Wenn sich Massenmörder selbst überführen

Anton Holzer erinnert in seinem Bildband "Das Lächeln der Henker. Der unbekannte Krieg gegen die Zivilbevölkerung 1914-1918" an vergessene Gräuel im Ersten Weltkrieg

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ausschneiden, was ist": Karl Kraus als Historiker

Als Vorwort zu seiner aus alltäglichen Weltkriegsdialogen montierten "Tragödie in fünf Akten", die er "Die letzten Tage der Menschheit" nannte, schrieb Karl Kraus im Jahr 1919 in der "Fackel": "Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate. Larven und Lemuren, die hier auftreten, tragen lebende Namen" - und einige Zeilen später fügte der Autor noch vielsagend hinzu: "Wer schwache Nerven hat, wenn auch genug starke, die Zeit zu ertragen, entferne sich von dem Spiel."

Das gilt auch für Anton Holzers niederschmetternden Foto-Band "Das Lächeln der Henker. Der unbekannte Krieg gegen die Zivilbevölkerung 1914-1918". Das schaurige Titelmotiv der Publikation ist jenes bezeichnende Foto, das schon Kraus auf dem Frontispiz der Buchausgabe seines voluminösen Dramentextes, die 1922 erschien, als ikonografische Anklage der k.u.k. Barbarei veröffentlichte: Es zeigt die Hinrichtung des italienischen Patrioten Cesare Battisti im Kastell von Trient, am 12. Juli 1916. Battisti war sozialdemokratischer Abgeordneter im Wiener Reichsrat gewesen und hatte sich im Ersten Weltkrieg dazu entschieden, auf italienischer Seite zu kämpfen. Er geriet in österreichische Gefangenschaft, wurde in einem propagandistisch aufbereiteten Prozess wegen "Hochverrats" angeklagt und Opfer einer grausamen Schauhinrichtung, die vielfach fotografiert und von hunderten von Gaffern verfolgt wurde.

Dass sich Battistis Tod über 81/2 qualvolle Minuten hinzog, scheint den feisten Henker Josef Lang und die Zeugen, die es damals schafften, sich mit grinsenden Gesichtern in das Bild zu drängen, das den Ermordeten zeigt, besonders gefreut zu haben. Holzer betont bei der Analyse dieser Vorgänge, die für seine Untersuchung von zentraler Bedeutung sind, dass Kraus ihre historische Dimension als einer der ersten erkannt habe und mit ihnen wie ein Historiker umgegangen sei: "Ausschneiden, was ist - das ist meine Devise", bekannte der große Sprachkritiker. Holzer betont deshalb, dass die Dokumente, die Kraus mit dieser Collage-Methode zitiere, eben nicht als bloße Fiktionen zu interpretieren seien. Vielmehr ließen sie sich immer wieder auf historische Ereignisse zurückbeziehen: "Sie erzählen von sehr konkreten Facetten des Krieges, von Geschehnissen, die die offizielle Kriegsgeschichte bis heute ausgespart hat." Kraus ordne sein Material allerdings "anders als ein klassischer Historiker, er erzählt keine kontinuierliche Geschichte des Krieges, stattdessen arbeitet er mit Brüchen, Gegenüberstellungen, Leerstellen, mit Ironie, Kritik, Sarkasmus. Kraus stellt das historische Material in Nachbarschaften, die der zeitgenössischen Öffentlichkeit neu und ungewohnt waren."

So schwer es auch für uns als heutige Rezipienten zu glauben sein mag: Die unwahrscheinlichen Dinge, die Kraus in seinem Drama beschreibt, geschahen wirklich. Womit auch schon das Thema von Holzers Maßstäbe setzender Untersuchung benannt wäre, das selbst Kraus in seinem 'unaufführbaren' Theaterstück noch nicht hinreichend erfassen konnte: Es geht dem Herausgeber der Zeitschrift "Fotogeschichte" um lange verleugnete und schließlich weitgehend in Vergessenheit geratene Verheerungen des Ersten Weltkriegs, die ihre Wirkung nicht in den Grabenkämpfen der Westfront, sondern im Osten und Südosten Europas entfalteten. Vor allem von Seiten der österreichischen k.u.k. Armee wurden systematische Massaker an der italienischen, slowenischen, serbischen, polnischen, ukrainischen und nicht zuletzt jüdischen Zivilbevölkerung begangen, bei denen der Galgen eine besonders makabere Rolle spielte.

Das "Kriegsnotwehrrecht" als Instrument einer "Ausweitung der Kampfzone"

Antislawistische und antisemitische Vorurteile gegen eine angeblich "heimtückische" Zivilbevölkerung führten ab 1914 besonders in Serbien zu Gewaltexzessen, die zwar nicht mit der Dimension des späteren nationalsozialistischen Vernichtungskriegs vergleichbar sind, ohne die jedoch die noch radikalere Brutalisierung von 1939 bis 1945 nicht möglich gewesen wären, wie Holzer eindringlich herausarbeitet. Österreich entwickelte bereits im Ersten Weltkrieg, und zwar damals noch in weit intensiverem Maß als seine deutschen Verbündeten, eine von der Militärjustiz als legal propagierte Kriegführung, die eine "Ausweitung der Kampfzone" bis weit hinter die Front anstrebte und auf nichts weniger als die Vernichtung der als 'feindlich' eingestuften Zivilbevölkerung abzielte. Dazu zählten allerdings schließlich so gut wie alle Menschen, denen man im rückwärtigen Heeresgebiet begegnen konnte: Wehrlose Frauen, Kinder und alte Männer wurden massenhaft als angebliche "Spione" deportiert, verhaftet, erschossen oder - in aller Öffentlichkeit gehenkt.

Ein bloßer Spaziergang im Heimatstädtchen wurde für diese hilflosen Menschen über Jahre hinweg zu einem lebensgefährlichen Zeitvertreib: Schon wer auf der Straße eine Hand in der Hosentasche hatte, konnte verdächtigt werden, eine Waffe zücken zu wollen, und wer vor dem Haus Fliegen mit einem Taschentuch in der Luft verscheuchen wollte, wurde gerne beschuldigt, "russophil" zu sein und dem Feind 'geheime Signale' geben wollen. Dem mörderischen Wahn waren keine Grenzen mehr gesetzt: Wer ein Feuer anzündete, gab möglicherweise verräterische 'Rauchzeichen', auf das Glockenläuten stand sowieso die Todesstrafe - und selbst aus der Stadt hinausgetriebenes Vieh wurde beargwöhnt, in seiner wechselnden Stückzahl 'chiffrierte Botschaften' übermitteln zu sollen. In solchen Zusammenhängen verdächtigte oder auch nur vage denunzierte Personen wurden ohne jedes Gerichtsverfahren an Ort und Stelle aufgeknüpft. So lautete einer der vielen von Holzer zitierten Befehle des k.u.k. Truppenkommandos in Lemberg: "Sobald sich irgendwo nur die geringsten Anzeichen einer Unterstützung des Feindes sichtbar machen, ist in rücksichtslosester Weise vorzugehen. Kein Mittel ist in so einem Fall scharf genug."

Was man hier euphemistisch als "Kriegsnotwehrrecht" bezeichnete, war nichts anderes als eine offene Aufforderung an alle Soldaten, in Eigenregie tatkräftig und nach Gutdünken dabei mitzuhelfen, die Zivilbevölkerung wahllos "niederzumachen", Dörfer und Städte niederzubrennen, zu vergewaltigen, zu foltern und die Opfer tagelang öffentlich auszustellen - und zwar ganz ohne umständliche juristische "Klügeleien", wie es markig hieß. Wer fröhlich mordete, musste auch nicht fürchten, belangt zu werden, denn die Taten tauchten später in der Regel nicht einmal mehr in irgendwelchen Gerichtsakten mehr auf.

"Die bekannt gewordenen Dokumente zeigen, dass die behauptete Trennung zwischen der Gewalt gegenüber Uniformierten und jener gegenüber Zivilisten ein Mythos ist", fasst Holzer zusammen. "Die moderne Kriegsführung zeichnet sich gerade dadurch aus, dass diese Trennung immer mehr aufgeweicht wird". Darüber hinaus belegt der Autor in seinem Buch, dass ihre Vernichtungskraft ab 1914 nicht einmal mehr vor den eigenen Staatsbürgern der k.u.k. Monarchie halt machte.

Lust auf Gewalt und sexualisierte Blicke

Möglicherweise würde dieser Aspekt des Ersten Weltkriegs heute tatsächlich bereits längst und für immer vergessen sein - wenn die Täter nicht jenes verstörende Lustempfinden entwickelt hätten, dass auch auf der von Kraus aufgegriffenen Fotografie der Hinrichtung Battistis so unübersehbar seine Fratze enthüllt: die eines offenen Genusses der Grausamkeit und ihrer fetischistischen Dokumentation auf Fotografien. Diese geradezu pornografische und damit auch offenichtlich sexuell motivierte Lust an der sadistischen Gewalt führte dazu, dass sich der typische soldatische Verbrecher jenes Kriegs mittels einer vertrackten medialen Selbstreflexivität eigens überführte, wie schon Kraus in seiner von Holzer zitierten Bemerkung feststellte: "Denn nicht daß er getötet, auch nicht, dass er's photographiert hat, sondern daß er sich mitphotographiert hat und daß er sich photographierend mitphotographiert hat - das macht seinen Typus zum unvergänglichen Lichtbild unserer Kultur."

Soldaten trugen Abzüge von Hinrichtungsbildern, die österreichische Foto-Ateliers als Feldpostkartenmotive vervielfältigten und gewinnbringend vertrieben, als Trophäen und Fetische einer triumphierenden Überlebenserfahrung der Siegers bei sich, wie sie Elias Canetti in seinem Klassiker über "Masse und Macht" (1960) beschrieben hat. Die Mörder verschickten ihre - oft auch eigenen - fotografischen Inszenierungen mörderischer Lust stolz an ihre Angehörigen und bewahrten sie nach dem Krieg in Schuhkartons auf - offenbar ohne jedes Schuldbewusstsein.

Holzer suchte vor allem in den Archiven osteuropäischer Staaten erfolgreich nach solchen Bildern, die im Herrschaftsbereich der Mittelmächte schließlich verschwanden, da sich hier der moralische Rahmen des kollektiven Gedächtnisses geändert hatte und der Anlass ehemaligen Stolzes schnell zur schrillen Anklage mutiert war: "Erst wenn sich, aus irgendwelchen Gründen, die Gemeinschaft der Tötenden auflöst, wird auch die Bildsprache auf den Fotografien brüchig", folgert der Fotohistoriker am Ende seines Bands. "Plötzlich werden aus unumstrittenen Beutestücken abgründige Dokumente der Barbarei, Beweise für verbrecherische Handlungen."

Auch unsere Urgroßväter waren schon Massenmörder

So ruhig Holzers Begleittext zu diesem Kabinett des Grauens formuliert ist, so schwer sind die Bilder, die er kommentiert, zu ertragen. Darf man solche Fotografien, die die Opfer verhöhnen sollten, überhaupt noch einmal veröffentlichen, obwohl man sich damit dem Verdacht aussetzen könnte, die obsessive Neugier, die sie einst befriedigten, abermals zu bedienen? Holzer meint: Ja, man sollte es tun. "In ihnen erhalten nicht nur einige Opfer zum ersten Mal ein Gesicht (wenn auch meist keinen Namen), sondern auch die Täter - und nicht zuletzt die Zuschauer. Wir sollten uns mit diesen Bildern beschäftigen, denn die Männer, die sich als Henker und als Schaulustige unter dem Galgen versammelt haben, waren keine Fremden. Es waren unsere Groß- und Urgroßväter."

Mit dieser Prämisse folgt Holzer nicht nur Karl Kraus, sondern auch einem Plädoyer Klaus Theweleits: Obwohl Holzer letzteren Theoretiker in seinem neuen Buch nicht zitiert, schlägt auch er, ähnlich wie es der Verfasser der "Männerphantasien" (1977/78) seit den Debatten um den letzten Irak-Krieg immer wieder getan hat, einen argumentativen Bogen von den vielfältigen fotografischen Dokumentationen von Gewaltlust, wie sie auch schon die erste "Wehrmachtsausstellung" des Hamburger Instituts für Sozialforschung ab 1995 als integralen Bestandteil des nationalsozialistischen Vernichtungskriegs dokumentiert hat, über manisch fotografierte Lynchmorde in den Südstaaten der USA bis hin zum Skandal um die Folterfotos aus dem militärischen US-Gefängnis von Abu Ghraib.

Theweleit beschwerte sich bereits 2004 in der "taz" über die verlogenen Kommentare der deutschen Presse, in denen damals so getan wurde, als sei man von den Folterinszenierungen aus den Reihen der US-Army vollkommen überrascht worden, da man solche Barbareien innerhalb des Herrschaftsbereichs westlicher "Kultur" für unmöglich gehalten habe: "Wer weiß das denn noch nicht, gerade in Deutschland. In Spanien! In Griechenland! Alles Wiegen unserer Zivilisation!", schimpfte Theweleit, um zu fordern, dass man endlich den längst bekannten historischen Tatsachen über das soldatische Gewaltverhalten und seine medialen Abbildungen ins Auge sehen solle.

Jetzt gibt es also einen Bildband mehr, den man kennen muss, bevor man sich über Gräuelbilder irgendwo aus der Welt verwundert zeigt: Wie auch Theweleit betont Holzer, dass es eben falsch sei, die Wahrnehmung eines menschlichen Abgrunds zu verweigern, der in Abu Ghraib keineswegs zum ersten Mal in der Geschichte virulent wurde.

"Was hat, so könnte man fragen, Abu Ghraib mit den Ereignissen des Ersten Weltkriegs zu tun", nimmt Holzer am Ende seiner Studie eine mögliche Kritik dieser Einschätzung vorweg. Ein wichtiger, nicht von der Hand zu weisender Teil seiner Antwort lautet: "So wie bei den Hinrichtungen im Ersten Weltkrieg fällt auch in Abu Ghraib, neben den Tätern und den Opfern, eine dritte Gruppe ins Auge: jene der Fotografen. Die Folterungen fanden zwar hinter verschlossenen Türen statt, aber sie waren nicht völlig geheim. Stets waren Schaulustige dabei."

Daraus folgert der Historiker etwas, was nicht zuletzt für die Beurteilung der 'asymmetrischen Kriege' unserer Tage von großer Bedeutung ist: "Die einfache Gegenüberstellung von Opfern und Tätern greift zu kurz. Fast immer sind vor, während und nach den Gewalttaten weitere mehr oder weniger aktive Beteiligte im Spiel: Denunzianten, Zuschauer, Schaulustige, Fotografen". Aus diesem 'komplexen Szenario' resultieren Bilder, die schließlich selbst zu Kriegswaffen mutieren und Wirkungen nach sich ziehen, die ihre Urheber meist nicht im Entferntesten antizipiert haben: "Das gespenstische Moment der Gewaltfotos liegt darin, dass sie ein merkwürdiges, unkontrollierbares Eigenleben entwickeln", stellt Holzer im Blick auf das Phänomen historischer Gräuelabbildungen fest. "Die Bilder, die dazu gedacht waren, den Hingerichteten zu demütigen und über ihn zu triumphieren, können sich plötzlich gegen den Urheber richten. Sie verwandeln sich in Beweisstücke gegen die Täter."

Immense historische Aufklärungsarbeit

Holzers Buch ist eine Fortsetzung seines bereits viel beachteten Bands "Die andere Front" über "Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg" (2007). Die historische Aufklärungsarbeit, die beide Publikationen leisten, ist immens. Verweisen sie doch nicht zuletzt auf die bestürzende Tatsache, dass man im Zweiten Weltkrieg bereits auf brutale Praktiken des Ersten Weltkriegs zurückgreifen konnte, die die Historiografie und das kollektive Gedächtnis nunmehr seit 90 Jahren erfolgreich nahezu komplett verschwiegen haben.

Die Schuld an diesen genozidalen Innovationen wurde dabei nicht nur in Österreich und in Deutschland verdrängt - sondern auch von Kollaborateuren in den angegriffenen Ländern selbst, die sich an der Hetze gegen vor allem jüdische "Partisanen", die in dem meisten Fällen gar keine solchen waren, bereitwillig und massiv beteiligten. So erinnert Holzers neues Buch etwa an das heute fast vollkommen vergessene Pogrom in Lemberg, bei dem Polen und Ukrainer nach dem Abzug der österreich-ungarischen und russischen Truppen im November 1918 nach Schätzungen von erregten Zeitzeugen bis zu 10.000 Juden in ihrem Ghetto massakrierten und bei lebendigem Leibe verbrannten - eine Geschichte, die sich 1941 wiederholen sollte, als deutsche NS-Truppen abermals etwa 7.000 Juden im Lemberg ermordeten.

Holzer verneint die historische Vergleichbarkeit dieser Massaker aufgrund ihrer unterschiedlichen Ursachen - die regional äußerst variabel und teils unkontrolliert verlaufenen Exzesse im Ersten Weltkrieg seien mit der systematischen Ausrottungspolitik der Nazis nicht ohne Weiteres parallelisierbar. Andererseits frappiere es aber, dass jüdische Minderheiten in allen Fällen zu den Hauptopfern gehörten: "1914/15 hatten die wechselnden Militärdiktaturen, 1918/19 der Bürgerkrieg ein Klima antisemitischer Gewaltbereitschaft geschaffen", stellt Holzer fest. "Aber auch die Stimmung vor Ort begünstigte die Gewalttaten. Die Kultur des Antisemitismus in der einheimischen Bevölkerung reicht weit zurück."

Kurz: Bereits ab 1914 wurde der Kampf gegen die unbeteiligte nichtjüdische, vor allem aber jüdische Zivilbevölkerung im Osten Europas zum "primären Kriegsziel" der Invasoren, die dabei planvoll auf antisemitische Vorurteile und Verschwörungstheorien rekurrierten, die auch in der jeweils eroberten Zivilbevölkerung wirksam waren. Nicht anders ging später die nationalsozialistische Wehrmacht bei ihrem Vernichtungskrieg im Osten vor. Im Grunde unterscheiden sich die bei Holzer abgebildeten Fotos von denen der "Wehrmachtsausstellung" manchmal nur dadurch, dass die darauf zu sehenden Täter keine NS-Uniform, sondern Pickelhauben tragen.

Literatur wider das Vergessen

Holzers Erkenntnisse lassen sich dabei bestens mit Ergebnissen korrelieren, wie sie etwa auch John Horne und Alan Kramer in ihrer wegweisenden Arbeit über "Deutsche Kriegsgreuel 1914" herausgearbeitet haben: Hysterischen Verschwörungstheorien über heimtückische Franctireurs beziehungsweise Heckenschützen, Spione und Partisanen, die bereits im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 irrationale Ausmaße angenommen hatten, wurden in der Folge nicht nur tradiert, sondern wuchsen sich ab 1914 zu kollektiv aufgegriffenen und ausfantasierten Narrativen aus, die schließlich zu nichts weniger als versuchten Völkermorden führten.

Neben den Fotos, die Holzer abbildet und analysiert, gibt es aber noch ein Medium, auf das er immer wieder zurückkommt und das ein langfristig wirksames Widerstandsmoment gegen das Vergessen solcher Gräuel darstellt: das der Literatur. Neben Karl Kraus zitiert er unter anderem auch Joseph Roths 1932 erschienenen Roman "Radetzkymarsch" und Alfred Döblin, der als einer der Wenigen bereits 1925 an das erwähnte Pogrom von Lemberg erinnerte - in seinem Bericht über eine "Reise in Polen". 1924 war Döblin nach Lemberg gefahren und hatte die Spuren des Massakers beschrieben. Vor allem die dort seinerzeit immer noch in Ruinen stehenden, eingeäscherten Häuser des jüdischen Ghettos erinnerten ihn an die damals noch nur wenige Jahre zurückliegenden Verbrechen.

An Holzers historische Seitenblicke auf die Literatur könnten und sollten auch kommende philologische Untersuchungen anknüpfen: In seinem im Jahr 1937 begonnenen historischen Monumentalroman "November 1918" etwa, der bereits im Zeitkontext des eliminatorischen Antisemitismus der Nazis entstand, thematisierte Döblin das Lemberger Pogrom erneut: "Ja, man verfolgt unser Volk", sagt hier eines der überlebenden jüdischen Opfer zu Friedrich Becker, einem der Protagonisten den Romans. "Wir haben zu leiden, wohin wir kommen." Dass die hier viel eher als die Historiografie zuständige Germanistik diesen bemerkenswerten Roman Döblins bisher kaum beachtet hat, verwundert nicht. Auch hier gibt es noch viel nachzuholen und aufzuarbeiten - Anregungen dazu liefert Holzers beachtliche Arbeit jedenfalls zuhauf.

Anmerkung der Redaktion: Die verwendeten Fotos sind dem besprochenen Band entnommen.


Titelbild

Anton Holzer: Das Lächeln der Henker. Der unbekannte Krieg gegen die Zivilbevölkerung 1914-1918.
Primus Verlag, Darmstadt 2008.
210 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783896783752

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