Stolz, Pathos und Polemik

Christiane Leidingers akribische Biografie der Frauen- und Homosexuellenrechtlerin Johanna Elberskirchen

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ich bin schwul - und das ist auch gut so", rief der Politiker Klaus Wowereit im Juni 2001 seinen ParteigenossInnen zu und wurde dafür von allen Seiten bejubelt. Anfang des 21. Jahrhunderts war für einen solchen Auftritt hierzulande glücklicherweise kein sonderlicher Mut erforderlich. Was hätte schon groß passieren sollen? Schlimmstenfalls hätte er wenige Tage später bei der Wahl zum Regierenden Bürgermeister Berlins durchfallen können. Ärgeres hatte er kaum zu befürchten. Und auch dies geschah - wie man weiß - nicht.

Rund 100 Jahre zuvor wäre ein ähnlicher Erfolg eines bekanntermaßen homosexuellen Menschen ganz und gar ausgeschlossen gewesen. Stattdessen wäre dem Bekenntnis die gesellschaftliche Ächtung auf dem Fuß gefolgt. Und doch hatte sich im Jahr 1904 schon einmal jemand mit ganz ähnlichen Worten zu seiner, nein zu ihrer Homosexualität bekannt.

In einer ihrer sexualtheoretischen Schriften erklärte Johanna Elberskirchen: "Sind wir Frauen der Emanzipation homosexual - nun dann lasse man uns doch! Dann sind wir es doch mit gutem Recht." Damals gehörte noch weit mehr Courage zu diesem Bekenntnis, und so ist es nicht weiter verwunderlich, dass es von einer Frau stammt. Erstaunlich aber ist, dass es gerade eine Frauenrechtlerin war, die sich zu ihrer lesbischen Identität bekannte, wurden Feministinnen doch nicht nur in den 1970er-Jahren, sondern auch schon zu ihrer Zeit von Antifeministen und anderen Frauenfeinden mit dem Vorwurf konfrontiert, lesbisch zu sein und das gesamte männliche Geschlecht zu hassen, so dass sie sich oft genug genötigt sahen zu betonen, dass sie durchaus nichts gegen Männer hätten und keineswegs homosexuell seien.

Nachzulesen ist das Statement der ganz zu unrecht völlig unbekannten "Brückenfigur oder auch [...] Grenzgängerin zwischen Frauen- und Homosexuellenbewegung" nun in der ebenso umfangreichen wie gründlichen Biografie, die Christiane Leidinger unter dem auf Simone de Beauvoire anspielenden Titel "Keine Tochter aus gutem Hause" über Johanna Elberskirchen veröffentlicht hat, nachdem sie sich zuvor auf eine jahrelange Spurensuche der gebürtigen Bonnerin und sozialdemokratisch engagierten Schriftstellerin begeben hatte, die zum Studium in die Schweiz ging, dieses jedoch nicht abschließen konnte, da mehrere Jahre steckbrieflich nach ihr gefahndet und sie sogar mehrmals kurz inhaftiert wurde. Elberskirchen gehörte dem radikalen Flügel der Frauenbewegung ebenso wie der Homosexuellenbewegung an und arbeitete als "Naturärztin, Säuglingsfürsorgerin und Heilpraktikerin". All dies Stichworte, die den "atemlose[n]" und "zielstrebige[n]", dabei aber "beruflich wie politisch facettenreiche[n]" Lebenslauf dieser "unerschrockene[n], äußerst couragierte[n] und direkte[n], auch stolze[n] Frau" kennzeichnen, die Leidiger zweifelsohne zutreffend als "Freigeist" wie auch als "Einzelgängerin und Einzelkämpferin, wenn nicht gar Außenseiterin" charakterisiert.

Ähnlich wie bei anderen Feministinnen, SozialdemokratInnen und Homosexuellen der Vorkriegszeit liegt auch auf den Dokumenten, die Elberskirchens Leben und Wirken bezeugen, der dunkle Schatten des Nationalsozialismus. Wurden politische und biografische "Spuren" aus Sicherheitsgründen nicht von den Betroffenen selbst vernichtet, so waren sie - die Menschen wie die Dokumente - verloren, falls sie den Nazis in die Hände fielen, was viel zu oft geschah. Außerdem wurden zahlreiche Archive der Linken sowie der Frauen- und Homosexuellenbewegungen von den Nationalsozialisten zerstört. Hinzu kommt im Falle Elberskirchens und anderer sozialdemokratischer Feministinnen die Erschwernis, dass gerade die insbesondere in lokalen Archiven gelagerten Unterlagen zum "frühen frauenpolitischen Engagement" der Genossinnen und Arbeiterverein-Aktivistinnen 'aus Platzgründen' in den Aktenvernichtern landeten, ohne dass sie je ausgewertet worden wären. Dahinter steckt natürlich die Ansicht, Geschichte werde von 'großen Männern' gemacht und gelenkt. So beklagt denn auch Elberskirchens Biographin das "Fehlen solcher Zeugnisse".

Behindert wurde die Spurensuche zusätzlich dadurch, dass von Elberskirchen weder ein persönlicher Nachlass überliefert wurde, noch ein Tagebuch oder auch nur Briefe vorliegen. Dass Leidinger angesichts all dessen "zuweilen detektivische Arbeit" leistete, muss man ihr nicht glauben, denn das vorliegende Buch beweist es Seite für Seite. Wie man sich leicht denken kann, mussten dennoch "viele Fragen offen" bleiben. Angesichts der überaus gründlichen und umfangreichen Recherche verwundert es allerdings umso mehr, dass Leidinger gelegentlich auf die für ihre Fragwürdigkeit berüchtigte Internetquelle Wikipedia rekurriert.

Im Unterschied zur "traditionelle[n] Lebensbeschreibung", die eine historische Person "lediglich als individuelles geschlossenes Selbst begreift und sie dabei aus gesellschaftlichen Strukturen löst", nimmt die Autorin ganz bewusst eine bestimmte Perspektive ein, um Elberskirchens Lebensgeschichte mithilfe des "Prinzip[s] der Montage" zu "konstruieren". Sie lässt die Protagonistin ihrer Arbeit in einem "Kaleidoskop sozialer, kultureller und politischer Entwicklungen und Zusammenhänge" erscheinen, womit sie zugleich ein "Panorama der Zeit" entwirft. Diesen "dialektische[n] Prozess der Konstruktion einer Biographie" beschreibt Leidinger als "Zusammentragen und Lesen einerseits und Entziffern und Verstehen andererseits."

1864 geboren, lernte Elberskirchen vor und nach der Jahrhundertwende zahlreiche Feministinnen, SexualtheoretikerInnen und SchriftstellerInnen kennen, unter ihnen etwa Minna Cauer, Helene Stöcker, Magnus Hirschfeld sowie die Literatinnen Ella Mensch und Toni Schwabe. Um das Jahr 1891 begegnete sie ihrer späteren Partnerin Anna Eysoldt, die 1913 an einer langwierigen "Rückenmarkserkrankung" starb. Bereits im folgenden Jahr lernte Eberskirchen die damals dreiundzwanzigjährige Hildegard Moniac kennen, die als Tuberkulose-Patientin in einem Sanatorium untergebracht war, in dem Elberskirchen seinerzeit als "Naturärztin" arbeitete. Zwar war die Ärztin damals mehr als doppelt so alt wie ihre Patientin, doch schon bald bildeten beide ein Paar, dessen Partnerschaft erst mit dem Tod Elberskirchens im Jahr 1943 enden sollte.

Etwa sechzig Jahre zuvor - sie war damals kaum älter als Zwanzig - hatte Elberskirchen ihren "ersten und sogleich feministischen Text" veröffentlicht. Ihm sollten zahlreiche "(populär)wissenschaftliche Arbeiten" folgen, in denen sie die "Überheblichkeiten von Männern gegenüber Frauen" ähnlich wie Hedwig Dohm "direkt, ironisch, oft bissig", dann und wann auch sarkastisch parierte. Anders als Dohm neigte sie jedoch gelegentlich auch zur "aggressive[n] Polemik", die, wie Leidinger anhand etlicher Zitate zeigt, auch schon mal "über das Ziel hinaus" schoss.

Quer zu der Kritik an der - wie Elberskirchen selbst sagte - "Geschlechterpolitik" stand die Kritik der Sozialdemokratin an der "Klassenpolitik". Eine "Freundin von Haupt- und Nebensprüchen" war sie dabei allerdings nicht. Vielmehr zählte sie sich selbst zu den "Führerinnen der Frauenbewegung", ohne jedoch von ihren prominenten Mitstreiterinnen je als solche anerkannt worden zu sein. So blieben ihr die Seiten der feministischen Zeitschriften ihrer Zeit weitgehend verschlossen. Auch wurde sie offenbar nicht für Beiträge zu Sammelbänden angefragt. Ebenso wenig wurden ihre Texte von anderen feministischen Autorinnen zitiert. An ihrer gelegentlich eugenischen und rassehygienischen Argumentation kann das kaum gelegen haben, denn diese war sowohl in der Gesellschaft wie auch unter Feministinnen weit verbreitet. Eher wären die Gründe hierfür vielleicht darin zu suchen, dass sie sowohl biologistisch wie auch gleichheitsfeministisch argumentierte. Nun vertrat zwar die Mehrheit der Frauenrechtlerinnen ihrer Zeit biologistische Positionen. Die jedoch zählten zum so genannten gemäßigten Flügel des Differenzfeminismus, während die radikalen Gleichheitsfeministinnen um Anita Augspurg und Lida Heymann kulturelle und gesellschaftliche Ursachen für die Unterschiede im Verhalten der Geschlechter anführten. Ein weiterer Grund für Elberskirchens fast vollständigen Ausschluss aus dem seinerzeitigen feministischen Diskurs käme die spezielle inhaltliche Ausprägung des "proletarischen Biologismus" der sozialdemokratischen Frauenrechtlerin in Frage.

Leidinger vermutet allerdings einen anderen Grund für das Außenseitertum der "Einzelkämpferin". Und tatsächlich mag hierfür auch eine Rolle gespielt haben, dass Elberskirchen gegenüber andersdenkenden Feministinnen - etwa gegen die Radikale Minna Cauer und die den Gemäßigten zuzurechnende Ella Mensch - fast ebenso heftig vom Leder zog wie gegen Antifeministen. Daran hinderte sie weder ihr Schlachtruf "Wir gehören alle zusammen!" noch ihre Forderung "alle" Frauenrechtlerinnen sollten der Frauenbewegung "durch Zweck und Ziel" "solidarisch verbunden" sein. Denn wie Leidinger konstatiert, hatte Elberskirchen sehr "konkrete Vorstellungen, wer für dieses 'Wir' geeignet war und skizzierte damit ein normatives Bild einer aufrechten Feministin". Elberskirchen beharrte nicht nur nachdrücklich darauf, "feministisch sein" bedeute, "immer nur für die Gesamt-Befreiung des gesamten weiblichen Geschlechts [zu] kämpfen", und darauf, dass "die Befreiung der Frau [...] nur das Werk der Frau selbst sein" könne. Sie stellte auch hohe Anforderungen an die Persönlichkeit einer Frau, bevor sie bereit war, ihr die Ehre zuzusprechen, Teil der Frauenbewegung zu sein: "Die Frauenbewegung braucht wie jede fortschrittliche Bewegung ganze starke Menschen mit ganzer Sittlichkeit, mit starker Geistigkeit, die fähig sind, für ihre Sache bis in die innerste Seele zu erglühen und für sie zu kämpfen mit der Unerschrockenheit und Furchtlosigkeit freier, vornehmer Geister."

Nun, das sind historisch verblasste Auseinandersetzungen. Noch immer von aktuellem Interesse sind hingegen einige Themen, mit denen sich bereits Elberskirchen herumschlug wie etwa Vergewaltigung und Prostitution. Auf letztere warf sie in ihrer 1896 erschienenen Schrift "Die Prostitution des Mannes. Auch eine Bergpredigt - Auch eine Frauenlektüre" einen Blick, den sich heute viele PropagandistInnen der Prostitution verstellen. Denn es sind die Männer, besonders die Freier, die Elberskirchen mit scharfem Auge fixiert. Mit heute zwar befremdlich pathetisch klingenden Worten, aber in der Sache durchaus zutreffend geißelt sie die Doppelmoral von Männern, die Prostituierte verachten, aber nichts dabei finden, sich ihrer zu bedienen.

Es lohnt sich darum, hier einmal einen (der vorliegenden Biografie entnommenen) längeren Auszug aus besagter Schrift zu zitieren: "Da sitzen sie die Haupthelden der Farce, die Hauptsünder, die Hauptthäter, in den Parlamenten, den Richtersälen, den Betsälen, den Beichtstühlen u.s.w. u.s.w. und richten, verdammen, verwerfen, verurteilen das Weib für ihre Sünden, für die Bestialitäten, die sie selbst begingen, und spucken ins Antlitz dem Weibe und schlagen ans Kreuz das Weib, das ihnen vielleicht noch letzte Nacht gehört - dann gehen sie hin, waschen ihre Hände in Unschuld und parfümiertem Wasser, streichen wohlgefällig sich den wohlgepflegten Bart, recken hoch auf sich im behaglichen Bewusstsein ihrer unantastbaren und schönen Polizei-Moralität und - gehen dorthin wieder, woher sie schon oft kamen: zum verdammten verworfenen, gekreuzigten, zum prostituierten Weibe, sie die Reinen, die Moralischen, die Starken [...]. Hörte ich recht: die Prostitution wäre eine Notwendigkeit? Die Knute her, dass ich sie schwinge über Euch, dass sie niedersause auf Euch, dass sie Euch zeichne blutig und mit blutigen Zeichen und unvergesslich ihr Elenden - das ist notwendig, das! [...] Gebt den Prostituierten, was den Prostituierten ist: Achtung, Respekt, Ehre. [...] Wohl, Die Prostitution ist eine ökonomische Notwendigkeit. Nur aber Notwendigkeit für das Weib - nicht Notwendigkeit für Euch - nur Notwendigkeit durch Euch."

Wie sich leicht denken lässt, griff Elberskirchen Vergewaltigungen und Vergewaltiger mit ähnlichen Verve an. Dabei machte sie auch vor ihren sozialdemokratischen Parteigenossen nicht halt. Im Jahr 1896 wurde Karl Moor, seinerzeit führender Schweizer Sozialdemokrat in einem fragwürdigen Prozess von dem Vorwurf der Vergewaltigung frei gesprochen. Obwohl er nicht zum ersten Mal der "Unzucht" bezichtigt worden war, stellten sich all seine männlichen Genossen - und sogar manche Genossin - hinter ihn. Einzig Elberskirchen protestierte mit ihrer Broschüre "Socialdemokratie und sexuelle Anarchie. Beginnende Selbstzersetzung der Socialdemokratie?" gegen das Urteil, deren Argumentation Leidinger zufolge "herausragend" ist, weil sie damals schon "die Kritik an physischer, sexualisierter Gewalt gegen Frauen mit einer Strukturkritik zusammen dachte".

Ein weiteres Thema, mit dem sich Eberskirchen wiederholt - vor allem im Zeitraum von 1905 bis 1907 - befasste, war die Frage der Mutterschaft, in der sie eine dem "Bund für Mutterschutz" verwandte Position vertrat. Dabei hob sie hervor, dass die "geistige Mutterschaft" "mindestens so wertvoll wie die körperliche" sei und darum "als Kulturfaktor gewiss ebenso beachtet und geachtet werden" müsse wie diese.

In den letzten Jahren ihres Lebens zog sich Elberskirchen mehr und mehr ins Privatleben zurück. Zudem sah sie sich mit der nationalsozialistischen Machtergreifung ihrer Publikationsmöglichkeiten beraubt. Eine Aufnahme in die Reichschrifttumskammer hat sie gar nicht erst beantragt. Zwölf Jahre sollte sie unter der Diktatur leben und leiden, bevor sie 1943 nahezu achtzigjährig starb.

Dass das vorliegende Buch allen Lesekundigen wärmstens zur Lektüre empfohlen wird, muss nach dem bisher Gesagten wohl nicht mehr betont werden. Ganz ohne kritische Anmerkung kann aber auch diese Rezension nicht enden. Die oft zu detaillierten Angaben über die Anschriften von Wohnungen inklusive damaliger und heutiger Hausnummer etwa, die Anzahl der Schülerinnen an den von Leidinger besuchten Lehranstalten, die Klassenstärken, die Namen der Lehrenden in den Kollegien et cetera zeugen zwar von einer außergewöhnlichen Akkuratesse der Recherche, können aber während der Lektüre eine gewisse Ermüdung erzeugen. So spannend und abenteuerlich, wie Elberskirchens Leben verlief, erzählt die Autorin es jedenfalls nicht.


Titelbild

Christiane Leidinger: Keine Tochter aus gutem Hause. Johanna Elberskirchen (1864-1943).
UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 2008.
480 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783867640640

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