Vom Sagen und vom Denken

Richard Raatzsch erläutert Ludwig Wittgensteins Leben und Werk

Von Walter WagnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Wagner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie der Autor eingangs betont, bilden Leben und Werk bei Ludwig Wittgenstein eine Einheit, sodass von diesem nicht zu reden ist, ohne über jenes zu berichten. Die Gliederung von Richard Raatzschs Einführung spiegelt diesen Sachverhalt und konzentriert sich auf die zwei zentralen Schriften des Philosophen, nämlich den "Tractatus logico-philosophicus", der hier mit dem deutschen Titel "Logisch-philosophische Abhandlung" ausgewiesen ist, und die "Philosophischen Untersuchungen". Biografische Daten skizzieren einen Wittgenstein vor und nach dem berühmten "Tractatus" und leiten - ausgehend von den Stationen seiner bewegten Karriere - schlüssig auf folgende Denkbewegungen über.

Ludwig Wittgenstein wurde 1889 in Wien als Sohn eines erfolgreichen Industriellen geboren, der ebenso wie seine Gattin höchst musisch veranlagt war und freundschaftlichen Umgang mit Künstlern pflegte. Dank seines wirtschaftlichen Erfolges konnte sich der Vater 1898 aus dem Berufsleben zurückziehen, um sich ganz seinen intellektuell-künstlerischen Interessen zu widmen. In diesem bildungsbürgerlichen Ambiente konnten Ludwig Wittgensteins Begabungen aufs Beste gedeihen. Allerdings lag ein Schatten über der Familie, denn drei seiner Brüder wählten den Freitod, und selbst für Ludwig und seinen Bruder Paul stellte der Suizid zeitlebens eine mögliche Option dar.

Nach einer Ingenieursausbildung in Berlin und Manchester studierte Wittgenstein ab 1912 bei Bertrand Russell in Cambridge Mathematik, befasste sich indes bald mit philosophischen Fragen. 1914 meldete er sich als Freiwilliger zum österreichischen Heer, wurde mehrfach verwundet und kehrte 1919 aus italienischer Kriegsgefangenschaft zurück. Wittgenstein hätte sich nun mithilfe des ihm zustehenden väterlichen Erbteils eine komfortable Existenz als Privatier leisten können, fasste hingegen den höchst philosophischen Entschluss, sein Vermögen an seine Geschwister zu verschenken. Dem Ausbruch aus der bürgerlichen Welt folgte der Durchbruch in der Philosophie mit dem "Tractatus logico-philosophicus", der 1922 in Großbritannien erschien und Wittgensteins Renommee als Sprachphilosoph begründen sollte.

Raatzsch führt die Leser behutsam in die hochkomplexen Thesen und Theoreme dieser Abhandlung ein, die wohl öfter zitiert als gelesen worden ist und dessen siebte These "Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen" zum meistzitierten Satz Wittgensteins und Inbegriff seines Denkens mutiert ist. Dass nach einer inhaltlichen Verkürzung, die pointierter nicht sein könnte, zumindest auf Seiten der Laien Schweigen herrscht beziehungsweise notwendigerweise herrschen muss, zeigt der in der vorliegenden Monografie unternommene Versuch, Klarheit und mithin ein Sinnangebot zu schaffen. Unabdingbare Voraussetzung eines Minimalverständnisses des "Tractatus" ist die begriffliche Fassbarkeit der so genannten "Bildtheorie" des Satzes. Wittgenstein beschreibt mit dieser Theorie ein Modell der Wirklichkeit, das "den logischen Charakter der Beziehung zwischen Sprache und Welt" definiert.

Der vordergründig klare "Tractatus", der sich jeglicher Terminologie verweigert, birgt freilich philosophische Probleme, die, weil in der Alltagssprache vorgebracht, leicht unterschätzt werden können. Raatzsch warnt daher, sich von der scheinbaren Transparenz Wittgenstein'scher Diktion zu Fehlschlüssen verleiten zu lassen. Die inhärente Verzahnung von Denken, Sprache und Welt, wie sie der österreichische Philosoph verstand, mag dem Nichtspezialisten auch nach dem Studium dieser didaktisch geschickt konzipierten Monografie ein Rätsel bleiben, sodass parallel dazu eine Lektüre der Primärliteratur dringend anzuraten ist. Wittgensteins Schriften bringen demnach ideale Voraussetzungen mit, um "kreative Missverständnisse" hervorzurufen, die zwar den auf Einsinnigkeit zielenden Intentionen des Verfassers nicht gerecht werden, den Diskurs freilich auf wohltuende Weise zu beleben vermögen.

Wittgenstein, der mit dem "Tractatus" exemplarisch verdeutlicht, dass das Wesen aller Philosophie darin besteht, Sätze klar werden zu lassen, glaubte zunächst, mit dieser Schrift die letzten Probleme der abendländischen Philosophie beseitigt zu haben. Insofern scheint es verständlicher, dass er der Universität und somit der Theorie den Rücken kehrte, um ab 1920 als Dorfschullehrer in Niederösterreich zu wirken. Es wird berichtet, Wittgenstein habe auf ebenso unorthodoxe wie strenge Weise unterrichtet und dürfte seine Schützlinge oft überfordert haben. Seine kurze 'Karriere' endete abrupt, nachdem er eine Schülerin geohrfeigt hatte. Wittgenstein quittierte den Schuldienst, um sich nach Cambridge zu begeben, wo er 1929 promovierte und ein Jahr später in den Genuss eines Forschungsstipendiums gelangte. Trotz des Wohlwollens, das ihm an der Universität - vor allem durch seinen Förderer Russell - zuteil wurde, schien Wittgenstein nach wie vor Zweifel im Hinblick auf seine weitere Laufbahn zu hegen. Nur so lässt sich erklären, dass er Mitte der 1930er-Jahre den Plan fasste, in die Sowjetunion zu emigrieren. Als sich diesbezügliche Hoffnungen zerschlugen, zog er sich für ein Jahr in die norwegische Wildnis zurück, wo er in einer Holzhütte wohnte. 1939 übernahm er an der Universität Cambridge den Lehrstuhl für Philosophie, legte aber bereits 1947 seine Professur nieder. Wittgenstein wechselte in der Folge mehrmals den Wohnsitz, hielt sich vorübergehend in Dublin auf und verstarb 1951 mit den Worten, er habe ein glückliches Leben gehabt.

Zwei Jahre nach seinem Tod erschienen die "Philosophischen Untersuchungen", die seine späte Philosophie enthalten. Wittgenstein unternahm in dieser Schrift einen weiteren Versuch, das Wesen und die Grenzen von Sprache zu ergründen. Am Beispiel einer Passage aus Augustinus' "Confessiones" erörtert er die Funktionsmechanismen, die beim Erlernen der Muttersprache walten, und will dergestalt auf das Entstehen von Sprachsystemen schlechthin schließen. Dabei gelangt er - wenig überraschend - zu der Erkenntnis: "Sprechen lernt das Kind zunächst durch Abrichten."

Hinweisen, Benennen und Wiederholen weisen mithin den Weg zum Gebrauch der Sprache, die der kindliche Sprecher wie in einem "Sprachspiel" erlernt. Beobachtungen, die Wittgenstein im Zuge seiner Tätigkeit als Volksschullehrer machen konnte, fließen hier zweifellos in seine Reflexionen ein, ohne freilich Anspruch auf praktische Anwendbarkeit zu erheben.

Ähnlich wie der "Tractatus" sind auch die "Philosophischen Untersuchungen" numerisch gegliedert, vermitteln aufgrund des häufigen Themenwechsels allerdings ein recht heterogenes Bild. Wittgensteins Erkenntnisinteressen folgen labyrinthisch der Sprunghaftigkeit seiner intellektuellen Neigungen und sind, wie er selbst bemerkt, Therapie "gegen die Verhexung unsres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache". Mit diesem Motto gibt er sich quasi selbst ein Stichwort, um dem Sprechen auf die Spur zu kommen. Er geht dabei der Frage nach, inwieweit seelische oder geistige Vorgänge überhaupt Verstehen ermöglichen, und vermutet, "die Sprache funktioniere immer nur auf eine Weise, diene immer dem gleichen Zweck: Gedanken zu übertragen". Stellt man dieses Bild in Rechnung, so "erscheint Wittgenstein als Behaviorist, ist alles, außer dem menschlichen Verhalten, Fiktion", wie Raatzsch luzide bemerkt.

Das vorliegende Wittgenstein-Kompendium wurzelt wie jede Philosophie im tiefen Staunen über die Welt, das eine fragende Unruhe auslöst und von daher Bücher des Fragens hervorbringt. Was Raatzsch gewissermaßen ad usum delphini verfasst hat, reiht sich in diese Tradition ein, schert dann aber unvermittelt aus, um es seinem Gewährsmann gleichzutun: "Die eigentliche Entdeckung ist die, die mich fähig macht, das Philosophieren abzubrechen, wann ich will." Ebenso abrupt und willkürlich beschließt der Autor seine Einführung und liefert uns postwendend die vom Cambridger Vorgänger formulierte Begründung: "Es werden Probleme gelöst (Schwierigkeiten beseitigt), nicht ein Problem." So muss alles Denken vorläufig bleiben - ein Schlusswort, das man dem Leser, der gerade auf den Geschmack gekommen ist, getrost mit auf den Weg geben kann.


Titelbild

Richard Raatzsch: Ludwig Wittgenstein. Zur Einführung.
Junius Verlag, Hamburg 2008.
250 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783885066439

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