"Bildung um ihrer selbst willen"

Mittlerweile sind drei Bände der Kritischen Ausgabe von August Wilhelm Schlegels Vorlesungen erschienen

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was wäre mehr über August Wilhelm Schlegel zu sagen, als dass er Friedrich Schlegels älterer Bruder war, Mitbegründer des "Athenäum", der Jenaer Frühromantik und der Indologie in Deutschland? Wäre noch hinzuzufügen, dass es sich um einen etwas spröden Autor handelte, wohl auch um einen etwas spröden Menschen von zugegeben bewundernswerter Gelehrsamkeit? Gewiss: er war ein wirkungsmächtiger Übersetzer - der deutschsprachige Shakespeare ist zunächst und immer noch Schlegels Shakespeare. Schlegel war ein europaweit (und darüber hinaus) tätiger Kritiker, Literaturvermittler, Wissenschaftler. Schließlich war er im Gefolge der Madame de Staël und im Dienst des schwedischen Thronfolgers Johann Baptist Bernadotte auch Homo politicus. Was man sonst noch über ihn weiß, ist wenig schmeichelhaft: als Dichter und als Ehemann soll er versagt haben, die Karikatur des alternden Professors hat sein abtrünniger Student Heinrich Heine nur zu einprägsam gezeichnet.

Doch sollte das Wort von der europäischen Instanz August Wilhelm Schlegel aufhorchen lassen - in Frankreich, in Russland und in Spanien war er zu Lebzeiten wohlbekannt. Seine Wiener "Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur" von 1808 wurden sofort ins Französische, Niederländische, Englische und Italienische übersetzt und begründeten seinen internationalen Ruhm. Mehr über seine internationalen Beziehungen wird man erst in Erfahrung bringen können, wenn seine umfangreiche Korrespondenz bekannt ist. Von weltweit mindestens 6.000 noch überlieferten Briefen von und an August Wilhelm Schlegel dürfte kaum die Hälfte gedruckt sein, vieles davon verstreut und ohne ausreichenden Kommentar.

Der interessierte Leser ist vorläufig auf die kurz nach seinem 1845 erfolgten Tod erschienenen, unvollständigen Werkausgaben angewiesen, die die wichtigsten Arbeiten in deutscher, in französischer und in lateinischer Sprache versammeln. Nach einer sechsbändigen Leseausgabe, die Edgar Lohner in den 1960er-Jahren herausgab, hat Ernst Behler, wohl als Seitenstück zur Kritischen Friedrich-Schlegel-Ausgabe, eine ebenfalls auf sechs Bände angelegte Kritische Ausgabe der wichtigsten Vorlesungen A. W. Schlegels begründet, die leider, wohl bedingt durch Behlers Tod, bald ins Stocken geriet.

Die inzwischen vorliegenden drei Bände geben dennoch Aufschluss darüber, was von der frühromantischen Programmatik August Wilhelm Schlegel in seinen Vorlesungen einer residenzstädtischen Öffentlichkeit näherbrachte. Diese Vorlesungen lassen sich als kohärentes Œuvre lesen. Umfasst der 1989 erschienene erste, noch von Behler selbst betreute Band die bis dahin ungedruckten frühen Jenaer "Vorlesungen über philosophische Kunstlehre" sowie die ersten beiden Teile der berühmten Berliner "Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst", nämlich die "Kunstlehre" und die Geschichte der antiken, vor allem der griechischen Poesie, so setzt der 2007 erschienene, nun durch Georg Braungart betreute Band II/1 mit der "Geschichte der romantischen Poesie", also der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Literatur Europas, fort. Die Berliner Vorlesungen sind seit Jakob Minors erster Ausgabe von 1884 und Edgar Lohners Neuausgabe von 1966/67 grundsätzlich bekannt. Der durch Braungart nun als Band II/2 angekündigte Apparat und Stellenkommentar zu diesen sämtlichen Vorlesungen ist ein dringendes Desiderat, liegt aber derzeit leider noch nicht vor. Einen fast gänzlich unbekannten, philologisch solide aufbereiteten, mit umfangreichem Stellenkommentar versehenen Schatz haben Frank Jolles und Edith Höltenschmidt mit Band III, den 1803 in Berlin gehaltenen "Vorlesungen über Encyclopädie", gehoben.

Die beiden zuerst genannten Texte gehören zu den Gründungsdokumenten romantischer Literaturgeschichtsschreibung oder vielmehr der Literaturgeschichtsschreibung überhaupt, postuliert Schlegel doch erstmals eine auf der Einheit von Theorie, Geschichte und Kritik der schönen Künste basierende chronologische Darstellung, die er für die antike Poesie nach Gattungen, für die moderne nach Nationen ordnet. In einer "Kunstlehre" entwirft er, über die Ästhetiken des 18. Jahrhunderts hinausgehend, ein System der schönen Künste, das Rhetorik, Musik, Tanz und Plastik mit einbezieht.

Dies alles ist nicht etwa vergangenheitsorientiert, denn Schlegel wies seine zahlungskräftigen, häufig adeligen Berliner Zuhörer unermüdlich darauf hin, was er von der deutschen Gegenwartsliteratur hielt - trotz Johann Wolfgang Goethe und erst recht trotz oder wegen seines Bruchs mit Friedrich Schiller: "Um so auffallender wird es vielleicht scheinen, wenn ich gestehen muß, daß mir vorkommt, als hätten wir noch gar keine Litteratur, sondern wären höchstens auf dem Punkt, eine zu bekommen, es hätten sich eben nur die ersten Fäden dazu angeknüpft."

Doch darauf bauen Schlegels Vorlesungen auf: Sie bereiten nicht so sehr den Boden für eine noch weitergehende Rezeption der antiken Literatur, sondern sie stellen die Glanzleistungen des europäischen Mittelalters vor, die Lieder der provenzalischen Troubadours, das Nibelungenlied, die Meister des italienischen Trecento: Dante Alighieri, Francesco Petrarca und Giovanni Boccaccio.

Die Romantiker arbeiten hier Hand in Hand: Kann Schlegel von den Minnelieder-Übertragungen des Freundes Ludwig Tieck profitieren, so wird Schlegels Schüler Friedrich de la Motte Fouqué die erhoffte Wiedergeburt des Ritterromans bewerkstelligen. Wenn auch Fouqués Ruhm bald verblasste (Arno Schmidts Hassliebe bildete eine im 20. Jahrhundert bemerkenswerte Ausnahme), so steht August Wilhelm Schlegel doch am Anfang einer Wiedergeburt mittelalterlicher Literatur und der Rezeption romanischer Renaissance- und Barock-Literatur in Deutschland.

Sein enzyklopädisches Unternehmen ist der Versuch, noch einmal ein umfassendes System der Wissenschaften oder des Wissens seiner Zeit vorzulegen, wobei es weniger um die Darbietung der Inhalte geht - nicht zufällig hat diese Enzyklopädie nichts mit einem Lexikon im Sinn des namensgleichen französischen Aufklärungsprojekts zu tun -, sondern vor allem um die Gewinnung plausibler Ordnungsstrukturen. Auf die Darlegung einer epistemologisch und wissenschaftstheoretisch begründeten Klassifikation folgt die Ausarbeitung in zwei bezeichnenden Großkapiteln, nämlich Geschichte und Philologie - damit weist Schlegel auf die Leitdisziplinen des 19. Jahrhunderts voraus, die langsam durch die europäischen Naturwissenschaften abgelöst wurden. Einzelwissenschaften werden in Schlegels Schema nicht aufgelöst oder verschmolzen, doch wird nach Verwandtschaften eingeteilt. Die Naturwissenschaften spielen eine untergeordnete Rolle, historische Hilfswissenschaften hingegen wie Heraldik und Numismatik finden Beachtung. Die neue Disziplin der Politischen Geografie und überhaupt die erkennbare Ausrichtung der Geschichtswissenschaft auf einzelne Nationalgeschichten verraten, dass Schlegel nicht so politikneutral arbeitet, wie er selbst es in der Begründung seines Vorlesungsprojekts vorschützt.

Schlegels Anspruch, eine zeitgemäße Ordnung des gesamten Wissens zu produzieren, ist durchaus romantisch - Novalis hatte in Ansätzen Ähnliches unternommen. Schlegels wissenschaftliches Credo ist dabei freimütig theorieorientiert: Wissenschaften dürfen bei ihm nicht praktischen Zwecken dienen, lediglich reiner Erkenntnis. Manchem heutigen Wissenschaftsmanager wird folgende lapidare Bemerkung, ausgesprochen wenige Jahre vor der Gründung der Berliner Universität durch Wilhelm von Humboldt, höchst unverständlich bleiben: "Alles Wissen also, in so fern es das ist, wird nothwendig theoretisch seyn. Noch mehr: die Theorie darf durchaus nicht durch Rücksicht auf das Praktische afficirt werden, sondern sie muß ihren wissenschaftlichen Gang strenge fortgehen, unbekümmert um die praktischen Consequenzen".


Titelbild

August Wilhelm Schlegel: Kritische Ausgabe der Vorlesungen. Band 1: Vorlesungen über Ästhetik I (1798-1803).
Herausgegeben von Ernst Behler unter Mitwirkung von Frank Jolles.
Schöningh Verlag, Paderborn 1989.
781 Seiten, 158,00 EUR.
ISBN-10: 350677851X

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August Wilhelm Schlegel: Kritische Ausgabe der Vorlesungen. Band 3: Vorlesungen über Encyklopädie (1803).
Kommentiert und herausgegeben von Frank Jolles und Edith Höltenschmidt.
Schöningh Verlag, Paderborn 2006.
580 Seiten, 118,00 EUR.
ISBN-10: 3506778536

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August Wilhelm Schlegel: Kritische Ausgabe der Vorlesungen. Vorlesungen über Ästhetik (1803-1827) 2. Band, 1. Teil.
Schöningh Verlag, Paderborn 2007.
351 Seiten, 78,00 EUR.
ISBN-13: 9783506778529

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