Von Luther bis Grünbein

Stefan Elit präsentiert gedichtanalytisches Basiswissen für Bachelor-Studierende

Von Elena LorscheidRSS-Newsfeed neuer Artikel von Elena Lorscheid und Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Markt für literaturwissenschaftliche Gedichtinterpretationen und für Einführungen in die Gedichtanalyse ist seit langem existent. Seit der Einführung der Bologna-Studiengänge dürfte er gewachsen sein. Neue Lehr- und Arbeitsbücher auch in den Geisteswissenschaften sind als natürliche Folge der Verschulung in den Studiengängen nicht zu beklagen; sie sollten als hochschuldidaktische Chance begriffen werden. Dass manche dieser 'neuen' Bücher aus alten zusammengestellt oder gar abgeschrieben werden, ist schon eher zu monieren. Doch selbst wenig originelle Kompendien könnten sich immer noch dadurch legitimieren, dass sie ihren begrenzten Zweck erfüllen: Studierende solide zu informieren und zum Weiterdenken anzuregen, Dozenten zu entlasten oder ihnen gar Modelle für die eigene Arbeit zu bieten. Wer wollte auch glauben, dass es mit aussagekräftigen Bildern und anderen grafischen Elementen, mit stichwortgesättigten Marginalspalten und besonders kurzen Zusammenfassungen für ganz Eilige allein schon getan sei.

Stefan Elits "Lyrik" betitelter Band, dies gleich vorneweg, bietet zwar alle diese Vorzüge, vermeidet aber über weite Strecken Oberflächlichkeit und löst zweifellos den Anspruch, ein "Arbeitsbuch" zu sein, ein. Es beschränkt sich nicht auf Referate des Stoffes und auf Beispielanalysen, sondern führt den Leser Schritt für Schritt zu eigener Tätigkeit hin, bietet ihm schließlich Fragen an, die in einem abschließenden Teil des Buches auch gleich beantwortet werden.

Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um ein Buch der UTB-Reihe "Literaturwissenschaft elementar" für Literaturwissenschaftler, insbesondere für Studienanfänger, eine Einführung in die Gedichtanalyse und -interpretation. Der vermutlich durch den Verlag gewählte Titel "Lyrik" ist demnach irreführend.

Statt von Kapiteln spricht der Autor von "Basis-" und von "Aufbaumodulen". In ersteren wird ein Minimalkatalog der Gattungskonventionen geboten, eine Einführung in die Probleme der Metrik sowie, auf ganzen vier Druckseiten, eine Empfehlung für die Abfolge der konkreten Arbeitsschritte. Sechs Aufbaumodule führen durch die Geschichte der deutschsprachigen Lyrik von Luther bis Grünbein, orientieren sich indessen vor allem an den von Epoche zu Epoche vorherrschenden metrischen Vorlieben der Dichter. Elit räumt ein, dass sich sein Konzept an Christian Wagenknechts erfolgreiches Buch zur deutschen Metrik anlehnt - doch ohne dass es dieses kopiert.

Die beiden offensichtlichen Adressatengruppen des Buches sind Studierende und Dozenten - beide mit legitimen, aber mitunter divergierenden Interessen, die denn auch zu voneinander abweichenden Bewertungen des Bandes führen können.

Die Studentin liest das Buch so: Jedem Kapitel, das sozusagen ein Modul umfasst, geht eine Vorbemerkung des Autors voraus; jedes Kapitel schließt mit einer Bibliografie und einigen exemplarischen Fragen mit einem Lösungsteil im Anhang, an denen der Leser sein Verständnis prüfen kann. Zu den Analyseaufgaben werden Musteranalysen geliefert, mit denen der Student für seine Klausuren üben kann. Die Bemühung um eine praxisorientierte Wissensvermittlung kommt den Studierenden sehr entgegen; das Buch stellt durch seinen vorgegebenen Antwortteil eine Absicherung des vorgestellten Wissens dar.

Das ganze Buch umfasst knapp 250 Seiten. Es ist sprachlich leicht verständlich, inhaltlich nur oft etwas holprig formuliert, weil die Aufgabe, Grundwissen der Gedichtanalyse in diesem engen Rahmen vermitteln zu wollen, gezwungenermaßen zu einer Reduzierung und Raffung einzelner Elemente bis hin zu Auslassungen führt. Diese Aspekte sind es letztendlich auch, die den Leser stutzig machen, wenn Elit beispielsweise in der Vorankündigung des Aufbaumoduls 5: "Ästhetizismus bis zur Zeit des Exils" schreibt: "Mit einem bewussten Sprung von der Mitte des 19. Jahrhunderts an dessen Ende setzt dieses Modul ein" - und sich jede weitere Erklärung für dieses Vorgehen spart. Die Aussparungen sind es, die einen kohärenten Verständnisfluss behindern und zu dem Nachschlagen in anderer, weit umfassenderer und damit auch fundierterer Literatur auffordern.

Dem Bachelor-Studierenden, dem angesichts seines vollen Stundenplans für die Lektüre des gesamten Bandes keine Zeit bleibt, wird es immerhin ermöglicht, lediglich nur die Zusammenfassungen am Ende der Module zu lesen. Dann mögen ihm zwar Zusammenhänge und für das Gesamtverständnis notwendige Details, sofern sie denn im Text genannt sind, verborgen bleiben, aber immerhin werden ihm einzelne Schlagwörter und Fakten geläufig, die dem Erwerb eines breiten Grundwissens nur dienlich sein können. Stutzig macht auch die Tatsache, dass Johann Wolfgang Goethe zwei, Durs Grünbein hingegen zwölf Seiten gewidmet sind.

Dem Dozenten fällt teils anderes besonders auf: Mit Begriffen wie "Dichtungstheorie" bewegt sich der Autor nicht gerade in nächster Nähe zur gegenwärtigen Literaturwissenschaft. Aus didaktischer Sicht ist das Buch einerseits sehr gut gelungen - inhaltlich bietet es, vor allem zur Lyrik der Moderne hin, andererseits doch etwas verdünntes Handbuchwissen. Die Form gibt mindestens für die Kapitel bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ein brauchbares Ordnungskriterium ab, diese Kapitel sind denn auch als repräsentativ für die Geschichte der deutschen Lyrik zu bezeichnen. Kaum verwunderlich ist infolge dessen, dass die letzten eineinhalb Jahrhunderte sehr fragmentarisch dargestellt werden. Das Formargument fällt zunehmend weg, die Zeit zwischen Vormärz und Symbolismus bleibt, wie schon erwähnt, ohne Begründung ganz ausgespart, von 1945 bis 2008 - oder: von Bergengruen bis zu Grünbein - gelangt der Leser in rasanter Zeitreise. Den 150 Jahren 'nach Heine' sind nur gut 60 Seiten gewidmet.

Sachlich ist diese Kritik an Elits Buch sicher zutreffend - berücksichtigt man den oben angesprochenen "Markt" für literaturwissenschaftliche Einführungen, ist sie kaum aufrecht zu erhalten: Mit knapp 250 Seiten erreicht der Band wohl die absolute Bachelor-Seitenobergrenze, zumindest aus Lektorensicht. Mehr traut man einem Studierenden, der in sechs Semestern 180 ECTS-Punkten nachjagen muss, nicht zu. Doch muss diesem (hier unterstellten) verlegerischen Kalkül doch widersprochen werden, denn nach wie vor erlauben geisteswissenschaftliche Studiengänge thematische Spezialisierungen. Kein Bachelor-Studiengang dürfte einen obligatorischen Lyrik-Rundumschlag enthalten - wer sich mit Gedichten befassen will, kann es im Rahmen des Lehrangebots tun. Aber wenn, dann gründlich. Und dann möchte er oder sie in einem begleitenden Arbeitsbuch eher etwas mehr lesen, als er für die eigentliche Analysearbeit benötigt, nicht immer nur das Minimalprogramm. Dann nämlich müsste man nicht auf fünfzehn Seiten von Brockes bis zum jungen Goethe hetzen und könnte sich auch die Jahrzehnte vom Realismus zum Naturalismus gründlich erarbeiten.

Das Konzept des Bandes aber ist, wie schon gesagt, gut durchdacht: Insofern Formprinzipien als roter Faden dienen, kann sich etwa die expressionistische Lyrik als Phase der Loslösung von scheinbar überzeitlich gültigen metrischen Traditionen einprägen.

Bei der Lektüre des Basismoduls "Schritte der Lyrikanalyse" kommt der Dozent über der Frage, wie voraussetzungslos das Studium der Literaturwissenschaft sei, ins Grübeln: Tatsächlich baut schon das allererste Semester, das erste Seminar auf höchst differenziert ausgeprägten kulturellen Kompetenzen auf. Muss man tatsächlich darauf hinweisen, dass die erste Stufe der "inhaltlichen Analyse" das Angehen von "Verständnisfragen auf lexikalischer und syntaktischer Ebene" sein sollte? Ist diese Fähigkeit Bestandteil einer allgemeinen Lesekompetenz oder muss es an der Universität ausdrücklich gelehrt werden? Doch ist damit schon viel erreicht, wenn man etwa Georg Trakls in dem Band abgedrucktes Gedicht "Grodek" liest, ein Gedicht Ernst Meisters, Thomas Klings, Paul Celans?

Es sind also didaktische und metrisch-historische, nicht so sehr systematische Stärken des Buches, die aus Dozentensicht positiv hervorzuheben sind. Vielleicht aber deckt man mit Luther und Gryphius, Klopstock und Goethe, George und Brecht das universitäre Lehr- und Prüfungsprogramm beinahe schon ab. Aus Elits Praxis heraus ist das Buch jedenfalls entstanden, das ist nicht zu übersehen.

Anmerkung der Redaktion: Elena Lorscheid ist Studentin, Jochen Strobel Dozent im B. A.-Studiengang "Deutsche Sprache und Literatur" an der Philipps-Universität Marburg, im Wintersemester 2008/09 beteiligen sich beide an einem Seminar zur Gedichtanalyse.


Titelbild

Stefan Elit: Lyrik.
UTB für Wissenschaft, Stuttgart 2008.
249 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783825231118

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