Ursprung des Hasses

Die Thomas-Bernhard-Werkausgabe treibt die Kanonisierung eines Weltliteraten voran - und die Biografie von Bernhard Judex über Johannes Freumbichler ermöglicht differenziertere Perspektiven auf das Werk seines Enkels

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Manchmal ist man doch verblüfft, wie unmittelbar die Aktualität von Literatur sein kann, die vor Jahrzehnten entstand und einem dennoch auf Anhieb mehr über damalige historische Ereignisse zu sagen scheint als aktuelle Dokumentationen, die das Geschehene bis zur Unkenntlichkeit entstellen.

Im Herbst 2008 ist der Rummel in den deutschen Zeitungen groß. Uli Edel hat Stefan Austs Kolportage-Buch über den "Baader-Meinhof-Komplex" verfilmt, und der Münchner Filmproduzent Bernd Eichinger spricht davon, die Motivation zu dem Projekt sei für ihn die gleiche gewesen wie bei seinem umstrittenen Adolf-Hitler-Film "Der Untergang" (2004). Wie er damit die "Rote Armee Fraktion" (RAF), die am Ende einen Kaufhausbrand und ein paar Tote auf dem Gewissen hatte, mit dem Vernichtungskrieg der Nationalsozialisten vergleicht, in dem immerhin über 20 Millionen Menschen ermordet und die halbe Welt in Schutt und Asche gelegt wurde, erscheint dabei heute kaum noch irgendjemandem fragwürdig. Solche Geschichtsklittereien, die das deutsche Kino des neuen Jahrtausends zu einer kulturindustriellen Diskursmaschine des unterkomplexen Revisionismus gemacht haben, sind offenbar längst tief in die Köpfe des Publikums eingedrungen.

In unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Geschehen, im Jahr 1979 etwa, sah die kulturelle Auseinandersetzung mit dem "Deutschen Herbst" jedoch paradoxerweise schon einmal viel differenzierter, zumindest subtiler aus. Was für Aufregungen und Hysterien damals etwa Thomas Bernhards Drama "Vor dem Ruhestand. Eine Komödie von deutscher Seele" begleiteten, und wie vergleichsweise reflektiert die Theaterkritik dennoch auf die Uraufführung am Württembergischen Staatstheater Stuttgart reagierte - das alles noch einmal in dem Kommentar des entsprechenden Werkbands der Suhrkamp-Ausgabe nachzulesen, den Bernhard Judex und Manfred Mittermayer herausgegeben haben, lohnt sich gerade in diesem Herbst besonders.

Faschismuskritik im historischen Kontext des 'Deutschen Herbstes'

Bernhards Drama behandelt aber nicht etwa die Taten und Verirrungen der RAF, sondern thematisiert die damalige Kontinuität des Nationalsozialismus in der bundesdeutschen Justiz und Politik - also jene verleugnete Macht der NS-Täter nach 1945, die ein wichtiger Auslöser linksterroristischer Waffengänge war. "Andererseits haben wir ja jetzt einen Bundespräsidenten / der ein Nationalsozialist gewesen ist", heißt es in Bernhards Drama, und jeder wusste seinerzeit, dass dies sowohl auf Walter Scheel (FDP) als auch auf Karl Carstens (CDU) zutreffen konnte. Letzterer löste seinen Vorgänger zwei Tage nach der Uraufführung des Stückes, am 1. Juli 1979, in diesem Amt ab und war wie auch Scheel vor 1945 NSDAP-, ja sogar SA-Mitglied gewesen.

Der Protagonist Rudolf Höller ist in Bernhards Drama ein durch und durch Nationalsozialist gebliebener Elite-Jurist kurz vor dem Ruhestand, der jedes Jahr mit seiner Schwester Vera den Geburtstag Heinrich Himmlers begeht. Auch die zeitgenössische Anspielung, die sich hinter Höllers Richterberuf versteckt, wurde damals in Stuttgart sofort verstanden, wo in Stammheim nicht nur Ulrike Meinhof, Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe eingesessen und sich schließlich in ihren Zellen umgebracht hatten, sondern eben auch Hans Karl Filbinger CDU-Ministerpräsident war: Der ehemalige nationalsozialistische Marinerichter hatte sogar noch nach 1945 Wehrmachtssoldaten wegen versuchter Desertion verurteilt, als er in Norwegen als Kriegsgefangener nach wie vor sein Amt versehen durfte, da die Briten die deutsche Militärgerichtsbarkeit erst einmal nicht entmachtet hatten und ihn weiterhin als Jurist für die besiegten deutschen Truppen einsetzten. Filbinger musste im August 1979 endgültig zurücktreten, weil seine Lüge, vor 1945 kein einziges Todesurteil wegen "Wehrkraftzersetzung" ausgesprochen zu haben, mit immer mehr historischen Gegenbeweisen widerlegt worden war. Zwar ist Bernhards Drama nicht auf eine solche Funktion als bloßer Schlüsseltext reduzierbar - aber es frappiert doch, wie seine diesbezügliche Wirkung noch bis in unsere Zeit reicht. Nicht nur, weil Filbinger als "furchtbarer Jurist" (Rolf Hochhuth) trotz allem bis zuletzt Ehrenvorsitzender der CDU Baden-Württembergs blieb. So sehen sich Mittermayer und Judex in ihrem Nachwort gezwungen, auch den heutigen CDU-Ministerpräsidenten des Landes Baden-Württemberg, Günther Oettinger, zu erwähnen, der den 2007 gestorbenen Filbinger in seiner öffentlichen Nachruf-Rede sogar noch einmal als "Gegner des Nationalsozialismus" rühmte und die alten, längst entlarvten Behauptungen Filbingers über seine eigene historische Rolle dreist wiederholte.

Claus Peymann schließlich, der Regisseur der Uraufführung von "Vor dem Ruhestand" und damaliger Intendant des Stuttgarter Theaters, musste 1979 nach der Premiere seiner Bernhard-Inszenierung ebenfalls den Hut nehmen, weil er bereits 1977 am Schwarzen Brett des Hauses einen Spendenaufruf für eine Zahnbehandlung Gudrun Ensslins hatte aufhängen lassen. Dies war unter anderem von Filbinger mit den - aus ausgerechnet seinem Munde doch etwas anmaßend klingenden - Worten skandalisiert worden, ein Staat, der "in einem schweren Abwehrkampf mit dem Terrorismus" stehe, könne "auch im Interesse seiner Bürger ein solches Fehlverhalten einer führenden Persönlichkeit im staatlichen Kulturbetrieb nicht hinnehmen".

Dass diese strikte Richtschnur trotz seines erzwungenen Rücktritts von 1979 für ihn selbst, einen nachweislichen Exekutor des nationalsozialistischen Terrors, im Ansehen der Regierungspolitik Baden-Württembergs bis heute keine Geltung haben soll, wenn man Oettinger glaubt, macht die neuerliche Beschäftigung mit Bernhards Drama nach wie vor so anregend. Gerade aber auch deshalb, weil dieser Text darüber hinaus noch viel mehr leistet als bloßes Dokumentartheater à la Rolf Hochhuth, lohnt sich seine Relektüre. So bemerkte etwa der Theaterkritiker Benjamin Henrichs nach der Stuttgarter Uraufführung in der "Zeit", nicht Filbinger, sondern Bernhard selbst sei hier die Schlüsselfigur. Werde doch in dem Stück die brisante Frage gestellt, ob "es nicht seltsame, bedrückende Verwandschaften gibt zwischen Bernhard-Poesie und Nazi-Philosophie. Zwischen einem radikalen Dichter, der die Welt am Schreibtisch vernichtet, und radikalen Spießern, die Ernst machen müssen, weil sie sich aus ihren Zerstörungsphantasien nicht in die Literatur retten können. [...] In allen politischen Stücken nach dem Krieg waren die Faschisten immer die anderen, nie stand die antifaschistische Rechtschaffenheit des Autors in Zweifel. Thomas Bernhard dagegen ist in all seinen Figuren, auch in seinen Nazifiguren, höchstselber anwesend."

Dafür spricht einiges - einerseits. Andererseits aber thematisiert Bernhard mit diesem "Bruder Hitler"-Klischee frei nach Thomas Mann aber auch den perfiden Gestus der Täter, die Verfallenheit der Menscheit schlechthin zu beklagen, wo es doch gerade um ihre konkreten Entscheidungen und ihre eigenen Morde gehen sollte, die daraus folgten: Rudolf Höller zumindest verkündet in "Vor dem Ruhestand" bereits Benjamin Henrichs Interpretation mit genau jenem Zungenschlag, der uns bedeutet, es sei ohnehin niemals mehr etwas daran zu ändern, dass nun einmal alle Menschen im Grunde ihres Herzens böse seien: "In jedem von uns ist der Verbrecher / man muß ihn nur aufrufen / das war schon immer so / das wird immer so sein". Von hier aus ist es wirklich nicht mehr weit zu dem achselzuckenden Hinweis, in der RAF sei im Grunde das gleiche passiert wie in der Wehrmacht.

Erstaunlich ist allerdings, dass Vera Höller und ihr Bruder Rudolf tatsächlich so argumentieren, wie jene wankelmütigen Ökologen und Globalisierungskritiker, die noch heute mit ihrer verkürzten Kapitalismuskritik gegen Großindustrielle und "Heuschrecken"-Unternehmen polemisieren, um mit diesem dunklen Geraune gegen irgendwelche 'Strippenzieher' am Weltmarkt dem neuen Antisemitismus das Wort zu reden und sich schließlich auf irgendwelchen Demos zusammen mit NPD-Protestlern wiederzufinden.

Man könnte es - anno 2008 - sogar so sehen: Im folgenden Zitat hat Bernhard bereits die gesamte Geschichte der deutschen Partei der "Grünen" seit Beginn der 1980er-Jahre bis zum heutigen Tag, wo aus den Wollpulloverträgern im Bundestag längst die umworbenen Koalitionspartner der CDU geworden sind, vorweggenommen: "VERA: Die Konzerne setzen sich immer durch / [...] Wenn das nur Schule machte / Aber die Politiker und die Industriellen / stecken unter einer Decke / und richten langsam alles zugrunde / verpesten die Luft und zerstören alles / Bald gibt es auch in den Bergen keinen Platz mehr / wo man frische Luft atmen kann / Vielleicht noch in Grönland / RUDOLF: Vielleicht noch in Grönland / da hast Du recht / Die Industrie hat immer alles beherrscht / Ich habe nichts gegen die Industrie / VERA: Natürlich nicht Rudolf".

Unter Umständen ein Genie

International bekannt wurde Bernhard aber erst durch einen späteren Skandal, den der Anhang von Band 7 der Suhrkamp-Werkausgabe erstmals genau und in allen Details dokumentiert. Weil sich sein alter Freund und Mäzen Gerhard Lampersberg in der Figur Auersbergers in Bernhards Roman "Holzfällen. Eine Erregung" (1984) erkannte, kam es zu einem für Österreich äußerst bezeichenenden Justiz-Vorgang: Unter Missachtung des Grundrechtes der Kunstfreiheit und aufgrund eines zweifelhaften Gutachtens, das nicht einmal korrekt wiedergegebene und aus dem Zusammenhang gerissene Zitate des Romans anführte, wurde das Buch unmittelbar nach seiner Auslieferung mit polizeilicher Gewalt in allen Buchhandlungen Österreichs beschlagnahmt. Ein Fall von literarischer Zensur, der es Bernhards Verleger Siegfried Unseld zunächst sogar schwer machte, in Österreich einen Anwalt für den Fall zu finden, wie die Herausgeber, der kürzlich verstorbene Wendelin Schmidt-Dengler und Martin Huber, im Nachwort des Bands referieren. Der erste Mann, den Unseld um Hilfe bat, wies sein juristisches Engagement für den Schriftsteller prompt mit der Bemerkung zurück, Bernhard sei ein "Nestbeschmutzer".

Tatsächlich findet man in "Holzfällen" auch weniger nette Heimatcharakterisierungen wie die folgende: "Wien ist eine fürchterliche Geistesvernichtungsmaschine, dachte ich auf dem Ohrensessel, eine entsetzliche Talentzertrümmerungsanstalt." Auch in diesem Text gibt es also eine Figur, die alles um sich herum, vor allem aber das gastgebende Ehepaar Auersberger, das den Erzähler zu einem künstlerischen Abendessen eingeladen hat und ihn in jungen Jahren gefördert hatte, mit Hasstiraden eindeckt, deren totale Formulierungswut in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur ihresgleichen sucht.

Gerne übersehen wird allerdings, dass dieser Erzähler in seinem "Ohrensessel" auch seine eigene Ungerechtigkeit reflektiert, als er über das verhasste Ehepaar nachdenkt: "Wir sind jahrelang mit ihnen befreundet und sind es auf einmal lebenslänglich nicht und wissen gar nicht, warum auf einmal nicht mehr. [...] Wir bekommen von ihnen alles und hassen sie dafür. Wir sind nichts und sie machen etwas aus uns und wir hassen sie dafür. Wir kommen aus dem Nichts, wie gesagt wird, und sie machen aus uns unter Umständen ein Genie und wir verzeihen ihnen nie, daß sie aus uns ein Genie gemacht haben, wie wenn sie einen Schwerverbrecher aus uns gemacht hätten, dachte ich auf dem Ohrensessel."

Wie die Herausgeber enthüllen, machte diese Wut, die der Autor gegenüber Unseld vor der Drucklegung des Buches auch für sich selbst einräumte, indem er dem Text einen dezidierten autobiografischen Gehalt zuwies, auch vor Kollegen wie Friedrike Mayröcker und dem Lyriker Ernst Jandl nicht halt. Mayröcker tauchte im Romantyposkript zunächst als "Gymnasiallehrerin Juniröcker" auf und wurde dann zur Figur Anna Schreker, der im Text ein Lebensgefährte an die Seite gestellt wird, der sich "auf sogenannte Lautgedichte" spezialisiert habe. Der Ich-Erzähler des Romans empört sich über die "größte Schweinerei", die darin bestünde, dass Schreker ihrem Gatten den "Großen österreichischen Staatspreis für Literatur" verschafft habe, einem Autor also, der mit seiner Lyrik beim "heutigen kulturellen Massenproletariat" erfolgreich sei.

Diese leicht als haltlose und fragwürdig begründete Gemeinheiten gegenüber Kollegen aus dem Literaturbetrieb erkennbaren Facetten des Textes änderten jedoch nichts daran, dass er schnell kanonisiert wurde und heute international zu den wichtigsten Romanen nach 1945 gezählt wird. Marcel Reich-Ranicki würdigte das Buch 1984 in einer ausführlichen Rezension und zählte Bernhard neben Friedrich Hölderlin, Novalis, Heinrich von Kleist, Georg Büchner, Franz Kafka und Paul Celan zu "unseren düsteren und zerrissenen Dichtern, diesen Getriebenen und Besessenen, diesen unheilbaren Alpträumern und ewigen Amokläufern der Literatur". 2002 rechnete Reich-Ranicki "Holzfällen" sogar zu den 20 Romanen des 18. bis 20. Jahrhunderts, die er zum "Kanon" der deutschen Literatur erklärte. Doch auch George Steiner und Harold Bloom rühmten das Werk in den USA. Steiner adelte es zur nobelpreisfähigen Weltliteratur, und Bloom integrierte es in einen "Western Canon" 28 weiterer Romane aus dem deutschen Sprachraum.

Die Großväter sind die Lehrer

Dass sein Großvater Johannes Freumbichler (1881-1949) das wichtigste Vorbild für Thomas Bernhard gewesen sei, hat der Autor selbst oft genug betont. "Die Großväter sind die Lehrer", heißt es in dem autobiografischen Roman "Ein Kind" (1981) apodiktisch. Bernhard Judex, Mitarbeiter des Thomas-Bernhard-Archivs in Gmunden, hat den Faden früherer Forschungen Caroline Markolins und Louis Huguets aufgenommen und 2006 nach einer erstmaligen "systematischen Sichtung und Ordnung" des Nachlasses eine Biografie des österreichischen Schriftstellers vorgelegt. "Rund 15.000 Blatt Notizen, Entwürfe und Werkmanuskripte, 1.600 Korrespondenzen, 150 Notiztagebücher [...] und viele weitere Archivalien" hat Judex für die Nierderschrift seines Buchs entziffert.

Und in der Tat setzt sich hier vor unseren Augen ein widersprüchliches Lebensbild eines Mannes zusammen, der sich zeitlebens ähnlich 'zerrissen' zeigte wie Bernhards Figuren und nicht zuletzt Bernhard selbst. Extreme Stimmungsschwankungen wie Depressionen und plötzliche Momente übertriebener Selbstkritik, die Freumbichler dazu verleiteten, das eigene literarische Schaffen von Jahren im Affekt zu verbrennen, waren keine Seltenheit.

Auch die für Bernhards Romane so typische Misogynie der Erzähler scheint von der Person Freumbichlers vorgeprägt worden zu sein, der seine Partnerin Anna Bernhard, die für ihn ihren Mann im Jahre 1904 bei Nacht und Nebel verließ und sich fortan für Freumbichler auch in den Momenten der größten Armut des lange Zeit in "wilder Ehe" lebenden Paares selbstlos aufopferte, mit seinen Launen malträtierte. Freumbichler folgte in seinen frauenfeindlichen Ansichten der 1903 erschienenen Publikation Otto Weiningers, "Geschlecht und Charakter", vollkommen unkritisch. Also jener Literatur, von der Karen Duve in ihrem wunderbaren Roman "Taxi" (2008) schreibt: "Weininger zu lesen war, als würde einem die ganze Zeit mit einem schweren Gegenstand auf den Kopf geschlagen."

Wie so viele seiner Zeitgenossen glaubte jedoch auch Freumbichler, als Mann und Autor am besten voranzukommen, wenn er sich in sexueller Enthaltsamkeit übe und notierte, Weiningers Buch könne "der Menscheit unschätzbare Dienste leisten. Es ist geeignet, als Großmacht die Welt von der blödsinnigen Weiberverehrung zu heilen, die an allem Unheil der letzten Jahrhunderte schuld ist und Europa auf den Hund gebracht hat".

Judex liest das literarische Werk Freumbichlers immer wieder im Blick auf Thomas Bernhard. Und das, obwohl es auf den ersten Blick so aussieht, als habe der Großvater in Romanen wie "Philomena Ellenhub" (1937, noch im selben Jahr ausgezeichnet mit dem Förderpreis des Großen Österreichischen Staatspreises) und "Auszug und Heimkehr des Jodok Fink" (1942) eher die Art von Literatur geschaffen, gegen die sein Enkel nach 1945 so berserkerhaft anschrieb. Nicht nur die noch aus einer starken ästhetischen Verwurzelung im 19. Jahrhundert herrührende Tendenz zu emphatischer Heimatliteratur, sondern auch die Tatsache, dass der Großvater 1943 endgültig in die nationalsozialistische Reichsschrifttumskammer eintrat und dass sein letztgenanntes Buch ihm zu seinem einzigen zeitweisen finanziellen Erfolg verhalf, indem es als 'Frontroman' in hoher Auflage an die Soldaten verkauft wurde, legen dieses Urteil zunächst einmal nahe.

Judex arbeitet jedoch viele Widersprüche sowohl in der Literatur als auch in politischen Urteilen des misanthropischen Großvaters heraus. So verlachte Freumbichler in einer Notiz "die Millionen Dummköpfe", die den "Anschluss" Österreichs an das "Dritte Reich" begrüßten. An seinem Roman "Atahuala oder Die Suche nach einem Verschollenen" (1938) kritisierte der linientreue NS-Lektor Hermann Leber: "Wenn z.B. gesagt wird, 'daß aus der Vermischung der Rassen nicht nur die intelligentesten, sondern auch die apartesten Menschenkinder hervorzugehen pflegen', so ist das zweifellos eine Stellungnahme zu einem Thema, über das im heutigen Deutschland nicht mehr diskutiert werden kann." Wie Judex feststellt, hatte Freumbichler diese Kritik in "offenkundiger Naivität" überhaupt nicht verstanden und wunderte sich zunächst darüber, wie man eine solche Stellungnahme als "abwegig" bezeichnen könne. Entsprechende Änderungen nahm er am Manuskript allerdings trotzdem gehorsam vor.

An der Schwelle zur Moderne

Freumbichlers fragmentarischem "Lebenswerk", dem über 1.000-seitigen Opus Magnum "Eling. Das Tal der sieben Höfe" bescheinigt Judex sogar Ansätze literarischer Modernität. Den bisweilen "ins absurde gesteigerten Humor" des Romans liest der Biograf vielleicht dann doch etwas allzu übermütig mit der Literaturtheorie Michal Bachtins als karnevalistisches Moment - und vergleicht den Text unter anderem mit Hans Henny Jahnns "Fluß ohne Ufer" (ab 1949), ja sogar mit Hans Leberts 'Antiheimatroman' "Wolfshaut" (1960) und Thomas Bernhards Debüt "Frost" (1963).

Bernhards Werk erscheint so als eine dezidierte moderne Fortführung dessen, was sein Großvater Freumbichler in seiner Literatur begann. Bernhards fragmentarisches Frühwerk "In der Höhe. Rettungsversuch, Unsinn", das erst unmittelbar vor seinem Tod im Jahr 1989 erschien, greift laut Judex jene Momente aus dem einst verworfenenen Romanmanuskript "Schwarzach St. Veit" (1960) auf, die er als 'Umschlagpunkt' in Bernhards Prosa auf dem Weg zur Moderne und als Beginn einer immer intensiver einsetzenden 'Entzauberung der Idylle' beschreibt, und zwar obwohl sie "an Johannes Freumbichlers Literatur anknüpfen".

Bernhards Ohlsdorfer Nachbar Karl Ignaz Hennetmair notierte 1972 in sein 'geheimes Tagebuch', Bernhard habe Freumbichlers "Jodok Fink" nach 20 Jahren wiedergelesen, "und nunmehr komme er drauf, dass seit damals, als sein Großvater erschien, keine so gute Prosa mehr herausgekommen ist." Bernhard habe bei der Gelegenheit begriffen, dass er "eigentlich in moderner Form" an seinen "Großvater anschließe": "Alles, was in der Zeit zwischen meinem Großvater und mir erschienen ist, ist zum Wegschmeißen". Später habe Bernhard allerdings eingeräumt, er habe beim Weiterlesen "schwache Stellen" entdeckt: "Alles ist viel zu schön, viel zu schön geschildert. Alles, was ich als scheußlich empfinde, findet mein Großvater schön."

Trotzdem versuchte der Schriftsteller, seinen Verleger Unseld bis in die späten 1970er-Jahre hinein zu überreden, die Romane seines Großvaters wieder aufzulegen. Vergeblich: Als sich Unseld 1977 "Jodok Fink" tatsächlich einmal vornahm, um die Möglichkeit einer Wiederauflage im Insel Verlag zu erwägen, notierte er: "Ich habe 40 Seiten auf dem Flug von Salzburg nach Frankfurt gelesen, das ist natürlich ein bißchen bierdermännerisch, aber es transportiert natürlich sehr viel Unmittelbares." Dass sich hier bei aller Liebe die Begeisterung doch in Grenzen hielt, ist den Zeilen deutlich anzumerken.

Das Ende der Biografie zeichnet ein ambivalentes Bild Freumbichlers: "Vom Bauerntum erhofft er sich eine beinahe heilsgeschichtliche Erlösung, obwohl er mit der Kritik an der ländlichen Umgebung, aus der er selbst ausbricht, nicht spart", notiert Judex in seinem Ausblick unter dem Titel "Johannes Freumbichler heute". Er habe "die dissonanten Seiten dieser Künstlerexistenz nicht zu glätten versucht", urteilt der renommierte österreichische Bernhard-Forscher Hans Höller in seinem Vorwort zur Biografie anerkennend. Und genau das ist es auch, was die Qualität seiner akribisch recherchierten Arbeit ausmacht. Vor allem aber eignet sie sich dazu, die stets so patriarchalisch auftretenden Figuren in Bernhards Texten literaturgeschichtlich noch einmal differenzierter zu bewerten als dies bisher geschehen ist.


Titelbild

Bernhard Judex: Der Schriftsteller Johannes Freumbichler 1881-1949. Leben und Werk von Thomas Bernhards Großvater.
Böhlau Verlag, Köln 2006.
250 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3205775317

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Thomas Bernhard: Dramen IV. Werke Band 18.
Herausgegeben von Martin Huber und Bernhard Judex.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
440 Seiten, 32,90 EUR.
ISBN-13: 9783518415184

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Thomas Bernhard: Holzfällen. Werke Band 7.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
380 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783518415078

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