Hitler starb im Bürgerbräukeller

Anmerkung zu einem längeren Gedankenspiel in Wolfgang Brenners Roman "Führerlos"

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gedankenspiele à la "Was wäre wenn" gibt es einige. Manche davon sind als Bücher sogar recht erfolgreich und darüber hinaus manchmal auch noch spannend. "Vaterland" von Robert Harris und Stephen Frys "Geschichte machen" gehören dazu. Ein neuer Versuch mit der inhaltlichen Variante "Das Attentat auf Hitler 1939 im Bürgerbräukeller in München war erfolgreich" liegt jetzt vor und bemüht sich - erfolgreich - um die Gunst des Lesers. Einleitend wird auf wenigen Seiten die Ausgangssituation skizziert. Im Detail wird beschrieben, wie sich der Tross um den nationalsozialistischen Staatsmann auf das Attentat zu bewegt. Die Prämisse vieler Mitarbeiter und Anhänger Hitlers, der Führer sei unsterblich, wird erschüttert, denn eine Bombenexplosion tötet den ersten Mann des NS-Staates. Sofort beginnt die machtpolitische Reorganisation.

Als Protagonisten lässt Brenner die Führungskaste des NS-Staates "aufmarschieren": Joseph Goebbels, Hermann Göring, Eva Braun, Hans Heinrich Lammers, den Leiter der Reichskanzlei, Heinrich Himmler, Heydrich und Rudolf Heß und nicht zuletzt diverse Mitglieder des Führungsstabs der Wehrmacht, Wilhelm Keitel und Karl Dönitz. Die fiktive Geschichte entwickelt sich zu einem Wettstreit zwischen Goebbels und Göring, dem der Autor ungeahnte Fähigkeiten als Reichskanzler zuwachsen lässt. Dabei sind die Motivationen für Handlungen auf Staatsebene durchgängig individuell und egoistisch motiviert. Eva Braun, die von dem Presseexperten Goebbels als "Witwe des Führers" in die Propagandaschlacht gegen Göring geführt wird, ist der rote Faden des Romans. Stehen in der ersten Hälfte des Romans noch die Handlungsaktivitäten der Führungskader im Vordergrund, treten nach und nach wieder die "Alltagprobleme des NS-Staats" in den Vordergrund. Die Versorgungslage der Zivilbevölkerung ist schlecht. Der Polenfeldzug war erfolgreich. Allerdings wird in den eroberten Gebieten der ehemalige Befehl des Führers, die "Lösung der Judenfrage" auch nach dessen Tod unbeirrt weiter verfolgt.

Wirkt die Schilderung des Regierungsalltags und des Lebens im NS-Staat in der ersten Hälfte des Romans noch ein wenig "harmlos", bricht die Brutalität und Unmenschlichkeit der NS-Ideologie mit Einführung von Professor Sudenwirth und seinem Wissenschaftsteam hervor. Die Wissenschaftler werden mit der Erarbeitung eines Konzepts für die besetzten Gebiete, also für Polen, betraut. Von den dortigen Gauleitern wird mit Hilfe der SS selbstherrlich die systematische Liquidation aller Nicht-Deutschen durchgeführt. Dem Leser wird klar, dass mit dem Tod Hitlers nicht das "Böse" verschwunden ist und die Möglichkeit für einen "guten", im Sinne von wirtschaftlich erfolgreichem, Nationalsozialismus nicht besteht. Dieses Szenario bestimmt das letzte Viertel des Buches und wird von einem eindringlichen Schluss unterstrichen. Brenner thematisiert die Euthanasie, die innerdeutsche, staatlich legitimierte Tötung: Eva Braun, in einem Sanatorium untergebracht, stört die Kreise der nationalsozialistischen Führungskader und wird in einem Bus, zusammen mit anderen Patienten, durch die Abgase des Fahrzeugs getötet. Brenner schafft es, den Leser auf der privaten Ebene der NS-Eliten abzuholen und ihm mit seinen fiktiven Charakteren einen bedrückenden Eindruck von der Gegenwart des alltäglichen Grauens im NS-Staat zu vermitteln. Dabei ist es vor allem die Irrationalität der Entscheidungen, die Simplizität der Gewalt und die Allgegenwart der Möglichkeit, in die tödliche Maschinerie des Staats beziehungsweise eines seiner Vertreter zu geraten, die das Grauen des Alltags verdeutlichen.

Brenner ist ein eindringliches und vor allem auf einer subtilen Ebene sehr kritisches Buch gelungen, das gerade auch jungen Lesern einen anderen Einstieg in die historisch manchmal sehr komplexe Materie "Nationalsozialismus" ermöglichen könnte - mit der entsprechenden Ergänzung durch historisches Material und den Vergleich zwischen Fiktion und Wirklichkeit: Ein kluges Gedankenspiel, mit dem der kompetente Leser sich auf eine spannende Fahrt begeben kann.


Titelbild

Wolfgang Brenner: Führerlos. Roman.
be.bra verlag, Berlin 2008.
317 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783861246220

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