Der Mensch als Subjekt und Objekt des Wissens

Reiner Keller plädiert für eine wissenssoziologische Relektüre des Foucault'schen Werkes

Von Fehmi AkalinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fehmi Akalin

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gemäß ihrer im Klappentext formulierten Zielsetzung möchte die Reihe "Klassiker der Wissenssoziologie" "vornehmlich" jene Autoren einem größeren Publikum vorstellen, "zu denen bislang keine oder kaum einführende Literatur vorliegt". Dass diese Programmatik gerade im Falle Michel Foucaults schwerlich als Referenzpunkt in Anspruch genommen werden kann, darf man getrost anmerken, ohne das Risiko einer Beanstandung eingehen zu müssen. Denn der französische Denker gehört auch fast ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod nicht nur zu den meistzitierten Autoren in den Geistes- und Kulturwissenschaften, sondern dank provokanter Thesen und innovativer Themen auch zu den beliebtesten und dankbarsten Analyseobjekten im florierenden Genre der Person-zentrierten Einführungsliteratur. Angesichts dieser Hypotheken ist es umso bemerkenswerter, dass Reiner Keller mit dem vorliegenden Buch sowohl eine exzellente Einführung in das Werk Foucaults als auch eine durchweg originelle und anregende wissenssoziologische Relektüre desselben gelungen ist.

"Foucault als Wissenssoziologen zu lesen", wie Keller sein Anliegen formuliert, ist dabei zunächst alles andere als selbstverständlich. Zwar gehört der Wissensbegriff spätestens seit der Studie über "Die Geburt der Klinik" (1963) zu den Schlüsselwörtern des Foucault'schen Forschungsprogramms. Bereits in seiner Wissenschaftsstudie "Die Ordnung der Dinge", mit der ihm 1966 der internationale Durchbruch gelang, meldete Foucault jedoch starke Zweifel am Wissenschaftsstatus der Soziologie an. Zusammen mit der Psychologie, der Pädagogik, der Kriminologie und den Politikwissenschaften zählt Foucault die Soziologie zu den "Humanwissenschaften" und damit zu den nicht-wissenschaftlichen Erkenntnisformen - und setzt sie konsequent in Anführungszeichen, um deren unwissenschaftlichen Charakter auch optisch zu markieren. Wiewohl Foucaults Fundamentalkritik der Menschheitswissenschaften einen der Fluchtpunkte des frühen Foucault ausmacht, tut Keller gut daran, sich weder von dessen zwar durchaus berechtigter, in letzter Konsequenz jedoch überspannter und inkonsequenter Soziologiekritik beeindrucken zu lassen, noch sich mit dem bloßen Hinweis auf die evidente Prominenz des Wissensbegriffs in Foucaults Schriften zu begnügen - er setzt viel fundamentaler und systematischer an.

In zwei Schlüsselkapiteln, die den größten Raum des Buches einnehmen, entfaltet Keller seine Grundthese, "dass sich die Überlegungen Foucaults gewinnbringend auf wissenssoziologische Fragestellungen anwenden lassen". Im ersten dieser beiden Hauptkapitel rekonstruiert der Autor das Foucault'sche Forschungsprogramm, indem er die "allgemeine[n] Grundannahmen seiner 'interpretativen Analytik'" diskutiert und "zentrale Konzepte" ('Archäologie und Genealogie', 'Diskurs', 'Macht/Wissen', 'Gouvernementalität', 'Dispositiv') vorstellt, die Foucault "zur Charakterisierung seiner Arbeitsweisen und Forschungsinteressen" entwickelt hat. Da Foucault mit Ausnahme von "Die Archäologie des Wissens" (1969) - seiner einzigen Monografie, die keine empirische Untersuchung enthält, sondern sich ausschließlich reflektierenden und methodologischen Fragen widmet -, sonst "nirgends eine geschlossene Darstellung seines empirischen Arbeitens" geliefert hat, gehören die Ausführungen Kellers in diesem Kapitel zu den instruktivsten des ganzen Bandes. Keller zufolge ging es Foucault stets um den "empirischen Nachweis der Kontingenz der menschlichen Lebensweisen und des jeweils als 'wahr' geltenden Wissens"; hinter dieser Zielformulierung lasse sich die Überzeugung Foucaults erkennen, dass "das, was heute in gesellschaftlichen Handlungsfeldern als selbstverständlich, evident, vernünftig usw. gilt, letztlich die Folge eines historischen Prozesses ist, der aus einer Vielzahl von Möglichkeiten nur sehr begrenzte, eingeschränkte und einschränkende Formen [...] verfestigt und durchgesetzt hat".

Im zweiten Großkapitel seines Buches nimmt Keller insbesondere die materialen Analysen, die Foucaults eigentlichen Ruhm begründet haben, chronologisch unter die Lupe. Angefangen mit "Wahnsinn und Gesellschaft" über "Die Geburt der Klinik" und "Die Ordnung der Dinge" sowie "Überwachen und Strafen" und "Der Wille zum Wissen" bis hin zu "Der Gebrauch der Lüste" und "Die Sorge um sich" lässt sich Keller zufolge Foucaults "lebenslange[s] Forschungsprojekt" auf die leitende Frage zuspitzen, "[w]elches Wissen, welche Normen, welche Praktiken und welche Erfahrungsweisen" den modernen Menschen zu dem gemacht haben, was er heute ist.

Foucault selbst hat in der Rückschau mit der 'Achse des Wissens', der 'Achse der Macht' und der 'Achse der Ethik' drei Weisen der historischen Subjektkonstitution unterschieden und entlang dieser Achsen auch eine Phaseneinteilung des eigenen Forschungsprojektes vorgenommen. Folgt man dieser Einteilung, durchziehen Foucault zufolge alle drei Achsen sein erstes Großwerk über die "Geschichte des Wahns", während in den nachfolgenden Arbeiten jeweils eine der Achsen in den Vordergrund rückt. Dominiert in den 'archäologischen Schriften' der 1960er-Jahre noch die Achse des Wissens die Forschungslogik, so gewinnt in der anschließenden 'genealogischen Werkphase' Mitte der 1970er-Jahre, welche nach wie vor die größte Aufmerksamkeit (nicht nur der Soziologie) absorbiert, die Machtdimension gegenüber den beiden anderen Dimensionen eindeutig an Gewicht. Mit dieser Hinwendung zur 'Frage der Macht' verlässt Foucault für viele Kritiker seines textualistischen Ansatzes die engen Bahnen der Diskursanalyse und überwindet so die Schwelle zur Sozialtheorie. Auf der anderen Seite bringt freilich gerade diese polemologisch halbierte Sozialtheorie Foucault den Vorwurf ein, Gesellschaftsgeschichte rigoros auf Vorgänge der Macht zu reduzieren, sodass das von ihm abgelehnte vereinheitlichende Modell der Geschichtsschreibung nolens volens auf ihn selbst zurück falle. Erst im zweiten und dritten Band seiner Geschichte der Sexualität, die kurz vor seinem Tod im Jahre 1984 erscheinen, überwindet Foucault diesen 'Monismus der Macht', indem er endlich der ethischen Achse eine Zentralposition einräumt. Wie Keller darauf hinweist, geht es ihm dabei nun "nicht mehr um die Frage, wie Subjekte von außen - durch die gesellschaftlichen Macht-Wissens-Beziehungen - konstituiert werden", sondern um die "Selbst-Verwirklichung des Subjekts".

Man kann in dieser Werkentwicklung Foucaults eine konzeptionelle Versöhnung von (Post-)Strukturalismus und phänomenologischer Handlungstheorie erblicken; man kann darin aber auch wahlweise eine Hinwendung zur Theorie der Praxis oder aber einen Rückfall in die Subjektphilosophie sehen, als deren schärfster Kritiker Foucault einst angetreten war. Für Keller sind solche Fragen nach der Kontinuität und Diskontinuität der Foucault'schen Werkgeschichte von eher nachrangiger Bedeutung. Auch wenn er dessen Wissenssoziologie mehrfach in die Nähe der qualitativen Sozialforschung rückt und somit vorschlägt, diese "im heutigen soziologischen Verständnis interpretativer und hermeneutischer Forschung zu lesen", so plädiert Keller letztlich doch dafür - und das durchaus im Einklang mit Foucault -, dessen Arbeiten als Steinbruch für eigene (wissenssoziologische) Forschungsziele zu nutzen, als 'Werkzeugkisten', "aus denen man sich nach eigenen theoretischen und praktischen Zwecken bedienen" kann.

Ob sich Foucaults Forschungsprogramm als ernsthafte "Herausforderung und Anregung für die gegenwärtigen Wissenssoziologien" erweisen wird, muss sich noch zeigen. Zwar hat die historisch interessierte Literatursoziologie - um nur ein markantes Beispiel zu nennen - die wissenssoziologischen Überlegungen Foucaults bereits in den 1980er-Jahren gewinnbringend in ihr Forschungsdesign implementieren können, aber in der mainstream-Soziologie überwiegt noch die Skepsis gegenüber Foucault. Reiner Keller hat jedenfalls mit seinem kenntnisreichen Buch einen gelungenen und vorbehaltlos zu empfehlenden Beitrag zur Einordnung Foucaults in die Wissenssoziologie geleistet. Überdies ragt seine sehr sorgfältig und verständlich geschriebene Einführung deutlich aus der bislang teilweise enttäuschenden und einige problematische Schnellschüsse umfassenden Buchreihe zu den "Klassikern der Wissenssoziologie" heraus.


Titelbild

Reiner Keller: Michel Foucault.
UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 2008.
155 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783896695499

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