Licht- und Schattenseiten eines Vaters

Zu Klaus Kreisers Atatürk-Biografie

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es war vorauszusehen, dass angesichts des diesjährigen Gastlandes der Frankfurter Buchmesse neben einer Flut von Neuauflagen und Neuerscheinungen türkischer Belletristik auch eine Reihe von Sachbüchern veröffentlicht wird, die sich mit der Politik, Geschichte und Kultur der Türkei beschäftigt. So verwundert es nicht, dass vor kurzem auch eine Biografie des Mannes publiziert worden ist, der wie keine anderer das Bild dieses Landes in der Moderne geprägt hat - des Republikgründers und später mit dem Nachnamen "Atatürk" geehrten Mustapha Kemal (1881-1938). Erstaunlich dagegen ist die Fülle an Informationen über diesen in Deutschland eher unbekannten Mann, die sein Biograf, der mittlerweile emeritierte Turkologe Klaus Kreiser, durch die Erschließung hauptsächlich türkischen Materials dem Leser vorlegt.

Dabei gelingt es Kreiser insbesondere in der ersten Hälfte seiner Biografie, den Leser wirklich eintauchen zu lassen in eine Zeit und Atmosphäre, die prägend sein wird für Mustapha Kemal, dessen Lebensweg umgekehrt alle bedeutenden Ereignisse im Nahen Osten am Anfang des 20. Jahrhunderts streift und reflektiert.

Geboren im damals noch osmanischen Saloniki lernt der schon früh zum Halbwaisen gewordene Junge die schwer zu handhabende, weil von den europäischen Großmächten stets für die eigenen Interessen aufgeheizte Gemengelange von Ethnien und Religionen in seiner makedonischen Heimat kennen. Da er keine wohlhabenden Verwandten oder Bekannten besitzt, tritt er - so wie viele andere seiner Zeit - in die Armee ein, um auf diesem Wege aufzusteigen und Karriere zu machen. In Istanbul lernt er nach preußischem Lehrplan, begegnet Gleichgesinnten, die wie er Gedichte schreiben, französische Romane lesen und auf eine Erneuerung des Staates hinarbeiten, in dem sie nämlich europäische Errungenschaften mit einheimischen Traditionen verknüpfen wollen. Doch im Gegensatz zu vielen von ihnen hält sich Mustapha Kemal aus der Politik heraus - vorläufig.

Kreiser rekonstruiert in diesem Zusammenhang sehr anschaulich die osmanische Welt um 1900, erläutert die Schwächen des Sultanats und weist auf die zahlreichen Krisenherde hin, die das Reich erschüttern und nicht zur Ruhe kommen lassen. In dieser Phase geht Mustapha Kemal 1905 nach Syrien, schließt sich in den nächsten Jahren der jungtürkischen Bewegung und ihrer Revolte gegen Abdul Hamid II. an und meldet sich danach freiwillig für einen Einsatz in der Kyrenaika, wo er 1911 Krieg gegen die Italiener führt, die das Land trotz allem Widerstand besetzen und zur Kolonie erklären. Neben militärischen, erfährt der Leser, werden dem noch immer unverheirateten jungen Mann - das Liebesleben umgeht der Biograf fast vollkommen - auch diplomatische Aufgaben überantwortet. So reist er 1910 als Beobachter der französischen Herbstmanöver nach Westeuropa. Anfang 1914 kommt er dann nach Sofia, wo er als Militärattaché ein gutes Jahr Dienst tut.

Schließlich erhält er den Posten, der ihn im Ersten Weltkrieg - zumindest unter Militärs - berühmt macht. Als Kommandeur einer Division wird er nach Gallipoli versetzt, wo er die Alliierten daran hindern kann, die Dardanellen zu erobern. Doch Auseinandersetzungen mit deutschen und türkischen Militärs zwingen ihn zum Rückzug. Eine Dienstreise mit dem Thronfolger nach Deutschland und ein anschließender Kuraufenthalt in Wien und Karlsbad stellen für ihn eine gewisse Ablenkung und Entspannung dar. In die Heimat zurückgekehrt, lebt und arbeitet er zurückgezogen als Mitherausgeber einer Zeitung. Erst das katastrophale Ende des Krieges für das Osmanische Reich reaktiviert Mustapha Kemal.

Hier setzt der zweite Teil der Biografie ein: Der Stratege wird zum Politiker. In fünf Kapiteln setzt sich Kreiser ausführlich mit dem weiteren Lebensweg des Mannes auseinander, der die Erbmasse des Osmanischen Reichs hinüberführt in die moderne türkische Republik. So genau der Turkologe den Befreiungskrieg gegen die Griechen, die Friedensverhandlungen von Lausanne und den darauf folgenden Modernisierungsprozess unter dem auch "Gazi" genannten Mustapha Kemal nachzeichnet - es gelingt ihm im zweiten Teil nicht mehr, Leben und Werk seines "Helden" in den Kontext der Zeit zu setzen und daraus plausibel zu machen.

So fragt man sich, wie der Politiker Atatürk dazu kommt, sein Land so kurz nach einem so verlustreichen, weil über zehnjährigen Krieg gleich wieder in ein neues, so ungeheures Unternehmen wie der Europäisierung zu stürzen. Freilich arbeitet Kreiser heraus, dass Mustapha Kemal bereits vor und während des Weltkriegs Gedanken zu einer umfassenden Reform der staatlichen Institutionen hegt, doch um 1900 und insbesondere unter den Jungtürken sind derartige Diskussionen Allgemeinplätze der einheimischen Intellektuellen. Dabei sind die Abschaffung des Sultanats und Kalifats, die Gründung der Republik, das Verbot der Derwischorden, die Einführung europäischer Kleidung, westlichen Rechts und der lateinischen Schrift nicht nur aus Atatürks Wunsch entstanden, sein Heimatland zu erneuern.

Kreiser deutet die Notwendigkeit einer solchen umfassenden Umstrukturierung türkischer Institutionen aufgrund der Machtergreifung der Bolschewiki im revolutionären Russland kaum an. Nicht nur die ungeheuren Umwälzungen in der Politik und Wirtschaft der jungen Sowjetunion, sondern vor allem die in ihrem Kulturleben - so die Alphabetisierung und Latinisierung gerade der muslimischen Bevölkerung in Aserbaidschan -, lassen die Eliten des daniederliegenden Osmanischen Reichs aufschrecken und so schnell wie möglich auf die Modernisierungsbestrebungen der Kommunisten reagieren. Auch unterlässt es Kreiser, konkret zu erwähnen, dass der Gazi in seiner rastlosen Erneuerung ganz massiv von den Briten unterstützt wird, die sich ein starkes Bollwerk gegen die "rote Gefahr" wünschen und dabei den (Wieder-)Aufbau der Türkei gegen alle Einwendungen der Armenier, Griechen, Franzosen und Italiener durchsetzen. Für diese Hilfe bedankt sich Atatürk schließlich mit der Abschaffung des Kalifats, was England die Chance gibt, die in seinen Dominions lebenden und nunmehr um ihr geistliches Haupt beraubten Sunniten weiter zu spalten und auf diese Weise zu schwächen.

Aufgrund der ausgedehnten Darstellung von Atatürks Reformen in den 1920er-Jahren kommt Kreiser ferner auch nicht dazu, auf die Vorbildfunktion des Gazi für andere orientalische Herrscher wie den ebenfalls von London installierten Reza Shah Pahlevi oder den afghanischen König Amanullah einzugehen. Bedauerlicherweise thematisiert der Autor weder die türkisch-griechischen Beziehungen noch die Immigration deutschsprachiger Wissenschaftler und Künstler in den 1930er-Jahren. Auch wird das spätere Privatleben von Mustapha Kemal - letzteres vielleicht wegen (noch) unzugänglicher Archive - nur kurz gestreift. Und so gerät die zweite Hälfte lediglich zu einer Auflistung der - zweifelsfrei beachtlichen - Taten des Republikgründers, hängt aber aufgrund der nicht durchgeführten Kontextualisierung gewissermaßen in der Luft, was den Leser gerade in Anbetracht der sehr gelungenen ersten Hälfte einigermaßen unbefriedigt zurücklässt.


Titelbild

Klaus Kreiser: Atatürk. Eine Biographie.
Verlag C.H.Beck, München 2008.
334 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783406576713

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