Von der Lokalisierbarkeit der Fiktion

Barbara Piattis Grundlagenwerk zur Geografie der Literatur

Von Clarissa HöschelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Clarissa Höschel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass Leser gerne die Schauplätze ihrer Lektüre aufsuchen, hat längst eine gewisse Tradition, datiert doch der erste Literaturatlas bereits von 1907 (Robert Siegfried Nagel: Deutscher Literaturatlas, Wien 1907). Dass diese Schauplätze auch in anderen Texten eine Rolle spielen können, ist zwar ebenfalls keine neue Erkenntnis, hat aber für den einzelnen Text in aller Regel keine Bedeutung. Interessant wird dieses Gedankenspiel ab dem Moment, in dem aus einem Text mehrere oder viele Texte werden und aus einem historischen Moment eine chronologische Reihe von Momenten - dann nämlich entfaltet sich gleichsam eine neue Dimension, in der die Literarisierungen eines Ortes oder einer Region über die Zeit und gleichzeitig in verschiedenen Texten sichtbar werden.

Genau das ist - vereinfacht gesagt - der Ausgangspunkt der Geografie der Literatur, wie sie seit zwei Jahren am Institut für Kartografie in Zürich als transdisziplinäres Projekt erforscht und in dem vorliegenden Buch auf gut 420 Seiten vorgestellt wird. Unter der Prämisse, dass eine referentielle Beziehung zwischen innerliterarischer und außerliterarischer Wirklichkeit besteht, will diese neue Disziplin literarische Handlungsräume in ihrem Verhältnis zur außerliterarischen Wirklichkeit deuten. Dabei ist 'Schauplatz' genau der Terminus, an dem sich der Literaturtourismus (dem ein eigenes Kapitel gewidmet ist) und die Geografie der Literatur unterscheiden lassen: Während nämlich der interessierte Leser Schauplätze besucht, um an realen Orten die Fiktion zu evozieren, unterscheidet die Geografie der Literatur gerade den Schauplatz in all seinen Ausprägungen und als fiktionalen Raum von seiner realen, also geografisch-topografischen Vorlage.

Dass das im Widerspruch zu einigen Strömungen der Literaturwissenschaft steht, muss und soll an dieser Stelle nicht weiter erläutert werden. Das tut die Autorin, die Literaturwissenschaftlerin Barbara Piatti, bereits in ihrer Einleitung mit der Problematisierung des Referenz-Konzeptes. Tatsache ist - und dies überbrückt und umgeht die Referenz-Diskussion - dass die Literatur als kollektives Kunstphänomen immer wieder auch anhand von Skizzen und Karten entstanden ist. Nicht zuletzt deshalb hat sie einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Rezeption bestimmter, durch literarische Texte immer wieder funktionalisierte und literarisierte Orte und Regionen. Besonders eindrucksvoll zu sehen ist das an dem sehr engen Bezug zwischen der Region des Vierwaldstätter Sees und den literarischen Bearbeitungen des Tell-Stoffes. Gerade die Vereinnahmung dieser assoziativen, also durch kulturelle Bezüge geprägten Landschaft durch einen ganz bestimmten Stoffkreis prädestiniert sie als Ausgangspunkt und zentrale Modellregion.

Um nun umgekehrt Aussagen zu den topografischen Referenzen eines Textes machen zu können, ist es wiederum notwendig, diese in Bezug zu einer realen Geografie zu setzen. Drei der sieben Kapitel des vorliegenden Buches befassen sich deshalb ausführlich mit den drei Ansätzen der Literaturgeografie, die entweder von einem einzelnen Text ausgeht oder von einer real existierenden Region und einem dazugehörigen Textkorpus, das diese Region literarisiert. Oder aber - und das führt zu dem visionären Ziel eines europäischen Literaturatlasses - man wertet Sekundärquellen wie Literaturgeschichten und sonstige Nachschlagewerke nach schauplatzspezifischen Kriterien aus. Ein solcher literarischer Atlas Europas ist deshalb zu verstehen als "Neukonzeption von Literaturgeschichte unter Betonung von räumlichen Gesichtspunkten". Eine Literaturgeschichte also, die Antwort gibt auf Fragen wie: "Wo spielt sich Literatur ab und warum?" oder "Wie nutzt, überformt, verfremdet oder remodelliert die Literatur bestehende geografische Räume über Epochen und Jahrhunderte hinweg?" Damit wird aus dem vorwiegend illustrierenden Kartenwerk der bisherigen literarischen Atlanten ein analysierendes Werkzeug für eine neue, multimedial gestützte, literaturwissenschaftliche Perspektive; der literarische Atlas würde die Literaturgeografie zu einem Instrument machen, das große Textmengen unter räumlichen Gesichtspunkten zu strukturieren imstande wäre.

Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Das derzeit realistische Etappenziel bis 2009 ist ein Prototyp mit den drei Modellregionen Vierwaldstätter See/Gotthard, Prag und Schleswig-Holstein. Dieser Prototyp wird in Form einer online-Datenbank zur Verfügung gestellt, die über eine Suchmaske abgefragt werden kann und mit den Abfrageergebnissen interaktive Karten generiert.

Dabei ist das Zusammenlegen von Literaturwissenschaft und Kartografie ein Widerspruch in sich, denn hier stehen sich Fiktionalität sowie Mehrdeutigkeit einerseits und naturwissenschaftlich-exakte Angaben andererseits auf den ersten Blick unvereinbar gegenüber.

Wie die kartografische Umsetzung dieses Projektes schlussendlich aussieht, zeigen die 17 Karten, die dem Buch beigegeben sind: Allen Karten liegt der geografische Raum des Vierwaldstätter Sees zugrunde. Fünf dieser Karten - die erste davon zu Schillers "Wilhelm Tell" - zeigen die aus Einzeltexten filtrierten Schauplätze, Handlungszonen und Figurenwege. Die restlichen 12 Karten basieren auf einer Grundkarte dieses literarischen Metaraumes, der Schauplätze und Handlungszonen eines Textkorpus darstellt, das mit 150 Einzeltexten den immensen Zeitraum zwischen 1477 und 2004 abdeckt. Eine tabellarische Übersicht verzeichnet die 150 Texte, die Literarisierungen dieser Modellregion enthalten und die Daten geliefert haben, die auf allen zwölf Karten visualisiert sind. Zusätzlich zeigt jede der Karten einen weiteren literaturgeografischen Aspekt dieses Raumes, wie beispielsweise exogene Fiktionalisierungen (Texte Nicht-Schweizer Autoren) über drei verschiedene Zeiträume hinweg, die explizite Tell-Topografie oder Abweichungen zwischen Topografie und Toponymie.

Dieses neue Konzept - so interessant und visionär es auch ist - bringt wenig für die bisherigen Fragestellungen der Literaturwissenschaft und hat für den einzelnen Text auch nicht mehr illustrierenden Wert als die seit über 100 Jahren eingezeichneten Kreuze und Pfeile in papiernen Landkarten und Stadtplänen. Dies ist nun beileibe keine Wertung, sondern eine Feststellung, die lediglich das Innovative dieser Disziplin bestätigt. Neue Fragestellungen sind es, die nun beantwortet werden können - zumindest in der Theorie. Denn diese neue Disziplin ist auf lange Sicht gesehen ein Mammutprojekt von außergewöhnlicher Komplexität.

Einen Vorgeschmack dieser Komplexität liefert das dem Buch beigegebene Glossar, das auf den ersten Blick wegen seiner relativen Kürze mit wenig über 20 Begriffen übersichtlich scheint. Doch dieser Schein trügt, denn der Teufel steckt im zweidimensionalen Detail. In diesem Glossar sind Begriffe verschiedener Kategorien (real versus fiktional; geografisch versus erzähltheoretisch versus rezeptionsästhetisch) aufgelistet, deren begriffliche Überschneidungen beziehungsweise Entsprechungen die Begriffsdefinitionen in einer zweidimensionalen Liste komplex und kompliziert machen. Die meisten Begriffe stammen aus drei auch grafisch dargestellten Modellen, die die Organisation des Handlungsraumes, die Referenzen zwischen Georaum und Textraum und die Referenzgrade zwischen Georaum und Handlungsräumen darstellen. Über die unterstützenden grafischen Darstellungen und die damit verbundene Konzentration auf eine Fragestellung und einen Blickwinkel erschließen sich die Begriffe dagegen fast wie von selbst - ein Beleg dafür, welche zentrale Rollen Räumlichkeit und Bildlichkeit hier spielen.

Ob aber schlussendlich wirklich alles lokalisierbar, kartierbar und kartografierbar sein wird, kann langfristig erst die Praxis zeigen. Umgekehrt wird sich diese neue Disziplin nicht primär an der Vollständigkeit in Bezug auf die Erfassung von literarisierten Orten und Räumen messen lassen müssen, sondern an ihrem eigenen Anspruch, einer durch die Literaturgeografie neu projektierten Literaturgeschichte auch befriedigende und weiterführende Antworten geben zu können.


Titelbild

Barbara Piatti: Die Geographie der Literatur. Schauplätze, Handlungsräume, Raumphantasien.
Wallstein Verlag, Göttingen 2008.
424 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783835303294

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