Immer noch unterwegs

Ein Interview mit Günter Wallraff

Von Erik ErikssonRSS-Newsfeed neuer Artikel von Erik Eriksson

Es ist besonders leicht für einen Schweden, Günter Wallraff zu interviewen. Das, wofür er berühmt ist - Wallraffen - ist sowieso ein schwedischer Ausdruck für seine Art des Rollenspiels in der Wirklichkeit. Man landet auch gleich beim "Du" - sich "Siezen" macht man selten in Schweden.

Seit 2007 hat sich der Autor wieder einmal aufgemacht, um zuerst in Callcentern, und dann in einer Brötchenfabrik, einem Zulieferer des "walmartisierer Europas", "Lidl", zu arbeiten - Warum ist er überhaupt wieder aktiv geworden?

Erstes Gebot: Öffentlichkeit herstellen

EE: - In der englischen Ausgabe von "Ganz unten" ("Lowest of the Low") beschreibt A. Sivanandan, Direktor des "Institute of Race Relations" in England, sehr eindrucksvoll, wie das Kapital jetzt den Arbeitsmarkt und alles so umgestaltet, Gewerkschaften usw. so geschwächt hat, dass wir fast so dastehen wie vor 200 Jahren.

GW: Ja, das ist zunehmend die Situation, und von daher habe ich auch anders angefangen. Zu Beginn meiner Arbeit bin ich auch davon ausgegangen, ohne nur Marxist zu sein, dass eine Gesellschaft sich kontinuierlich in Phasenverschiebungen, auch Rückschritten, zu besseren Möglichkeiten hin weiter entwickelt. Das ist also meine Auffassung der Geschichte. Das ist der evolutionäre Weg und inzwischen muss man allerdings erkennen, dass es dramatisch bergab geht und in frühkapitalistische Arbeitsformen zurückdriftet. Und dass alles, was durch die Arbeiterbewegung erkämpft wurde, rückgängig gemacht wird.

Da sind wir mittendrin und es ist noch kein Ende abzusehen, und damit hatte ich, als ich meine Arbeite begonnen habe, nie gerechnet. Man glaubte vielmehr, man wäre eine Art Beschleunigerteilchen, um diesen Prozess zu forcieren, und inzwischen muss man mithelfen, dass die Dämme nicht alle brechen und Sandsäcke davor schieben, aber die Flut ist an vielen Stellen stärker. Jetzt sind ganze Gebiete unter Wasser.

Wir sprechen von aktuellen Dingen. Im Krisenherbst 2008 scheinen Begriffe wie Demokratie immer mehr eine historische Parenthese zu sein. Folglich erlebte Wallraff in der Brötchenfabrik neben Hitze und Kälte auch Sicherheitsrisiken und eine totale Feindschaft Gewerkschaften gegenüber. Es war wie zu Anfang seiner Karriere.

EE: Bei meinem Vergleich unter anderem zwischen deinen Arbeiten und John Howard Griffins Klassiker "Black Like Me" wurde immer deutlicher, dass die Arbeiterklasse immer stärker rassistischen Vorstellungen ausgesetzt ist.

GW: Ja. Untermenschen, die nicht dazu gehören und eine Gesellschaft, die sich immer mehr in eine Hälftengesellschaft entwickelt oder vielleicht sogar eine Drittelgesellschaft. Ein Drittel, kann man sagen, verfügt über Bildung, Einkommen, uns ein Drittel ist total draußen vor.

Beispiel USA: Die Zeitung "Chicago Tribune" veröffentlichte etwa Statistiken, wonach sich im Zeitraum 1992-2005 Todesfälle am Arbeitplatz in den USA unter weißen Arbeitern um 16% verringerten, während sie unter lateinamerikanischen Immigrantenarbeitern um 78% anstiegen. In "Arbeit poor" kritisiert Barbara Ehrenreich auch den Mangel an Demokratie an amerikanischen Arbeitsplätzen: "Schließlich können wir uns kaum rühmen, die beste aller Demokratien darzustellen, wenn so viele Bürger die Hälfte ihrer nicht verschlafenen Zeit einem Regime unterworfen sind, das - im Klartext gesprochen - einer Diktatur gleichkommt. Jede Diktatur hat negativen psychologischen Auswirkungen auf die Psyche ihrer Untertanen."

Ich hatte jetzt Besuch von einem chinesischen Kollegen, der Sachen von mir übersetzt, in China, und sie als Inspiration benutzte, und zwei Bücher hat er jetzt veröffentlicht, auf Chinesisch. Eins, "Die da oben", das zweite "Die da unten", wo er Formen des neuen Reichtums, der gigantischen Vermögenskonzentration amerikanischen Lebensstils - und dann die zunehmende Verarmung der Wanderarbeiter, von der Prostitution und der völligen Entrechtung [beschreibt].

EE: - Kennst du die Zeitschrift "Lettre International"? Da wurde die Ansicht eines Arbeiters aus der Provinz Guangdong zitiert: "In China Arbeiter zu sein, ist ein Todesurteil." Das klingt wie bei Kisch in den 1930er-Jahren, als er chinesische Irrenhäuser besichtigte: "Knallt mich ab, wenn es so weit ist!"

GW: Bah! - Ich hatte hier zu Besuch den Harry Wu, einen chinesischen Dissidenten, der auch inhaftiert war, der Bücher geschrieben hat über die Zustände in China. Der erzählte mir von Formen der Transplantation, wo Gefangene ausgesucht werden, damit die Übereinstimmung Spender-Empfänger genau übereinstimmt.

Von daher sind die chinesischen Transplantationen die besten, [die Organe] die haltbarsten. Auch für ausländische Devisenbringer, aber auch für die Bonzen im eigenen Land. [Es gibt] mobile Transplantationsteams, die das dann im Gefängnis bewerkstelligen. Danach werden die Ausgesuchten hingerichtet.

Wallraffs Vorbilder

EE: - Welche Vorbilder hattest du, als du anfingst, etwa Egon Erwin Kisch? Du nennst B. Traven und Upton Sinclair ("The Jungle"), als Gesellschaftsphänomen auch die '68er Studentenbewegung.

GW: Aber Vorbilder - zu Beginn meiner Arbeit war ich mehr der passive, der alles, was zufällig passiert ist, wie ein Schwamm aufgesaugt hat. Naivität ist auch ein Arbeitsprinzip. Sich dumm stellen auch, um sich dumm stellen zu können, darf man nicht ganz blöd sein, nicht. Man bekommt mehr zu hören, man bekommt stärkere Reaktionen als wenn man allzu schlau daherkommt.

EE: Wann hast du angefangen, dich mit marxistischer Theorie und ähnlichem auseinanderzusetzen?

GW: Ich hatte immer ein Theoriedefizit. Das war schon als Schüler so. Die sinnlich wahrnehmbaren Geschichten: Kunst, Deutsch, Sport auch, da war ich immer Nummer eins und in allen anderen abstrakten Fächern war ich eher schlecht, und dieses Theoriedefizit hat mich vielleicht davor bewahrt, in irgendeiner linken, dogmatischen Gruppe zu landen. Wenn man fragte: - Aber Marxist bist du doch? Habe ich gesagt: Um mich Marxist nennen zu dürfen, da habe ich ihn zu wenig gelesen.

Die ersten, die mich beeinflussten, waren französische Arbeiterpriester und ein Buch vom Stimme Verlag: "Junge Pfarrer berichten aus der Fabrik". Das waren Industriepfarrer der evangelischen Kirche, das war ein kleines Büchlein. Das liegt daran, dass ich meine Kriegsdienstverweigerung auch aufgrund christlicher Prinzipien, Bergpredigt und so weiter, begründet hatte, obwohl ich aus der Kirche ausgetreten war. Ich war also Anti-Kleriker, die katholische Kirche ist für mich heute noch eine grausame, menschenfeindliche Angelegenheit.

In Lateinamerika wäre das anders gewesen, da hätte ich vielleicht zu denen gehört, die da eine soziale Bewegung mit der Kirche versucht haben und später vom Vatikan in die Kälte gezogen wurden. Da waren frühe Beeinflussungen, und die Studentenbewegung hat mich sicher dann auch zu korrespondierenden Wirkungen [bewegt]. Da wurden meine Arbeiten aufgenommen.

Ich habe mich immer so definiert: Wer konnte mit meiner Arbeit etwas anfangen, wem hat sie genutzt, und wer hat sie bekämpft? Und so wurde ich zum Linken. Von rechts wurde ich gnadenlos bekämpft, obwohl ich ganz unpolitisch war.

Bundeswehr und Militarismus

GW: Und meine Zeit bei der Bundeswehr...

EE: ...war vorher, aber auch wichtig?

GW: Ja, bei der Bundeswehr war ich Kriegsdienstverweigerer aufgrund christlicher Prinzipien, Bergpredigt, Mahatma Gandhi - das waren meine Begründungen. Man musste noch das rechtfertigen, dass man verweigerte, und in dem Zusammenhang habe ich da eben auch christliche Prinzipien [behauptet].

Da war der Bundeswehrpfarrer ein absoluter eiskalter Typ, war vorher Zuchthauspfarrer, im Gefängnis, und der sagte mir, christliche Prinzipien kommen überhaupt nicht in Frage, das ist Selbstmord, da hat Christus Selbstmord am Kreuz begangen, war ja auch eine Sünde. Dann hat er gesagt: Pass auf, wenn du den Antrag auf Kriegsdienstverweigerung zurückziehst, dann sorge ich dafür, das du zum Sanitäter kommst, dann darfst du auf Bundeswehrkosten sogar deinen Führerschein machen. Und solche Angebote versuchte er um mich da [umzustimmen]. Und als ich mich nicht darauf einließ, wurde ich dann zehn Monate festgehalten und kam dann nachher in die Psychiatrie - Du kennst die Geschichte?

EE: - Ja - aber kann man sagen, dass Deine Oppositionshaltung vielleicht mit fünf Jahren anfing und dann bei der Bundeswehr verschärft wurde?

GW: Der Kirche gegenüber? Ich weiß es gar nicht - ja, vielleicht, weil ich würde mich selbst als "tiefgläubigen Agnostiker" bezeichnen. Ich wünschte mir, dass es eine Menschlichkeit gäbe, die auch von Christen gelebt würde ... Aber das ist eine Hoffnung, die enttäuscht wird, und von daher will ich immer wieder provozieren.

Wallraff und die Kirche

EE: Ja, ich wollte gerade fragen: Warum immer diese Attacken gegen die katholische Kirche?

GW: Ja, herrlich! Ja, vielleicht weil ich selber durchaus - Christus für mich eine zentrale Gestalt, ein Großer der Weltgeschichte ist, so wie Gandhi, die die Konventionen ihrer Zeit überwunden haben, und sicher nachher missbraucht wurde. Aber mir fehlt das Transzendentale, ich sehe in ihm einen großen Menschen, aber dass, was nachher mit ihm an Kult betrieben wurde, es geht mir ab, aber sein Pazifismus hat mich stark geprägt, und auch sein Leben: Für eine Überzeugung notfalls sogar das Leben zu riskieren.

Und das darf man nicht vergleichen mit islamitischen Terrorattentätern, weil das heute häufig gemacht wird. Man darf sein Leben nie aufs Spiel setzen, heißt es immer. Die trennen dann nicht, ob jemand andere mit in den Tod reißt oder für sich selbst die Konsequenz einsieht. Da trenne ich sehr wohl, und einige Male habe ich auch mein Leben aufs Spiel gesetzt, weil ich meine, dass das erst die Glaubwürdigkeit einer Sache ausmacht.

Aber die Kirche, die sich da gebildet hat, da wurde mit der Obrigkeit paktiert, und [da muss man unterscheiden]. Da ist meistens die Kirche eine total, nicht nur bürokratisierte, sondern auch sogar menschenfeindliche und korrupte Institution geworden. Das können wir gerade auch jetzt erkennen hier in Deutschland und auch in anderen Ländern.

EE: Sprichst du dann sowohl von der katholischen als auch von der evangelischen Kirche?

GW: Ich spreche zunächst noch mehr von der katholischen.

Ich war gerade eine Zeit in Brasilien. Was sie da anrichten, das ist Menschen-verdummung und gleichzeitig ein Wirtschaftsunternehmen. Mitschuldig ist die katholische Kirche. Es gab in Brasilien die Kirche der Armen, die soziale Bewegung. Sie wurde vom Vatikan aus dem Verkehr gezogen und stagnierte.

Und seitdem haben die [protestantischen Fundamentalisten] da großen Zulauf. Sie stellen bereits den Bürgermeister von Rio de Janeiro, sie haben Riesenpaläste, so wie hier die Versicherungspaläste, sie haben eigenen Fernsehsender ... Aber auch in Afrika und in anderen Ländern, da würde ich auch ein Gegner der protestantischen Fundamentalisten sein.

Kapitalismus und Nazismus - gestern und heute

EE: Es fällt mir auf, dass Du so oft in deinen Büchern Kapitalismus und Nazismus vergleichst.

GW: Ja, ein sehr deutsches Problem, und das liegt wirklich daran, dass über Jahrzehnte diese Gesellschaft durchsetzt, durchseucht war von den Führungskräften des "Dritten Reiches". Und die hatten ein hohes Ansehen hier. Sie haben die ganze Gesellschaft unter sich aufgeteilt. Wir hatten dafür so etwas wie die Gauck-Behörde nicht. Die Gauck-Behörde, die für die Zustände in der DDR zuständig war, wo die Akten öffentlich gemacht wurden.

Innerhalb des "Dritten Reiches" gab es keine Behörde, alles wurde geheim gehalten. Als ich groß wurde, in meiner Jugend, war die Gesellschaft wie unter einer Dunstglocke des Faschismus. Man konnte nicht frei durchatmen. Man bekam Erstickungsanfälle, überall spürte man, die ältere Generation hat noch das Sagen, und die Opfer mussten sich schämen und verstecken.

Die Serie "Holocaust", die ihr Thema in den 1970er-Jahren erstmals breitesten Kreisen bekannt machte, die Geschichte der Opfer, der Vernichtung, durfte nur im Dritten Programm gezeigt werden. Das war damals noch Tabu, da gab es innerhalb der Gesellschaft ein großes Entsetzen: "Das wussten wir alle nicht".

Das war in den Schulen meistens nicht behandelt worden. Oder es waren nur die Offiziere, die viel zu spät das Attentat versucht hatten. Das waren die Widerständler gewesen, und ansonsten wurde alles mit den Worten unterschlagen: "Wir wollen es alles nicht mehr hören."

EE: Ich finde eigentlich, dass "Ganz unten" eine Sonderstellung einnimmt. Was Du als Ali da erlebst, ist in diesem Sinne sehr modern, aber die Beziehung Kapitalismus-Nazismus wird nicht so klar ausgesagt.

GW: Du meinst, ideologisch? Aber ich glaube, dass der Leser selber seine Konsequenzen zieht. Man muss es ihm nicht so direkt sagen. Er sollte selbst seine Schlussfolgerungen ziehen.

Und auch da hat sich vieles verschärft. Wo wir als Türken noch etwa acht Mark die Stunde bekamen, machen es heute die so genannten "Ostarbeiter", die in die Stelle der Türken treten, für zwei Euro die Stunde. Da gibt es jetzt Zulieferbetriebe für die Autoindustrie, auf den Baustellen, da wird schon für zwei Euro malocht.

Das sind Rumänen, Polen, aus dem Osten... und, wie gesagt, es gibt auf den Baustellen - jeder zweite bis dritte Arbeiter ist so ein Illegaler oder ein Halblegaler, der weder Krankenhaus- Behandlung noch Schulausbildung für die Kinder beanspruchen könnte.

Ich habe einen Fall in Berlin recherchiert. Es war der Fall eines rumänischen Eisenbiegers, der hatte sich auf einer Baustelle den Finger abgeflext - der Baustelle des Regierungsgebäudes - und ein deutscher Vorarbeiter von der Wirtfirma, Holzmann hieß die, nimmt den Daumen, schmeißt ihn in den nächsten Abfalleimer und sagt: "Hau hier ab! Du bist nicht angemeldet, wir kriegen große Schwierigkeiten. Wenn das wieder abgeheilt ist, kannst du noch mal vorsprechen, Gebe ich dir noch eine Chance ...".

Wallraffs Arbeitsmethoden

EE: Recherchen, ja - etwas zu deinen Arbeitsmethoden, vielleicht. Am Anfang hast du die ,teilnehmende Beobachtung' benutzt. Und dann das ,Happening' ...

GW: Happening ohne Einladung.

EE: Hast du diese Methoden ganz bewusst entwickelt oder ist es oft so gekommen? (Als Wallraffforscher muss ich hinzufügen: Vor seinem Rollenspiel - Wallraffen - erkundigte er sich immer ganz genau über die kommende Aufgabe, häufig durch Informanten innerhalb einer Firma. Seine Masken wurden ebenfalls sehr genau entwickelt. Sie wurden schon in den 1960er-Jahren notwendig, nachdem Arbeitgeber Steck- und Warnbriefe über Wallraff zu verbreiten begannen.)

GW: Es hat sich ergeben. Ich habe nicht viel vorbereitet. Es war notwendig, es kam aus dem Bauch, es war Reflex, oder auch eine Überlegung, eine Notwendigkeit, zeitbedingt auf Zustände, mit denen man konfrontiert wurde, mir war danach.

Und es hängt noch immer mit Spaß zusammen. Und ich glaube, ohne diesen Spaß, in den düstersten Situationen, entwickle ich Sinn für Situationskomik. Und wenn das nicht der Fall wäre, wäre ich heute vielleicht ein sehr verhärmter, leicht paranoider Mensch. Das Gegenteil ist der Fall. Ich bin Menschen [gegenüber] noch offener als früher und habe Menschenkenntnis. Die meisten Menschen, bei 90% von denen sehe ich eher die positiven Seiten, obwohl sie manchmal verschüttet sind, oder....

Damit habe ich auch positive Erfahrungen gemacht, weil selbst Spitzel, die auf mich angesetzt waren, ob über Detektivbüro, Springerpresse oder auch von anderen, die haben sich [mir] irgendwann offenbart. Es gab immer wieder Fälle, dass jemand sagte: "Du bist ja ganz anders, als mir als Vorgabe mitgegeben wurde!"

Und wir wurden Freunde, und das habe ich gerade auch vom Springerkonzern, nachher jemand, der sich [mir] anvertraute, der dafür gut bezahlt wurde (von Springer), mit dem habe ich gemeinsam den Spitzelbericht über mich geschrieben, um sie auf die falsche Spur zu locken (Lachen). Und ihnen falsche Manuskripte irgendwann zugespielt. Er ist heute noch ein Freund von mir.

Aber, das habe ich immer wieder erlebt, aber in meiner Arbeit selbst [gibt] es auch manchmal so groteske, surreale Situationen, dass ich dann auch daneben stehe und sage: "In welchem Film bin ich denn?" Es hat mehr mit Schwarzsehen zu tun ...

Öffentlichkeitsarbeit hat auch einen Preis...

EE: In einem Videofilm hat man dich unter anderem beim Paddeln gezeigt [in einem Fernsehfilm der Reihe "Menschen hautnah" von Martin Hilbert und Udo Prenzel, WDR, 6. März 2002 (Der Spiegel 11/2002)]

GW: Ja, das habe ich gelernt, als ich nicht mehr gehen konnte. Ich hatte solche Knochenprobleme, dass ich nur noch gekrochen bin. Und dann habe ich Kajak gelernt. Das kann man auch noch als Querschnittgelähmter. So habe ich die Oberkörpermuskeln trainiert - ich habe noch heute ein Seil, wo ich mich ohne Beine hochziehe, um meine Muskeln zum Kajakfahren zu trainieren.

EE: Im Film hast du auch diese Liegestützen gemacht, wo du Hände und Füße zusammenklappst, dann landest und so weiter. Kannst du das immer noch?

GW: Sicher (er führt sie ohne weiteres vor, wie ein Zwanzigjähriger. Wallraff ist Jahrgang 1942).

Ich habe dann aber Glück gehabt, durch zwei Operationen, bin auch wieder ein Jahr lang an Krücken gelaufen - und heute kann ich einen lockeren Marathon versuchen. Aber da habe ich ein paar Jahre gebraucht.

EE: Und das kam von Verletzungen an der Arbeit und ähnlichem?

GW: Vielleicht kann man es nicht genau sagen. Als es damals am Schlimmsten war, musste ich regelmäßig zu einem Spezialisten, der mir Injektionen gab, damit ich überhaupt wieder auf die Beine kam und die Arbeit fortsetzen konnte.

Da wurde ich manchmal am Wochenende in den VW gelegt, mit Liegesitzen und konnte nicht mehr sitzen, konnte nicht mehr im Zug fahren. Die haben mich dann zum Spezialisten in Freiburg gebracht und der hat mich dann mit Injektionen wieder hochgebracht, damit ich wieder die Dauerschichten machen konnte. Es gibt eine Danksagung im Buch ...

EE: Dauerschichten in der Fabrik, also?

GW: Als ich bei Thyssen war...die Giftstäube waren schon schädigend genug, ich hatte jahrelang schwerste Bronchitis, und heute noch, wenn Inversionswetterlage und Tief über Köln - eine sehr schlechte Wetterlage - ist, dann kommt bei mir auch wieder schwere Bronchitis zum Vorschein.

...und noch einen Preis

EE: Nach der Veröffentlichung von "Ganz unten" hatten wir noch die Diskussion, auch unter den Linken: "Wieso kann Wallraff die Türken so total vertreten?" - so in der Richtung.

GW: Das war eine Kampagne, die auch von einer bestimmten Presse inszeniert wurde. Sie war durch den Erfolg des Buches hervorgerufen. Der Erfolg war einfach so ungeheuerlich und so unverschämt - dass ein Stück Arbeiterliteratur die großbürgerliche Literatur plötzlich überholt und in den Schatten stellt, nicht. Von "Ganz unten" wurde innerhalb von einem halben Jahr zwei Millionen Exemplare verkauft. Es hatte die größte Auflage eines deutschsprachigen Buches in der Nachkriegszeit, in so einer kurzen Zeit.

Das hat einige völlig rasend gemacht. Sie glaubten, ihre Rangfolge wäre damit in Frage gestellt, und es war dann ein dicker [Artikel] im "Spiegel": "Die Türken packen aus" Aber es waren drei Türken von Dutzenden, die noch meine Freunde waren. Und der Hintergrund war unter anderem ein politischer und ein finanzieller. Ich hatte meine Papiere von zwei türkischen Arbeitern, mit einem bin ich heute noch befreundet.

Der andere, was ich nicht wusste, gehörte einer linken Splitterorganisation an, eine Abspaltung von Defsol, die den bewaffneten Kampf propagierte, damals noch. Der gab mir seine Papiere. Und als das Buch so einen Erfolg hatte - ich hatte ihn bezahlt in der Zeit - er war Taxifahrer, er brauchte nicht zu arbeiten in der Zeit. Zu seinem Geld vom Taxifahren kriegte er noch viel Geld dazu.

Dann kamen irgendwann zwei seiner Chefs aus Paris, ich kannte sie nicht. Sie sagten: "Wir haben dir die Papiere gegeben. Jetzt machst du für uns politische Veranstaltungen, Propaganda." Ich sagte: "Wer seid ihr?" Ich hatte sie noch bewirtet und ich dachte, sie waren Freunde von mir, die kamen hier an ...

Dann erfuhr ich: Das war eine Organisation, anti-gewerkschaftlich, die die Hauptfeinde innerhalb der Linken sieht, weil sie selber sich als die Speerspitze der Revolution bezeichnen. Ich sagte: "Tut mir Leid, es ist nicht mein Ding. Ich habe ihn, den Levent, um die Papiere [gebeten]." All das wusste ich nicht, und seitdem hatte ich Feinde.

Und darauf haben sich einige bürgerliche Zeitungen - natürlich - gestürzt. Das ging dann so weit, dass der irgendwann auch vorbei kam: "Ich will auch gerne Film studieren. Gib mir eine Bescheinigung, dass ich in deinem Film Ganz unten mitgearbeitet habe." Hatte er nicht, aber aus Gefälligkeit habe ich unterschrieben.

Neuer Prozess: Er hätte Honorare von dem Film zu bekommen, ich hätte es ja bescheinigt. Also, ich war richtig unter die Räuber geraten. Und eine bestimmte Presse hat das sehr, sehr genüsslich auszubreiten versucht.

EE: Also, diese Kampagnen und Diskussionen nach "Ganz unten" - haben die dich dann veranlasst, nicht mehr zu schreiben?

GW: Es war eine lähmende und traumatisierte Situation. Man sagt sich dann anschließend: Musst du dir das antun? Egal was du machst, es wird gegen dich verwandt. Und es hat mich sicher mit gelähmt, das würde ich schon sagen, ja.

Aber es hatte auch gesundheitliche Gründe. Dass ich zwischendurch wirklich herumkrebste und überhaupt nicht mehr auf die Beine kam, und nur unter Schmerzen noch gehen konnte. Das habe ich überwunden. Daher macht alles noch viel mehr Spaß.

Das war es sicher dann auch, aus so einem Riesenmaterial eine konzentrierte Geschichte, die auch noch juristisch standhielt, [zu schreiben]. Es ist immer wichtig. Ich weiß mehr, als ich veröffentlichen kann, ich muss noch Zeugen haben.

EE: Also, es gab viele Diskussionen nach dem Erscheinen von "Ganz unten". Du warst eigentlich "ganz oben", hast Prozesse vor Gericht gewonnen ...

GW: Immer wieder Prozesse, die meisten Bücher haben Prozessbegleitung gehabt, so dass die meisten Bücher von mir inzwischen gerichtsbeglaubichte Bücher sind. So ist es mit der amerikanischen Ausgabe gescheitert, wegen des Prozesses von "McDonalds". "Ganz unten" ist in 33 Sprachen übersetzt. Selbst in Ländern wie Island und Vietnam.

Zensur in den USA

Es gab eine Option bei - ich glaube, der Verlag heißt Little Brown, in den USA. Die hatten eine Option bereits und dann kam der Prozess gegen "McDonalds", den ich später gewonnen habe. Aber die wollten, dass ich den amerikanischen Verlag schadenfrei stellen würde, von der Höhe aller zu erwarten Gerichts- und Strafkosten. Dann haben wir gesagt: "Nur in der Höhe der zu erwartenden Honorare." Es war denen zu wenig und dafür ist das Buch nicht in den USA erschienen.

Da gab es aber auch andere Begründungen: Sie hätten keine Türkenprobleme in den USA. Aber das war schade.

EE: Als ich den Videofilm sah, hatte ich den Eindruck, Du möchtest immer noch "von unten" arbeiten. Plötzlich fast "ganz oben" zu sein, ist nicht deine Sache.

GW: Ich habe meine Lebensgewohnheiten nicht geändert. Wenn ich Geburtstag habe, gehe ich meistens laufen. Meinen 50sten habe ich zusammen mit den Vietnamesen in Rostock-Lichtenhagen gefeiert, als sie gerade das Brandattentat überlebt hatten.

Da wollte ein Verlag ein Riesenfest machen. Da bin ich abgehauen und hab' mit denen gefeiert. Die wussten aber nicht, dass ich Geburtstag hatte. Und meinen 60sten habe ich in Afghanistan verlebt, und habe von meiner Lebensversicherung, die gerade frei wurde, eine Mädchenschule gestiftet.

Mehr über Wallraff - 1985 bis heute

EE: Aber, direkt Wallraffen ging dann nicht mehr?

GW: - Wie gesagt, ich habe mal versucht, vor ein paar Jahren, zwischendurch habe ich allerdings meine Fortsetzung in Japan gemacht. Da habe ich im Großraum Tokio als iranischer Arbeiter gelebt, mit versteckter Kamera fürs japanische Fernsehen einen Film gemacht, der auch da ein ziemliches Aufsehen erregt hat. Das war Mitte der 1990er-Jahre.

Acht Millionen Menschen haben ihn gesehen, er hat breite Diskussionen ausgelöst, weil die Iraner in Japan ein Bisschen die Rolle der Türken [spielen], allerdings viel weniger. Man hat sie reingeholt, als man sie brauchte. Da wurden im Stadion von Teheran junge Männer - die mussten Eintritt bezahlen - die konnten dann über Lose ihre green cards bekommen. Als die Konjunktur den Bach runter ging, wollte man sie loswerden, und so gibt es jede Menge Illegale. Und einer von denen war ich dann, und habe das mit versteckter Kamera gemacht.

EE: Und dann?

GW: Ich war jetzt in Brasilien, wo es innerhalb des Amazonasgebiets Tropenholzabbau und überall Kahlschlag gibt. Dahinter liegen Rieseninteressen. Ich habe da recherchiert und auch bei einem Indianerstamm als Gast gelebt, um da noch einigermaßen authentisch ihre Kultur zu erleben. Aber es gibt Journalisten, die da ermordet werden, die sich da um diese Themen bekümmert haben.

Da habe ich auch Nachfolger in Brasilien. Die Ausgaben in Brasilien haben riesige Auflagen. Die 17. Auflage von "Ganz unten", damit hatte ich jetzt in vielen Städten Veranstaltungen, und traf Journalisten, die sich auf meine Arbeit auch berufen. Die unter noch viel größerem Risiko das machen, allein im Jahr 2004 wurden zwanzig umgebracht.

EE: Die Vernichtung des Regenwaldes immer ist noch so schlimm wie früher?

GW: Schlimmer. Es wird in noch größerem Ausmaß gemacht, und die Öffentlichkeit erfährt kaum was, aber es ist nicht nur Holzabbau und Raubbau, es geht da um Anbau von Viehfutter - und Sojabohnen sind jetzt eine große Sache. Die Brasilianer selbst profitieren davon.

Die fressen im Süden alle Unmengen von Fleisch. Das ist eine Essgewohnheit, die selbst die letzten Ressourcen mit vernichtet. Es sind nicht nur westliche Firmen, amerikanische Firmen. Japaner auch, die für Essstäbchen und Bauholz dieses Holz da abschlagen. Es sind ja Wegwerfartikel.

GW: Aber die Brasilianer selber kümmern sich so wenig darum, weil sie profitieren davon, und verbitten sich jede Form der Einmischung. Als ich bei Veranstaltungen über das Kulturerbe der Menschheit sprach, dann schlug mir eiserner Wind entgegen, da kippte fast die Veranstaltung. Da darf sich kein Ausländer [einmischen]. 95% der Brasilianer waren noch nie im Amazonasgebiet. Das ist für sie eine zu zähmende Wildnis.

EE: Mit dem Alter wurde es auch schwieriger, Jobs zu bekommen?

Gewiss hast Du Deine Kenntnisse erweitert und in einem breiteren Rahmen bearbeitet: In den 1980er-Jahren "zusammen leben", ein Wohn- und Integrationsprojekt in Duisburg; später Seminare an der Universität Hamburg zum Thema Wallraffen. In den 1990er-Jahren ein Filmprojekt in Japan; Anfang des 21. Jahrhunderts Stiftung einer Mädchenschule in Afghanistan, 2004/05 Recherchen in Brasilien, Engagement für Tschetschenien - alles internationale Vorhaben. 2007/08 ist Wallraffen in Deutschland wieder notwendig geworden.

GW: Ja, auf jeden Fall. An Baustellen zum Beispiel stellt man niemanden über 40 ein.

EE: Um wenigstens eine Probestelle in einem Callcenter zu bekommen, musst Du Dich um mindestens 15 Jahre verjüngen. Mit Perücke und einer frischen Sonnenbräune hast Du das geschafft. In der Brötchenfabrik (2008) gab es noch größere Probleme. Obwohl Du Dich äußerst sportlich gabst und auf Deinem Rennfahrrad ankamst, hegte der Arbeitgeber Zweifel an Deiner Fähigkeit, mit den jüngeren Arbeitern mithalten zu können. Erst nachdem Du auf Umwegen einen fadenscheinigen Vertrag geschlossen hast, der EU-Beiträge involvierte, konntest Du anfangen.

Den Veröffentlichungen in "Die Zeit" folgten dann Vorstöße in Richtung bessere Konsumschutzgesetze (2007) und der Einführung des Mindestlohns und andere Verbesserungen (2008). Eine weitere Geschichte kannst Du erzählen, wenn es um den (2008) genehmigten Moscheebau in Köln geht:

GW: Von Seiten der moslemischen Versammlung in Köln hat man mich gefragt, ob ich am Baukommittee mitwirken könne. Ich habe dann eine Bedingung gestellt: Nur, wenn genehmigt wird, dass ich in Zukunft in Moscheen aus Salman Rushdies "Satanische Verse" lesen darf.

Es kam nie eine Antwort. Stattdessen habe ich später zu hören bekommen, dass ich auf einer Liste über Todfeinde der Al Quaida stehe.

Hat das Wallraffen eine Zukunft?

EE:Wenn man die neueren Bücher berücksichtigt, gibt es doch eine Zukunft für das Wallraffen?

GW: Ja, und trotz ein paar Strafverfahren läuft der Verfasser von "Die da oben" und "Die da unten", den ich vorhin erwähnte, noch frei herum, weil einer seiner Großväter oder Urgroßväter einer der Generäle vom Langen Marsch war, und da hat die Familie noch einen gewissen Schutz. Aus dem Staatsfeudalismus wurde noch ein Schutzfaktor. Auch einer der Ärzte, der da an Transplantationen und Hinrichtungen teilgenommen hatte, lebt heute in Hamburg und hat das öffentlich gemacht.

EE: Über das, was Du machen möchtest, einmal hast Du einmal gesagt: "Literatur, das wäre das allerletzte!" Stehst du immer noch dazu?

GW: Es ist so: Ich wollte nie Literatur machen. Ich hatte nie das Bedürfnis, Literatur machen zu wollen. Und das hat auch Vorteile, weil so was eine unverstelltere Montageform, Collageform hat. Diese krassen Formulierungen lagen auch daran - weil ich die Werkstätte der Literatur der Arbeitswelt mitbegründet hatte - dass es Arbeiter gab, die selbst viel erlebt hatten, aber meinten, sie müssten eine bestimmte literarische Form gerecht werden. Dann fingen sie an, sich zu verkrampfen, und haben dadurch ihre Unmittelbarkeit, ihre Chancen vertan.

Denen habe ich dann auch solche überspitzten Formulierungen zur Hilfestellung empfohlen. "Redet erst mal so, wie euch der Schnabel gewachsen ist und wie ihr untereinander sprecht. Versucht nicht eine Hochsprache nachzumachen, die nicht eure Sprache ist." Sie schrieben dann so, wie sie in der Schule Literatur vermittelt bekommen hatten und glaubten, erst dann hätten sie ein Recht, über Literatur zu schreiben.

Also, das muss man auch zeitbedingt sehen, und wenn heute meine Arbeit auch den Literaturwissenschaftlern unter dem Aspekt des erweiterten Literaturbegriffs der Dokumentarliteratur behandelt wird, dann lasse ich mir das gerne gefallen.

Aber diese Schutzbezeichnung wollte ich auch nie annehmen, dass man sagt: "Ein Literat darf alles, derjenige aber, der die konkreten Fakten nennt, der steht in der Schusslinie." Ich wollte lieber in der Schusslinie stehen.

EE: Vielen Dank für das Interview.