"Konfus und hymnisch und schwer zu begreifen"

In Erich Wolfgang Skwaras "Entwurf einer Wüste" wird viel geredet, aber nur wenig gesagt

Von Jens ZwernemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Zwernemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer kennt sie nicht, jene Leute, die nicht nur viel, sondern vor allem viel über sich selbst reden? Sollte es sich bei den derart Redewütigen um Verwandte fortgeschrittenen Alters handeln, so tut man als potentiell Erbberechtigter natürlich gut daran, ennuyante Monologe über die gute alte Zeit oder die neuesten Wehwehchen möglichst stoisch lächelnd über sich ergehen zu lassen. Doch weitaus schlimmer noch, so wird zumindest landläufig behauptet, als das Redepotential lebenserfahrener Damen und Herren ist angeblich der fast schon zwanghafte Monologisierungsdrang von Lehrern: Allen lernpsychologischen Theorien zum Trotz sollen diese sich - möglicherweise als Resultat einer irreversiblen déformation professionelle - besonders darin gefallen, die ihnen mehr oder minder hilflos Ausgelieferten in Grund und Boden zu reden. Ob diesem Stereotyp mehr als das jedem Gerücht allgemein zugestandene Quäntchen Wahrheit innewohnt, muss hier einstweilen offen bleiben. Ein Blick in Erich Wolfgang Skwaras "Entwurf einer Wüste" hingegen führt einen Repräsentanten der Spezies 'Lehrer' vor Augen, dessen ungebremster Redefluss wohl jedem Reformpädagogen nächtlichen Angstschweiß auf die Stirn treiben würde.

Namenlos ist er, jener "Lehrer", den der österreichische Schriftsteller Skwara, seines Zeichens nicht nur Autor, sondern auch Professor für deutsche Literatur an der San Diego State University, schon vor Jahrzehnten seine Stellung an einem Gymnasium in Österreich hat aufgeben und sich nun als Deutschlehrer an einem amerikanischen Internat seine Brötchen verdienen lässt - jegliche (auto-) biografischen Parallelen sind sicherlich rein zufällig. Als "nicht mehr jung, von brüchiger Vornehmheit, Linguist und Geiger, vielleicht ein Trinker" führt der Autor seinen Protagonisten - er bezeichnet ihn, wie die übrigen Figuren auch, als "Schatten" - im "Prolog" seiner Erzählung ein, die in insgesamt vier als "Bilder" überschriebenen Kapiteln die Beziehung des Lehrers zu seinem ehemaligen Lieblingsschüler Capron darstellt, der ihn im fernen Amerika in seiner ihm unerträglichen Isolation besucht: "Da sitzen Sie also und wollen zwei Tage mein Gast sein: lieber Capron, das verändert mein Leben. Bedeutet doch Ihr Besuch den ersten Besuch überhaupt, denn keiner besucht mich hier, wo ich lebe, keiner, vermute ich, weiß, wo ich bin, und meine Freunde: kleine Beamte, Lehrer wie ich, Versager wie ich, haben keinen Mut für die Überfahrt, die Überquerung des Atlantischen Ozeans [...]".

Während dabei in der Stimme des Lehrers schon so etwas wie ein Hauch von Frustration anklingt, ist Capron seinerseits mit "Mitte zwanzig" zunächst vor allem eins: jung. Das wiederum lässt die homoerotischen Begehrlichkeiten seines ehemaligen Lehrers schon bald deutlich werden, der sich damit als - nicht nur aus dienstrechtlicher Perspektive problematische - Melange aus "Päderast und Pädagoge" outet, umgibt er sich doch in seinem Internat in New Hampshire vornehmlich mit sportiven Jungen, denen er in allnächtlichen Symposien bei überreichlich Alkohol und Zigaretten nicht nur das Eine, sondern auch das Andere aus seinem Leben erzählt.

Doch erst mit der Ankunft seines persönlichen Alkibiades läuft der Lehrer zu sokratischer Höchstform auf und mutiert zu einem jener Aristophanes'schen "Erhabenheitsschwätzer", deren Monologe zwar wortgewaltig, gleichzeitig aber auch ziemlich inhaltsarm sind: "Sie sprechen so viel und schweigen dabei, wollen offenbaren und lassen offen, kleiden in Wortlawinen, was nur weniger Worte bedürfte", stellt selbst Capron bald ermüdet fest, und wenn er den Redeschwall des Älteren als "[k]onfus und hymnisch und schwer zu begreifen" charakterisiert, wird ihm kaum ein Leser widersprechen wollen. Auf Seiten des Dauerredners wiederum scheint zumindest für einen Moment ein Flämmchen Selbsteinsicht auflodern zu wollen: "ich rede nun einmal zuviel, zuviel vor allem, wenn ich nichts zu sagen habe. Aber mein Geschwätz, mein Monolog ist auf keinen Fall schlimmer, als wenn Sie oder irgendwer Ihren oder seinen Monolog abwickelten." In diesem Punkt allerdings irrt der Philologe, geht sein Redeschwall doch nicht in einer x-beliebigen sprachlichen Varietät auf die Leser nieder, sondern in "prachtvolle[m] Burgtheaterdeutsch", wodurch seine Ausführungen zwar einerseits viel künstlerischer, andererseits aber auch noch viel enervierender werden - dies umso mehr, als sich herstellt, dass er durch seine oratorischen Orgien eigentlich nur seiner ausgewachsenen midlife crisis Herr zu werden versucht: "Erwarten Sie nicht, daß ich meine Verwandlung erkläre, Ihnen Widrigkeiten erzähle, und schon gar nicht die Bitternis, die einen Mann meiner Art erfüllt, wenn er erst verstehen muß, daß die Jugend, die Schönheit der Knaben, die Möglichkeit der scheuesten Berührung keine feste Institution [...] ist, sondern - und daran bin ich gescheitert - Vorrecht und Seltenheit."

Nachdem es dem sokratisch postfigurierten Pädagogen dergestalt dämmert, dass ihn sein justiziables Verlangen nach den jugendlichen Körpern seiner Schüler schnell in Teufels Küche bringen könnte, versucht er seine Fleischeslust anderweitig auszuleben und reist mit dem von ihm abgöttisch Adorierten nach Boston, um sich dort an den Diensten käuflicher Damen zu delektieren: "Ich wage es, Träume zu träumen, aber was für armselige Träume! Sie auszusprechen in ihrer Billigkeit, nur das könnte mich ängstigen. Da gehe ich lieber zu den Huren von Boston und verhandele mit ihnen und laufe am Ende doch davon, weil ich ein Schatten der deutschen Sprache bin, dieser blutlosen Widrigkeiten, die uns den Beischlaf untersagen -". Der Ausflug gerät zum erotischen Fiasko, da die sich prostituierende Dame eigentlich auch eher mit dem jüngeren der beiden aufs Zimmer gehen möchte, dieser aber ob der sexuellen Gelüste seines Mentors zutiefst echauffiert ist: "Ich bin enttäuscht über Ihre Entscheidung zur Bostonfahrt, nur um in diese Straße zu kommen, deren Reiz für den Lehrer auch der nicht begreift, der denselben zu kennen glaubte, und der seines Lehrers Homoerotik als Basis der pädagogischen Arbeit, aber auch dessen musikalischer Gaben [...] bewundert hat."

Somit verlassen beide unverrichteter Dinge den Ort des (Nicht-)Geschehens und Capron stellt fest, dass ihnen doch (dies eine herrlich prätentiöse Formulierung) der "geistige [...] Beischlaf" zur Befriedigung wenigstens ihrer intellektuellen "Wollust" bleibe; dass dabei sicherlich nur der Lehrer auf seine Kosten kommt, versteht sich fast schon von selbst. Trotzdem versinkt der Pädagoge zunehmend in einer Welle von Selbstmitleid: "Ich gehöre der Violine und der deutschen Sprache: zwei Sprachen, die gemeinsam den Tod vertreten. Bald wird niemand mehr meine Sprachen sprechen, in der kommenden Eiszeit der Sieger." Apropos "Sprache sprechen" oder eher "schreiben": All jene, die sich mit den diversen Versionen der mittlerweile schon inflationär 'nachgebesserten' Orthografiereform nie recht anfreunden konnten und die sich anlässlich der jüngsten Gedanken Herrn Zehetmaiers zur (horribile dictu!) "Eindeutschung" von Fremdwörtern fragen mögen, in wessen Hände eigentlich das orthografische Schicksal einer Sprache gelegt wurde, die doch wenigsten ehedem die von Dichtern und Denkern war, werden sich darüber freuen, dass Skwara ein Anhänger der präreformatorischen Rechtschreibung ist - die Qualität seiner langatmigen, befremdlich artifiziellen und letztlich völlig anämischen Erzählung vermag dies allerdings leider auch nicht zu steigern. Denn während er seinen Protagonisten am Ende - wie immer eine Spur zu pathetisch - die deutsche Sprache als "Distel, die blaue Blume der Distelblüte" imaginieren und ihn von einer "sprachlosen Dichtung, die zu lesen und zu sterben verlangt" träumen lässt, braucht Skwara selbst viel zu viele Wörter um damit erstaunlich wenig zu sagen.


Titelbild

Erich Wolfgang Skwara: Entwurf einer Wüste.
Mitterverlag, Wels 2008.
84 Seiten, 15,40 EUR.
ISBN-13: 9783950227727

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