Auf der Suche nach den archaischen Ursprüngen der Moderne

Vicente Valero über Walter Benjamin auf Ibiza

Von Heinrich KaulenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heinrich Kaulen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über Walter Benjamins Biografie sind wir, gemessen an seinen schwierigen Lebensumständen, ungewöhnlich gut informiert. Seine Aufenthalte in Frankreich (Paris), Italien (Capri, Neapel, San Remo) und Russland (Moskau) sind schon wiederholt in der Forschung dargestellt und in ihrer Bedeutung für sein Werk analysiert worden. Dagegen ist der Ort, den Spanien - und hier insbesondere die Baleareninsel Ibiza - im intellektuellen Leben Benjamins einnimmt, bislang nicht vermessen worden. Erst der spanische Autor Vicente Valero, der selbst 1963 auf Ibiza geboren und in seinem Heimatland bislang vor allem als preisgekrönter Lyriker hervorgetreten ist, hat diese Lücke gefüllt.

Sein Buch über den "Erzähler" Benjamin und seinen Aufenthalt auf Ibiza ist gut recherchiert, flüssig erzählt und in manchen Passagen geradezu spannend zu lesen. Nachdem es ursprünglich nur in spanischer Sprache erschienen ist (siehe literaturkritik.de 9/2006), liegt es jetzt endlich auch in deutscher Übersetzung vor. Valero hat alle ihm zugänglichen Quellen ausgewertet, noch lebende Zeitzeugen befragt und ein präzises biografisches Porträt des Intellektuellen Walter Benjamin in den frühen 1930er-Jahren entworfen. Dieser hat mehrere Reisen nach Spanien unternommen, die erste im September 1925, und sich 1932 und 1933 jeweils mehrere Monate lang auf der Insel Ibiza aufgehalten. Vor allem die beiden letzten Aufenthalte berühren sich mit einer lebensgeschichtlich und politisch bedeutsamen Zäsur, der Lebenskrise des 40jährigen und der Zuspitzung der politischen Verhältnisse in Deutschland seit dem Staatsstreich Franz von Papens, die dem Kritiker eine Weiterarbeit vor Ort zusehends unmöglich macht. Beides führt in letzter Konsequenz zur Umstellung auf ein materiell schwieriges und in seinen Zukunftsperspektiven höchst unsicheres Leben im Exil. Über die biografischen Kontexte und Hintergründe dieses Prozesses kann sowohl der Benjamin-Leser als auch der Benjamin-Experte bei Valero so manches neue Detail erfahren. Das Buch ist aber keineswegs nur unter einem begrenzten positivistisch-biografischen Erkenntnisinteresse lesenswert. Es beleuchtet insbesondere Benjamins Tätigkeit als Reiseschriftsteller und Erzähler und trägt zu den in dieser Zeit entstandenen Prosastücken, etwa denen aus der "Ibizenkischen Folge", manche neue und erhellende Einsicht bei.

Ein erhellendes Licht fällt auch auf die kulturellen Kontexte, in denen der Inselaufenthalt des Emigranten zu sehen ist. Wie einige Jahre früher Capri stellen sich auch die Balearen am Beginn der 1930er-Jahre als eine alternative Gegenwelt dar, die auf Intellektuelle und Künstler jeglicher Couleur eine große Anziehungskraft ausübt. Besonders die archaisch-traditionellen Strukturen und die archetypischen Elemente des Mediterranen, die sich auf Ibiza bis zu dieser Zeit noch relativ ungebrochen erhalten haben, faszinieren eine internationale ästhetische Avantgarde, welche die Insel besucht oder sich dort, wie der Dadaist Raoul Hausmann oder der Künstlerenkel Paul Gauguin, sogar für längere Zeit niederlässt. Auch die spanische Architekturavantgarde um die Gruppe GATCPAC lässt sich, wie Valero zeigt, in diesen Jahren von den einfachen Bauten des ländlichen Ibiza inspirieren, weil die spezifische Mischung von Archaik und Funktionalismus, "Moderne und Primitivismus" den eigenen ästhetischen Präferenzen entgegen kommt. Benjamin tritt der ihm fremden Kultur und Architektur der Balearen mit demselben Interesse am Ursprung der Moderne in archaischen Bauten, Intérieurs und Lebensstilen entgegen und setzt es in theoretische Schriften wie in eine Erzählprosa um, die in ihren Bildern und komplexen Landschaftsbeschreibungen kaum zufällig ebenfalls immer wieder um das Verhältnis von Mythos und Moderne, Natur und Technik kreist.

Valero entwirft eine fesselnde Skizze der intellektuellen Kontakte, Einflüsse und Begegnungen während Benjamins Spanienreisen und zugleich eine kleine Miniaturstudie über die Fremdwahrnehmung einer ursprünglichen Kultur durch eine in sich sehr heterogene Gruppe moderner Künstler und Intellektuellen, von den Benjamin heute der prominenteste ist.


Titelbild

Vicente Valero: Der Erzähler - Walter Benjamin auf Ibiza. 1932 und 1933.
Übersetzt aus dem Spanischen von Lisa Ackermann und Uwe Dehler.
Parthas Verlag, Berlin 2008.
223 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783866010635

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