen oder ökonomischen Zielsetzungen verbundenen ,Sinn' zu verleihen. Was er dagegen tatsächlich bietet, ist ein Gegenbild zum klassischen Dulce et decorum est pro patria mori (Es ist schön und ehrenvoll für das Vaterland zu sterben) des vormodernen Krieges, das durch den Text und durch die amerikanische Verfilmung von Lewis Milestone 1930 eine grundlegende Desillusionierung nicht nur in Bezug auf den Ersten Weltkrieg, sondern auf Krieg allgemein erfahren hat.

Dass dieses Gegenbild mittlerweile eine erneute Revision hin zu einem ideologischen Verständnis des Kriegs als ,Arbeit' oder ,Job' erfahren hat, der erledigt werden müsse, erneuert dagegen das grundlegende und kritisch instrumentalisierbare Potential von Remarques bedeutendem Text auch für die Gegenwart.