Schlachthausliteratur

Claude Haas interpretiert Thomas Bernhards Prosa als "Arbeit am Abscheu"

Von Bernhard JudexRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Judex

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Leserinnen und Leser, die mit Bernhards Werk vertraut sind, kennen die zahlreichen Passagen seiner Prosa, in denen es ekelerregend, grauenvoll und abstoßend zugeht. "Die einzigen Schriften sind Schlachthausschriften! Die einzige Wahrheit ist Schlachthauswahrheit! [...] Das Schlachthaus ermöglicht eine radikale Philosophie der Gründlichkeit." So äußert sich schon der Maler Strauch in Bernhards Romandebüt "Frost" (1963) über einen zentralen Motivkomplex in einem Werk, das sich auf beinahe einzigartige Weise mit der Faszination des Abscheulichen auseinandersetzt und das dabei fast an George Batailles "Das obszöne Werk" denken lässt. Bernhard greift zu einer radikalen Bildsprache, in der Erfahrungen des Grauens vergegenwärtigt werden. Angeregt wird er dazu nicht nur durch die eigentümliche Faszination des Schrecklichen, sondern auch durch reale geschichtliche und nicht zuletzt individuelle Erfahrungen. Krieg und Nationalsozialismus werden in "Frost" ebenfalls erwähnt und später in den autobiografischen Erzählungen mit aller Deutlichkeit thematisiert.

Claude Haas hat sich mit seiner Studie zum Ziel gesetzt, das Bernhard'sche Prosaschaffen anhand einer Semantik des Ekels und des Abscheus zu analysieren. Mit einer großen Genauigkeit sowohl in ihrer Lektüre als auch in ihrer Darstellung versucht die Arbeit, den kulturgeschichtlichen, historischen und ästhetischen Hintergrund jener - dem Autor oftmals vorgeworfenen - 'Negativität' seines Schreibens verstehbar zu machen. Sie stellt sich somit dem Anspruch, ein bislang noch viel zu wenig untersuchtes Phänomen zu behandeln, was allerdings deshalb nicht ganz überzeugend wirkt, da hier einzelne Studien zum Thema des Abscheus ebenso wie eine frühe Untersuchung zum "Wortfeld des Ekels in Thomas Bernhards Roman Frost" von Dora Kollmann (1983), die allerdings in einem linguistischen Sammelband erschienen und somit bibliografisch nicht ganz leicht zu finden ist, unberücksichtigt geblieben sind.

Im Hintergrund der eingehenden Lektürearbeit von Haas steht nun Julia Kristevas Theorie über den Ekel, den die Psychoanalytikerin und Literaturtheoretikerin als Ausgangspunkt der Lösung aus der symbiotischen Mutter-Kind-Dyade ansieht. Nicht erst das kulturell verhängte Inzesttabu, sondern bereits die enge Bindung zur Mutter und eine daraus resultierende natürliche Abwehr, die so genannte Abjektion, bedingen die notwendige Distanz des Kindes. Nach der Phase des Begehrens erscheint der mütterliche Körper nun unter dem Verdikt des Negativen.

In Bezug auf Bernhards Prosa lässt sich daraus eine wichtige Tatsache ableiten: Das Wortfeld Ekel und Abscheu ist einerseits negativ, andererseits positiv konnotiert. Damit erklärt Haas die eigentümliche Mischung aus Faszination und Abwehr zugleich, mit der viele von Bernhards Figuren auf negative Darstellungen insbesondere der Natur und des mit ihr assoziierten Weiblichen, der Mutter, reagieren.

Am Beispiel des Maler Strauch aus "Frost" zeigt sich deutlich, wie sein sexuelles Begehren der weiblichen Natur unterdrückt und in eine bis zum Abscheu gesteigerte Furcht gewendet wird. "Abscheu wird [...] durchgehend lesbar als kultureller Effekt, an welchem der Maler und der Student bis zu einem hohen Grad gleichermaßen partizipieren." Haas verweist in diesem Zusammenhang auch auf den Einfluss Otto Weiningers. Dessen Studie "Geschlecht und Charakter" (1903) hatte bereits Bernhards Großvater Johannes Freumbichler gelesen und sich positiv darüber geäußert.

Neben Bernhards erstem Roman und den beiden späteren Texten "Korrektur" (1975) sowie "Holzfällen" (1984) wird vor allem auf den längsten veröffentlichten Prosatext, "Auslöschung" (1986), eingegangen. In diesem ausführlichen Abschnitt gewinnt Haas' Untersuchung die größte Präzision und vermag das dichte Beziehungsgeflecht, die vielfältige Metaphorik und Symbolik von Bernhards Roman gut zu erhellen. So wird etwa der Tod der Mutter des Protagonisten Murau durch die Art der Erzählweise als indirekter Mord deutbar. Die Abschenkung des Erbes an sich wird als Reflexion und Reaktion auf den Abscheu verstanden. Aufschlussreich ist auch die Gegenüberstellung von Bernhards Roman mit Ingeborg Bachmanns "Der Fall Franza" und ihrem "Todesarten"-Projekt. In diesen Texten Bachmanns - sie wird in "Auslöschung" bekanntlich in der römischen Schriftstellerin Maria porträtiert - bezieht sich die "Figur des Abscheus", anders als bei Bernhard, auf die gewaltsamen und verbrecherischen Väter.

So genau und kenntnisreich Haas' Studie auch ist, kann man sich nicht vollständig von dem Eindruck befreien, dass die an Julia Kristevas Theorie ausgerichtete Lektüre Bernhards den Blickwinkel auf dessen Werk mitunter verstellt. Auch wenn die Ambivalenz der Begriffe Ekel und Abscheu für Bernhards Protagonisten gut sichtbar gemacht wird, orientiert sich die Interpretation an manchen Stellen allzu sehr an ihrem theorielastigen Überbau und einer überstrapazierten Terminologie ("Abjekt" und "Abjektion"). Zuweilen scheint es, als diene Bernhards Prosa zur Erklärung von Kristeva und nicht umgekehrt. Auch eine Entwicklung und Veränderung in Bernhards Schreiben, wie sie etwa Alfred Pfabigan in seiner Studie: Thomas Bernhard. Ein österreichisches Weltexperiment (1999) beschrieben hat, hätte sich - zum Beispiel anhand einer Anordnung der Untersuchung nach einzelnen Motivkomplexen und semantischen Feldern rund um den Abscheu und Ekel - hier zeigen lassen können.


Titelbild

Claude Haas: Arbeit am Abscheu. Zu Thomas Bernhards Prosa.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2007.
256 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783770544318

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