Unter den Unmenschen

Hartmut Geerkens philosophischer Kant-Roman

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ich lasse kant an mich heran", heißt es in Hartmut Geerkens neuem Prosabuch "kant", und so nah läßt er ihn heran, daß für den Leser bisweilen unentscheidbar ist, wer da spricht: "kant zieht die bettdecke weg & entblößt seinen körper das nachthemd ist nach oben gerutscht mit mir kann es nicht mehr lange dauern ich werde täglich schwächer ich habe keine angst vor dem tod ich fühle mich lebensmüde ich kann der welt nichts mehr nützen". Spricht da ein altersmüder Kant oder ein lebensmüder Geerken oder ein Ich-Erzähler, der sich beiden anzunähern versteht? Kant/Geerken im Bett, mit entblößten und rasierten Genitalien - das ist ein Bild, das hier in verschiedenen Umgebungen wiederkehrt, ein Bild für die Nähe zweier Biographien, wie sie unterschiedlicher kaum sein können. Beide leiden sie an Deutschland. Der eine, der aus Königsberg nie herauskam, der seine ganze Welt- und Menschenkenntnis in Königsberg erworben hat, aber im Alter noch emigrieren möchte, "um das [leben] sorgenfrei zu ende zu bringen" - es "wird sich doch wohl ein winkel der erde ausfinden lassen wenn es auch tibet sey". Der andere, der viel in der Welt Herumgekommene, der "bei der rückkehr aus dem ausland" resigniert feststellen muß, daß die eigenen Kinder sich "durch kleingeister begeistern & sich aufhetzen lassen gegen uns [...] jetzt sind sie kleingeister unter kleingeistern".

Der Ich-Erzähler sieht in Kant, im Geistesriesen, einen Spiegel der Gegenwart und ein Selbstbild. Die letzten Lebensjahre Kants sind gut dokumentiert, und so sucht er in den Darstellungen nach einem "satz der auf mich zutrifft". Gewiß, solche Sätze lassen sich finden, am besten aber schreibt man sie selbst: "das opus postumum (Kant) und das obduktionsprotokoll (Geerken) sind akustisch verwandt". Dem Ich-Erzähler vermengt sich die eigene mit der kantischen Wirklichkeit, wenn er etwa seinen Freund Famoudou Don Moye an Kants Mittagstisch plaziert (als Impersonator Robert Motherbys) und diese Tischgesellschaft als Panoptikum seniler Alberiche inszeniert. Freilich ist der alte, alternde Kant, der hier entworfen wird, zugleich eine moderne, zeitgenössische Gestalt: Durch "kurzschlüsse in kants gehirn" wird seine Wirklichkeit "expressionistisch futuristisch utopisch überhöht".

Vermutlich infolge seiner Mynona-Forschungen hat Hartmut Geerken vor einigen Jahren begonnen, sich mit Kant zu beschäftigen. Auch scheint Mynona diese Beschäftigung auf konkrete Weise zu begleiten und zu kanalisieren. Denn Geerkens Denken und Schreiben läßt, wie die daraus entspringende Prosa, keinen Raum für eine spröde und abstrakte Logelei. Seine Prosa ist, gemäß Hans Blumenbergs Diktum ("Im philosophischen Roman wird nicht philosophiert"), umstandslose, direkte Darstellung, Spielfläche für eine - alles in allem - überschaubare Materialfülle. Man liest sich rasch ein in diese satzzeichenlose, in der Orthographie goethezeitlich uneinheitliche, doch klar strukturierte, konsequent kleingeschriebene Prosa.

Mithilfe dieser Prosa soll festgehalten werden, daß Auschwitz und die deutsche Aufklärung, der Höhe- und der Tiefpunkt einer Kultur, nicht nur geistesgeschichtlich zusammengehören, sondern auch poetisch. Adornos Verdikt, wonach es "barbarisch" sei, "nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben", hat niemanden daran gehindert, es doch zu tun. Adornos Autorität hat die Autoren im Gegenteil dazu gereizt, gegen sein Verbot zu verstoßen (Robert Gernhardts Gedicht "Frage" ist ein Beispiel dafür). Es hat die literarische Auseinandersetzung mit Auschwitz befördert, und dafür kann man nur dankbar sein. Und nun Geerken: Es mag obszön erscheinen, Auschwitz als die Nachtseite des Kantianismus darzustellen, zu zeigen, wie rationalistisches Denken konsequent in den absoluten Immoralismus führen kann. Die "preussische politik", von einem aufgeklärten Fürsten verantwortet, muß Kant zur Verzweiflung getrieben haben, und ganz ähnlich hadert sein Nachfahre Hartmut Geerken mit der bundesrepublikanischen Politik, wie sie sich etwa in der auswärtigen Kulturpolitik zeigt: in den Goetheinstituten "werden beduinen zu tauchern ausgebildet".

Bei allem Hadern, Zweifeln und Verzweifeln ist "kant" auch ein witziges Buch. Dies zeigt sich, wenn es etwa Göte (Goethe) als olfaktorisch lästig oder Helmut Heissenbüttel als döblinschen Butterblumenmörder schildert, wenn es den Kant-Schüler Ehregott Andreas Christoph Wasianski wie teures Porzellan einführt, die Idee zu einem Kant-Film entwickelt (mit Achternbusch in der Rolle des Dieners Martin Lampe) oder ganz elementaren Bedürfnissen nachgeht: Kants Sprach- und Stuhlwitz erfährt hier rabelaissche Weiterungen. Somit ist Geerken nicht nur ein schmerzliches, sondern auch ungeheuer komisches und auf eigentümliche Weise bewegendes Buch gelungen: Der Autor als Figur, als Kristall, durch den sich die Biographie einer aufklärerischen Lichtgestalt farbig auffächert - und umgekehrt: Kant als Katalysator in dem Prozeß, das eigene Lebensmaterial zu verdichten.

Titelbild

Hartmut Geerken: kant.
Klaus Ramm Verlag, Spenge 1998.
952 Seiten, 50,10 EUR.
ISBN-10: 3921917220
ISBN-13: 9783921917220

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