Epos der Vertreibungen

"Die Hähne des Morgenrots" - der dritte Band der 'Insel-Serie' von Yasar Kemal

Von Norbert MecklenburgRSS-Newsfeed neuer Artikel von Norbert Mecklenburg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Die Hähne des Morgenrots" - ein ungemein farbiges, intensives, altersreifes, menschlich zutiefst anrührendes Stück Epik aus des Hand des großen türkischen Meistererzählers, mit dem es keiner der jüngeren Autoren, und sei er Nobelpreisträger, aufnehmen kann. Es handelt sich um den dritten Band des 'Insel-Zyklus', aber vermutlich nicht um den letzten.

Der erste Teil, "Die Ameiseninsel", und der zweite, "Der Sturm der Gazellen", sind inzwischen auch als Taschenbücher greifbar. Der Autor dürfte aber noch einen weiteren Band im Sinn haben. Denn der dritte bricht, wie die vorherigen, in der Mitte ab. So bleiben einige wichtige Handlungsfäden hängen: die Morddrohung gegenüber der männlichen Hauptfigur Musa, seine Liebe zu Zehra, der Tochter eines vertriebenen Kreta-Türken, dessen unstillbares Heimweh nach seiner größeren Insel und anderes mehr. Hoffentlich kann der fünfundachtzigjährige Autor den Abschluss dieses Zyklus noch schreiben, und hoffentlich steht dann auch sein hervorragender deutscher Übersetzer, der achtzigjährige Cornelius Bischoff, noch zur Verfügung.

Diese 'Ameiseninsel' Mirmingi (griechisch = Ameise) im Marmarameer hat ihren Namen von den Griechen, die im Rahmen der Zwangsumsiedlung 1923, im Jahr der türkischen Republikgründung, von ihr vertrieben worden sind. Sie wird nach dem Ersten Weltkrieg und dem türkischen Befreiungskrieg und ihren Grausamkeiten zu einem Zufluchtsort von Entwurzelten, Vertriebenen und Überlebenden. Sie leuchtet mit ihrer Naturschönheit und ihren von den Griechen hinterlassenen Häusern und Obstgärten in einer utopischen Aura auf. Wie Yasar Kemal jedoch selbst mitgeteilt hat, wird sie am Ende zur Wüste werden, weil die Menschen miteinander und mit der Natur auf Dauer nicht gut umgehen. Das wird hier bereits mit von Not getriebenen Verwüstungsaktionen angedeutet, aber noch nicht auserzählt. Dieses bittere Ende und Lehrstück ist also vermutlich für einen vierten Band aufgespart.

Der dritte ist, wie die beiden vorherigen, nicht selbständig, also kein eigener, problemlos für sich lesbarer Roman. Alle drei gehören als 'Lieferungen' eines einzigen epischen Werks zusammen und sollten am besten auch der Reihe nach gelesen werden. Das liegt vor allem an der Identität der Hauptfiguren. Der dritte Band ist leichter verständlich, wenn man die ersten beiden kennt. Denn wie ein grandioses Fugato baut sich in diesem Epos die Geschichte einer Neubesiedlung der verlassenen Insel auf: Erst landet ein einzelner Mensch auf ihr: der junge Tscherkesse Abbas, der sich Musa der Nordwind nennt, aus dem fernen Kaukasus. Dann kommt ein zweiter hinzu: der auf der Insel geborene, aber wegen Istanbuler Herkunft nicht vertriebene Grieche Vasili, der Abbas erst umbringen will, ihm dann jedoch das Leben rettet und sein Freund wird.

Später werden es nach und nach immer mehr Personen auf der Insel: Kapitän Kadri und seine Mutter Melek, Lena, die unerlaubt aus Griechenland auf ihre Heimatinsel zurückgekehrt ist, der kretische 'Agaefendi' und seine beiden Töchter Zehra und Nesibe, Handscharträger Efe, Tierarzt Cemil aus Van in der Osttürkei, zwei ehemalige Militärärzte, Salman Sami und Halil Rifat, ein Fischer vom Schwarzen Meer, Veli der Treffer, und seine Frau Sultan, Hasan, der Deserteur, Meister Arsen, Serife, Elif die Dunkle, der Lehrer Sitki Bey und noch viele mehr. Am Ende ist die Insel durch die Zuwanderer fast 'voll', nahezu alle Griechenhäuser sind bewohnt. In der Provinzstadt auf dem Festland gibt es, als Bezugspersonen der Inselleute, zum Beispiel den Finanzamtsdirektor Abdülvahap Bey, den Standesamtsleiter Üzeyir Bey, den Ladenbesitzer Hayri Efendi, den Großhändler Sükrü Efendi und leider auch den zwielichtigen Kriegsgewinnler Kavlakzade Remzi, der zum protegierten Provinzpolitiker und Mitglied der staatstragenden Republikanischen Volkspartei aufsteigt und eine entsprechend hohl tönende nationalistische Ideologie vertritt - ein ebenso komischer wie gefährlicher Typ.

Das Geschehen folgt im dritten wie in den vorherigen Teilen des Werks bei aller Vielfalt typisch epischer Abschweifungen einer einzigen großen Linie: Die verödete Insel wird nach und nach zu einer Zufluchtstätte des enracinement (Simone Weil), zu einer neuen 'Menschenlandschaft': Man hilft sich gegenseitig und lernt die Hinterlassenschaft der Griechen zu nutzen, von den Häusern und Bienenstöcken bis zu den Gärten mit Pfirsichen, Feigen, Granatäpfeln, Weintrauben und Oliven - alle von geradezu paradiesischer Güte. Man richtet die Windmühle wieder her und die Schule ein - zwei markante Symbole für einen elementaren Neuanfang. Und man versucht, auch mit Misslichem fertig zu werden: mit wilder Weintraubengier der Kinder, die die Ernte fast zerstören oder mit dem brutalen Fällen kostbarer Bäume wegen der Winterkälte. Mit diesen Problemen mögen jedoch auch schon schlimmere Dinge ihren Schatten voraus werfen, die in einem Folgeband zu erwarten und zu befürchten sind.

In erzählerischem Gegenzug zu der großen Linie des Zyklus unter dem Thema des Neuanfangs gibt es unter den Elementen, aus denen die Episoden zusammengesetzt sind, viele, die sich ständig wiederholen. Auch die Erstankömmlinge des ersten und zweiten Bandes bleiben noch im dritten die Hauptfiguren und ihre Lebensthemen bleiben die Hauptthemen. Herausragende Hauptfigur ist Nordwind, der schon mit sechzehn in den Krieg geholt worden ist und an Schlimmstem beteiligt war, als Mittäter, als Zeuge, als Opfer. Er ist zutiefst verstört durch diese Jahre der Kriegshölle und zugleich kraft des Insel-Paradieses von unbändiger, dankbarer, 'antäischer' Lebensfreude erfüllt. Deren liebevolles, warmherziges Überstömen macht sein Inselleben zu einer Kette aus guten Taten. Am Schluss erfährt er so etwas wie eine Neugeburt. Symbolische Begleitmusik dafür sind die "Hähne des Morgenrots", die dem Band den Titel (Originaltitel: Tanyeri Horozlari) gegeben haben. Zugleich jedoch steht Musa der Nordwind paradoxerweise unter ständiger Morddrohung: aufgrund eines aus dem Krieg fern im arabischen Osten herrührenden Rachevorhabens. Ein Gegengewicht dazu wiederum bildet die zarte, vorerst traumatisch überschattete Liebe zwischen Norbert und Zehra.

Leser müssen bereit sein, sich auf diesen epischen Rhythmus einzulassen, der sich weitab von den heute herrschenden, immer mehr kulturindustriell geprägten Erzähl- und Lektüremoden bewegt. Einerseits wird es einem sensiblen Rezipienten nicht schwer fallen, sich auf dieses meisterhafte epische Erzählen einzulassen. Sinnlich, ungekünstelt, prägnant, wie es ist, mit sicher sitzenden Strichen, von einem Wärmestrom menschlicher Liebe durchflossen, vergegenwärtigt es zugleich unerbittlich hart ein traumatisches Ereignisgeflecht der modernen türkischen Geschichte. Das Kernthema dieses historischen Erzählens: millionenfache, militärisch und politisch erzwungene Migration, ist aktuell wie wenige Themen.

Andererseits braucht man viel Geduld und ein ganz anderes als das heute übliche Lesetempo und -verhalten, um hier durchzukommen. Das liegt nicht nur an der Langsamkeit des Erzählens wie des Geschehens, sondern auch und vor allem an den unzähligen Wiederholungen, wie sie nur eine Fugenkomposition mit sich bringt. Ihr System muss man verstehen, um sie nicht lästig und langweilig zu finden. Da ist zum Beispiel Nordwinds psychisches Trauma, das seine Liebesfähigkeit blockiert, bis es sich, gegen Ende des Bandes, in und durch Liebe löst: eine grauenhafte, alptraumhafte Schock-Erinnerung an ein Massaker im Krieg, bei dem vielen Frauen die Brüste abgeschnitten wurden, bevor man sie ganz umbrachte. Dieses Trauma stellt Yasar Kemal eben nicht psychologisierend dar, sondern in quälenden Wiederholungen, welche die Seelenqual des jungen Ex-Offiziers auf epische Weise wiedergeben.

Oder da sind die endlos sich wiederholenden und variierten Berichte über Brennpunkte des Krieges, Sarikamis (der Berg Allahüekber) im Osten und die Dardanellen (Gallipoli) im Westen - auch das sind Quellen seelischer Traumatisierungen der ehemaligen Soldaten. Aber auch weniger Dramatisches wiederholt sich, wie praktisch alles: Immer wieder kommt die Ankunft eines Bootes oder Schiffs, gefolgt von einem Empfang durch die bereits Ansässigen, Beköstigung der ausgehungerten Flüchtlinge, fürsorgliche Einweisung in Häuser, überaus ertragreicher Fischfang - das war einmal im Marmarameer! -, Erledigungen und Einkäufe in der Provinzstadt und so weiter. Diese vielen Wiederholungen muss man als eine besondere Form des Epischen anerkennen lernen, um mit Kemals Erzählkunst warm zu werden.

Geduld braucht man auch, um manche Motive richtig zu erfassen: Da sind zum Beispiel die Goldstücke oder -münzen, die einige Figuren, nicht nur Nordwind, reichlich besitzen, um alles Mögliche und Nötige für sich oder andere zu kaufen: Ziemlich märchenhaft wirkt das, und erst langsam dämmert es einem, dass es sich dabei um Raubgut aus dem Krieg handeln muss. Man braucht als Leser auch Verständnis für eine historisch-geographisch-soziale Situation, in der Modernes - Kriegstechnik, Republikgründung, Motorschiffe und so weiter - mit Archaischem - Waffenbrüderschaft, Blutrache und so weiter - bruchlos zusammenläuft, und zwar permanent.

Jedoch ist Yasar Kemal kein archaischer oder archaisierender, sondern ein durch und durch moderner Epiker, aber eben ein Epiker, kein Romancier. Modern ist das verfremdende Einspielen von Altepischem wie Legenden. Modern ist das Zeit überdauernd gültige antimilitaristische Engagement, von dem das ganze Werk durch alle Bände erfüllt ist: So erscheint zum Beispiel der unter türkischen Nationalisten noch heute als Kriegsheld verehrte Enver Pascha völlig richtig als jämmerlicher und widerlicher Kriegsverbrecher: Das und ähnlich Kritisches behinderten die türkische Rezeption des Werks erheblich. Bleibend aktuell ist die strikte Verurteilung des 'Bevölkerungsaustauschs', eines brutalen Vorspiels all der nationalistischen, ethnizistischen Verbrechen gegen das Menschenrecht auf Heimat, die im 20. Jahrhundert noch folgen sollten und die auch im 21. Jahrhundert katastrophal weitergehen. Aktuell ist schließlich auch die unbestechliche, nüchterne bis beißend satirische Sicht auf problematische, korrupte Figuren unter den am Aufbau der Republik Beteiligten. Es ist ein Lehrstück in Hinblick auf die heute immer mehr zunehmende Verflechtung von Politik und Korruption.

Was sich bei oberflächlichem Blick wie eine historische Romanserie ausnehmen mag, ist in Wahrheit ein großes Epos der Vertreibungen, des Heimatverlusts, das aber paradoxerweise als Epos des Ankommens, des Entronnenseins, des Heimatfindens konstruiert ist. Die Lebens- und Leidensgeschichten vieler Personen werden auf epische Weise eingeblendet: überlebende Ansässige, versprengte Kriegsheimkehrer, nach Griechenland Abgeschobene, aus Griechenland oder der Osttürkei Zugewanderte, und das mit allen möglichen ethnischen Schattierungen. Das Epochenthema des Weltkriegs und seines historischen Umfeldes dominiert; damit ist düster verbunden: das Thema der Vertreibungen, der Massaker, des Völkermords, exemplarisch hier durchgeführt an dem türkischen Genozid an den Jesiden, von dem wir so wenig wissen, weil er von dem an den Armeniern überschattet wird. Er zieht sich als ein Leitmotiv durch alle drei Bücher.

Auch mit diesem Werk beweist Yasar Kemal, dass er zu den Großen der 'regionalistischen Internationale' in der modernen Weltliteratur gehört. Eigentlicher Hauptheld ist hier eine Insel. Sie wird von denen, welche auf ihr Zuflucht finden, als ein Paradies wahrgenommen. Die Insel als Utopie, als Mikrokosmos des 'einfachen Lebens', der Erneuerung, des zeitweiligen Aufscheinens eines anderen Lebens. Kemals Regionalismus ist, wie der anderer moderner Autoren, zugleich ein Elementarismus: als ein episches Loblied auf tragende Grundelemente menschlich-friedlichen Miteinanders trotz aller ethnischen und anderer Unterschiede. Und er ist ein Terrismus: als ein hymnisches Danklied an 'Mutter Erde', an die Natur und ihre Elemente, und als eine dringende Mahnung, Menschenliebe solle in Naturliebe fundiert sein. "Wer die Erde und das Meer liebt, liebt auch die Menschen."

Auch das ist zukunftsweisend, denn Zukunft hätte die Menschheit wohl nur durch Umbau der heutigen Gesellschaften eines immer zerstörerischeren 'Weltordnungskriegs' in eine solare und solidarische Weltgesellschaft - Kemals Regionalismus ist schließlich ein handfester, epochenresistenter Realismus: Die Ameiseninsel erscheint nicht als 'heile Welt', als geschlossene, sondern als offene Provinz. Die Geschichten der Menschen weisen in alle Himmelsrichtungen innerhalb und außerhalb der Türkei und Episoden spielen nicht nur in der benachbarten Stadt, sondern auch in Ankara und Istanbul. Das Inselgeschehen ist verflochten in die Umwelt des Kriegs- und Nachkriegsunheils, in die politischen und gesellschaftlichen Anfänge der türkischen Republik, die mit dem Unrecht der ethnischen Vertreibung unheilvoll gleichzeitig sind.

In einem Punkt muss sich Meister Yasar vielleicht ein wenig Kritik gefallen lassen: Obwohl er die Frauenfiguren strikt gleichwertig sieht und in Hinblick auf das Geschlechterverhältnis ganz modern denkt, etwa mit der Forderung, dass auch die Mädchen zur Schule gehen sollen, dominiert praktisch-episch doch die Männerwelt, und das in einem geradezu extremen Maß: Die zentralen Figuren sind Männer, ihre Beziehungen und Gespräche untereinander überwiegen weitaus die unter und mit Frauen. Diese erscheinen fast nur als 'dienstbare Geister'. Hier hätte man sich vom Autor doch mehr erzählerische Empathie für die weiblichen Figuren gewünscht. Warum muss denn zum Beispiel das Fischefangen unendlich intensiver beschrieben werden als das Essenmachen oder Wäschewaschen? Es gibt löbliche und eindrucksvolle Ausnahmen, auch Frauenschicksale werden exemplarisch eingeblendet, zum Beispiel Sultans Geschichte, aber im Ganzen dominieren doch die männlichen Kriegshelden und -opfer. Natürlich, der Krieg ist männlich, schrecklich männlich, aber die Utopie friedlichen Zusammenlebens lässt sich episch doch wohl kaum ausmalen, ohne dabei Frauen nicht nur menschlich, sondern auch episch gerecht einzubeziehen.

"Die Hähne des Morgenrots" sind nur einer von vielen interessanten Titeln des Türkei-Schwerpunkts der diesjährigen Frankfurter Buchmesse. Dieser zeigt, was für ein vielfältiges Angebot die türkische Literatur dem deutschen Leser bietet, auch wenn weit herausragende, mit Yasar Kemal gleichwertige Autoren wie Tahsin Yücel leider immer noch nicht übersetzt sind. Manche der neu übersetzten Romane wie "Verlorene Worte" von Oyar Baydar, "Glückseligkeit" von Zülfü Livaneli oder "Tschador" von Murathan Mungan mögen mit ihrer Erzählweise und ihrer aktuellen Thematik dem heutigen Leser mehr entgegenkommen als die "Hähne". An epischer Meisterschaft, menschlicher Substanz und kritischer Radikalität können sie sich mit dem Alterswerk der Insel-Romane des überragenden türkischen Erzählers nicht messen. Schon gar nicht jene so erfolgreichen wie sterilen, nach postmodernen Rezepten zusammenkonstruierten Produkte, deren Istanbuler Hersteller dafür auch noch einen Nobelpreis einheimste, der, wenn es mit rechten Dingen zugegangen wäre, Yasar Kemal gebührt hätte. Denn jener gehört zur Mode-, dieser zur Weltliteratur.


Titelbild

Yasar Kemal: Die Hähne des Morgenrots. Roman.
Übersetzt aus dem Türkischen von Cornelius Bischoff.
Unionsverlag, Zürich 2008.
348 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783293003866

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