Facettenreiche Studie

Michael Brenner über das Judentum und seine Geschichte

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Christliche Autoren sahen die Geschichte der Juden oft als Teil des christlichen Heilplans an und deuteten das Exil, in dem Juden viele Jahrhunderte verbracht haben, als göttliche Strafe dafür, dass Juden den angeblich wahren Glauben, nämlich das Christentum, nicht erkannt hätten. Für die einen waren Juden das Volk Gottes, andere diskriminierten sie indes als Gottesmörder.

Jüdische Historiker erzählten hingegen die jüdische Geschichte als Geschichte einer religiösen Minderheit, die sich dem Staat, in dem sie lebte, anpasste und zu dessen Wohl beitrug. Für spätere jüdische Historiker in Osteuropa waren die Juden durchweg eine eigenständige Nation unter anderen Nationen, die kein eigenes Territorium besaß und deren politische Autonomie in der Institution der jüdischen Gemeinden zum Ausdruck kam. Zionistische Historiker wiederum stellten das Land Israel in den Mittelpunkt und erblickten in der Zerstreuung der Juden unter andere Völkern nur ein Zwischenstadium bis zur endgültigen Rückkehr in das Gelobte Land. Nach dem Holocaust wird die Geschichte der Juden häufig nur noch als eine einzige Aneinanderreihung von Verfolgungen wahrgenommen - mit dem Holocaust als logische Konsequenz von Antijudaismus und Antisemitismus. Zunehmend werden heute Juden auch vielfach aus der Perspektive des Nahostkonflikts betrachtet.

Erfreulicherweise vermeidet Michael Brenner, Dozent für Jüdische Geschichte und Kultur an der Universität München, in seinem Buch "Kleine jüdische Geschichte" alle einseitigen Gesichtspunkte. Stattdessen entwirft er ein vielseitiges und farbiges Bild vom Judentum und seiner Geschichte. Er weist darauf hin, dass Juden, obwohl sie immer nur eine kleine Minderheit waren (insgesamt machten sie niemals mehr als ein Prozent der Weltbevölkerung aus), ihre Spuren in zahlreichen Kulturen hinterlassen, die großen Weltreligionen mitgeprägt und eigene Lebenswelten entwickelt haben.

Sachkundig und gründlich schneidet er eine Fülle von Themen und Problemen an, sodass nicht nur unkundige Leser den Ausführungen gebannt folgen werden, sondern auch jene, die ohnehin schon vom Judentum und seiner Geschichte begeistert sind, in ihrer Faszination noch bestärkt werden. Der rote Faden, der sich durch das von der ersten bis zur letzten Seite fesselnd zu lesende Buch zieht, ist die Thematisierung der Migration. Juden seien zwar nicht immer auf Wanderschaft gewesen, merkt Brenner an, gleichwohl habe Wanderschaft die jüdische Geschichte über sämtliche Epochen und Kontinente hinweg bestimmt. Jedes Kapitel beginnt daher mit der Geschichte einer Wanderung und einer prächtigen Illustration aus der Pessach-Haggada.

Zwischendurch tauchen Bilder von Rembrandt und Michelangelo auf, ein modernes Aaron-Hicks-Poster von Mose mit schwarzer Hautfarbe sowie Bilder von den Höhlen von Quamram am Toten Meer, in denen 1947 die Sammlung antiker biblischer Schriften gefunden wurde. Eine andere Abbildung zeigt die 1866 eingeweihte "Neue Synagoge" in der Oranienburger Straße in Berlin im maurischen Stil, der den Berliner Juden das "goldene" spanisch-jüdische Mittelalter als Beispiel einer gelungenen Symbiose der Juden mit ihrer Umwelt vor Augen halten sollte und der, wie bei vielen anderen Synagogen in Deutschland auch, auf die orientalische Herkunft der Juden anspielt.

Brenner beschreibt die mythischen Anfänge der jüdischen Geschichte von Jakob bis zum Staat Israel und macht deutlich, dass die Hebräische Bibel das wohl erfolgreichste und einflussreichste Buch der Weltliteratur ist und in vielfältiger Weise das Bewusstsein der Juden geprägt hat.

In anderen Kapiteln geht es um Priester und Propheten, um die Aufspaltung der jüdischen Gesellschaft in drei Gruppen: Pharisäer, Sadduzäer und Essener etwa um die Mitte des 2. Jahrhunderts vor der Zeitrechnung.

Die spätere Zerstörung des Tempels mag, vermutet der Autor, zum Erfolg einer zunächst jüdischen Sekte beigetragen haben, die den Erlösungsgedanken radikal von der Wiederherstellung politischer Souveränität trennte und später als Christentum zu einer eigenen Religion wurde, die dann im 4. Jahrhundert zur herrschenden Kraft wurde, nachdem Kaiser Konstantin das Christentum zur Staatsreligion erhoben hatte. Natürlich kommt Brenner auch auf das ambivalente Verhältnis zwischen Christen und Juden zu sprechen, auf Kirchenväter wie Hieronymus und Augustinus, die die theologischen Grundlagen für die Politik gegenüber den Juden legten und auch auf Mohammed, mit dem im Jahr 622 zwischen östlichem Mittelmeer, Rotem Meer und Persischem Golf der Siegeszug des Islam einsetzte, sodass die große Mehrheit der Juden unter die Herrschaft dieser Religion geriet. Unter dieser fand das geistige Leben der jüdischen Gemeinden sein wichtigstes Zentrum für viele Jahrhunderte im Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris. Die als "Goldenes Zeitalter" benannte Epoche spielte sich ebenfalls unter muslimischer Herrschaft in "al Andalus" auf der Iberischen Halbinsel ab und brachte zwischen dem 10. und dem 12. Jahrhundert bedeutende Dichter, Philosophen, Bibelexegeten, Wissenschaftler und Staatsmänner hervor, wie den im christlichen Toledo lebenden Juda Halevi und den im muslimischen Cordoba geborenen Maimonides (Moses ben Maimon).

Brenner erinnert ferner an die unheilvollen Auswirkungen der Kreuzzüge auf aschkenasische Juden und die Verschlechterung der Beziehungen zwischen Kirche und Synagoge ab dem 13. Jahrhundert durch die neuen Ordensgemeinschaften der Dominikaner und Franziskaner. Dann wieder beschreibt er anschaulich jüdisches Gemeindeleben, die Entstehung des Chassidismus Mitte des 17. Jahrhunderts, das Leben von Betteljuden, Landjuden, Hofjuden und Aufklärern, die Bildung größerer Gemeinden in Prag, Frankfurt am Main und Worms, ferner in Hamburg, Berlin, Mannheim, Hanau und Fürth. Zwischendurch geht Brenner auf das Wirken einzelner Persönlichkeiten ein, wie etwa auf das von Moses Mendelssohn, auf die Anfänge des amerikanischen Judentums und vieles anderes mehr bis hin zur Neubelebung jüdischen Lebens in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg und die Auflösung der Sowjetunion mit all ihren Folgen, nämlich der Emigration von über 100.000 russischer Juden, die heute die Mehrheit in den jüdischen Gemeinden in der Bundesrepublik bilden.

Zwischendurch wirft der Autor auch einen Blick auf das jüdische Leben, das sich inzwischen in Australien, Südafrika, Kanada und Lateinamerika intensiv entwickelt hat.

Und wie steht es mit Israel? fragt Michael Brenner und meint, als jüdischer Staat habe Israel eine weit über den Nahostkonflikt hinausreichende Wirkung auf den Gang der jüdischen Geschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgeübt und bleibe wohl auch weiterhin das wichtigste Einwanderungsland für verfolgte Juden, denn selbst im 21. Jahrhundert werde jüdische Identität immer wieder bedroht.

Kein Zweifel: der Titel "Kleine jüdische Geschichte" stapelt tief, denn vollständiger, attraktiver und aktueller dürfte gegenwärtig eine ähnliche Darstellung auf dem Buchmarkt kaum zu finden sein. Zudem dürfte sich der facettenreiche Band bald als wichtiges unentbehrliches Nachschlagewerk herausstellen für alle, die sich über das Judentum und seine wechselvolle Geschichte, die sich über 3000 Jahre und fünf Kontinente erstreckt, informieren möchten.


Titelbild

Michael Brenner: Kleine jüdische Geschichte.
Verlag C.H.Beck, München 2008.
384 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783406576683

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch