Symbolische Szenen des zwanzigsten Jahrhunderts

Martin Amis scheitert mit seinem Buch "Haus der Begegnungen" über die sowjetischen Gulags

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nein, zimperlich ist er nie gewesen: "In den ersten drei Monaten des Jahres 1945 vergewaltigte ich mich durch das, was dann bald Ostdeutschland heißen sollte." Er war Soldat der Roten Armee, da kam es nicht so darauf an. Dann kam er ins sibirische Lager, nicht für seine Vergewaltigungen, sondern wegen seiner falschen politischen Einstellung. Auch im Gulag bleibt er brutal, bricht mal hier einen Arm, schlägt mal da ein paar Zähne ein, mordet ohne Gewissensbisse. Und er beschützt seinen kleinen Bruder Lew, der auch im Lager sitzt, ein hässlicher Mann, der sich nie wehrt, wenn er geschlagen wird, ein Pazifist und Dichter. Heimlich beneidet er ihn, ist von Eifersucht zerfressen. Denn auch er liebt Zoya, Lews Frau. Und als nach Stalins Tod die Verhältnisse etwas besser werden, darf Lew sie sogar einen Tag und eine Nacht sehen, am 31. Juli 1956, im "Haus der Begegnungen", ganz ohne Bewachung. Jetzt, viele Jahre später, macht der über achtzigjährige Ich-Erzähler eine makabre touristische Reise: eine "Gulag-Tour": Mit einem Schiff fährt er zu dem Lager im Norden Russlands, in dem er zehn Jahre lang vegetierte und schuften musste. Erinnern will er sich. Und alles aufschreiben.

Es ist ein bitterer Bericht über eine etwas seltsame Familie, gerichtet an Venus, seine Tochter. Eine Abrechung mit den düsteren Seiten der menschlichen Seele. Zugleich ist es ein großer historischer Roman eines Mannes, der 1919 geboren wurde und mit der Großmacht Russland abrechnet. Was macht eine jahrzehntelange Diktatur mit den Menschen? Wie kann man in ihr noch als Mensch überleben, ohne sich mit ihr gemein zu machen? Kann man diesem Druck standhalten, kann man sogar Widerstand leisten?

Leider ist Martin Amis' Roman insgesamt misslungen, auch wenn ihm einige gute Passagen gelingen. So wenn er einmal die junge Venus mit anderen Essgestörten zusammen in einer Klinik sieht und sofort an den Gulag denken muss, an die Hungersnöte: für ihn ist dieser Anblick "eine weitere symbolische Szene des zwanzigsten Jahrhunderts". Oder wenn er schreibt: "Von allen Seiten vernahm ich jetzt ein schwaches, aber einheitliches Schlürfen und Schmatzen. Wenn man nicht wüsste, was es ist, könnte man es für ein entmutigend schlüpfriges Geräusch halten. Aber ich wusste es. Es war das Geräusch von dreihundert Männern, die im Schlaf aßen." Ein grausames, treffendes Bild.

Aber insgesamt ist die Figurenzeichnung viel zu eindimensional, und allzu viele stilistischen Eigenheiten streifen den Kitsch. Zudem schiebt der Erzähler den Russen so etwas wie eine kollektive Seele zu, eine Mentalität, die sie anfällig macht nicht nur für die Melancholie, sondern auch für die Unterdrückung und das Verstummen. Als er Venus sein Manuskript schickt, schreibt er: "Also achte im Folgenden auf weitere nationale Charakterzüge." Das ist für eine gewissenhafte, auch poetische Auseinandersetzung mit dem allgegenwärtigen Terror, mit den menschlichen Deformationen und dem Leid denn doch ein wenig zu platt. Denn so platt ist das Leben nicht, und auch nicht die Literatur. Aber so kann man mit dem Erzähler nur darauf warten, dass alles ein Ende hat: "Russland stirbt. Und ich bin froh", sagt er am Ende, als er selber stirbt.


Titelbild

Martin Amis: Haus der Begegnungen. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Werner Schmitz.
Carl Hanser Verlag, München 2008.
240 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783446230521

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