Das Leiden der Davongekommenen

Orlando Figes beweist in seiner eindrucksvollen und faktenreichen Studie über das "Leben in Stalins Russland" die Ambivalenz des Menschlichen im Angesicht der individuellen Bedrohung

Von Thomas HummitzschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Hummitzsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vaterland, kein Feind soll dich gefährden,
teures Land, das unsre Liebe trägt,
denn es gibt kein andres Land auf Erden,
wo das Herz so frei dem Menschen schlägt.

Verse aus dem "Lied vom Vaterland", welches der Erfinder der sowjetischen Propagandahymne Wassili Lebedew-Kumatsch zu Ehren des stalinistischen Russlands einst schrieb. Nach der Lektüre von Orlando Figes ergreifender Geschichts- und Biografiestudie "Die Flüsterer" kann man über derartige Zeilen nur den Kopf schütteln. Vielmehr müsste es heißen "denn es gibt kein andres Land auf Erden, wo das Herz so frei den Menschen schlägt": Denn das "Leben in Stalins Russland", so der Untertitel des mehr als 1.000 Seiten zählenden Werkes, war ein Leben der Verluste und Schmerzen, der Opfer und Entbehrungen, der Mühen und Qualen. Ein Leben in Stalins Russland war nicht nur der Kampf ums Überleben, sondern auch die Qual des Überlebens. Das Leben in Stalins Russland war ein Verbrechen, "das größte Verbrechen des Jahrhunderts", wie der russische Schriftsteller Warlam Schalamow schrieb.

Der britische Historiker Orlando Figes holt in seiner neuesten Arbeit mit Hilfe zahlreicher Familiengeschichten den stalinistischen Terror aus dem Abstrakten ins Konkrete und macht auch für den letzten Zweifler deutlich, welch zerstörerische Macht "Väterchen Stalin" auf die russische Gesellschaft, aber auch auf die einzelnen Menschen ausübte. Die individuelle Zerstörung des Menschen macht das Beispiel von Jelisaweta Delibsch anschaulich, die 1928 im sibirischen Verbannungsort Minussinsk geboren wurde. Schon als kleines Kind wurde sie mit ihrer Mutter von einem Arbeitslager ins nächste geschickt, im Alter von acht Jahren ereilte sie die Trennung von ihren Eltern. Im Mai 1937 wurde ihr Vater hingerichtet, im November desselben Jahres ihre Mutter erschossen. Währenddessen wurde Jelisaweta von einem väterlichen Verwandten zum nächsten gereicht, die ebenso nacheinander verhaftet wurden; zuerst ihr Onkel Grigori (April 1937), dann ihre Tanten Margo (Juli 1937) und Raja (August 1937). Über Tiflis kam sie dann zu ihren mütterlichen Verwandten, die sie wiederum zu ihren Großeltern brachten. Jelisaweta überlebte Stalins Russland, es blieb aber immer das Gefühl, verlassen und nicht gewünscht zu sein. Jelisawetas Schicksal ist nur ein Exemplarisches für Millionen russischer Geschichten.

Die Erzählungen und Urkunden von Familien wie den Simonows und Laskins - denen weite Teile des Buches gewidmet sind -, den Golowins und Slawins, den Konstantinows und Delibaschs bilden die Grundlage für Figes Werk. Anhand der Erinnerungen der Überlebenden des stalinistischen Terrors, den Kenntnissen und Erinnerungen derer Kinder sowie den auffindbaren Familiendokumenten und -fotografien ist es gelungen, diese Familien wieder ins Leben zurückzurufen.

In akribischer Arbeit hat sich Figes durch die Gesellschaftsgeschichte des Landes von 1917 bis weit in die 1960er-Jahre gewühlt und dabei die ergreifenden Berichte zutage gefördert, die das schreckliche Leiden der Menschen einerseits, aber auch ihren unbändigen Willen zum Überleben andererseits aufzeigen. "Die Flüsterer" ist somit deutlich mehr als die sorgfältig recherchierte Historie eines Volkes. Das Buch ist vielmehr eine psycho-soziologische Forschungsarbeit, die nicht in den historischen Fakten verharrt, sondern nach dem Innenleben der Menschen, den Motiven und Antrieben ihrer Handlungen fragt. Dem Autor ist es gelungen, die Resultate der unzähligen Arbeitsstunden in Archiven und Bibliotheken sowie an den Küchentischen seiner Interviewpartner in einem kompakten Werk zu bündeln. Obwohl Figes aus unzähligen Dokumenten und Briefen zitiert, verfällt er nicht in das typische Bibliothekssprech des weisen Historikers. Ungeschönt, prägnant, wenn auch zuweilen etwas zu detailverliebt präsentiert er die Ergebnisse seiner jahrelangen Recherche, deren Resultat zur richtigen Zeit erscheint, da - ähnlich wie die letzte Generation der Holocaustüberlebenden - auch die letzten Zeitzeugen der Stalin-Herrschaft sterben. Allein bis zur Veröffentlichung seines Buches waren mehr als 25 seiner Interviewpartner verstorben.

"Die Flüsterer" ist die Geschichte des individuellen Rückzugs hinter die Diktion, zunächst einer Partei und schließlich hinter die einer Person wider die Vernunft. Ganz egal, wie verheerend die Entwicklung nach 1917 für Russland und die russische Bevölkerung war, sie wurde nicht laut - und schon gar nicht öffentlich - infrage gestellt. Die Vernichtung der russischen Bauernschaft im Krieg gegen die Kulaken war gleichbedeutend mit dem wirtschaftlichen Niedergang des Landes, da die erfahrungsreichsten und fleißigsten Bauern diesem Feldzug zum Opfer fielen. Ein katastrophaler Fehler, dienten die "Entkulakisierungskampagnen" doch einzig und allein dem Durchsetzen der dörflichen Kollektivierungsstrategie der Partei. Nicht dass dies niemand wusste. Doch dies zu sagen und damit die Partei in Frage zu stellen, wagte niemand. Direkte Folge dieses kollektiven Schweigens war die folgenschwere Hungerkatastrophe von 1931 bis 1933, die die gesamte Bevölkerung zu spüren bekam und der Millionen zum Opfer fielen.

Auf der individuellen Ebene stellte das rigide Vorgehen gegen die Bauern den Beginn der Zerschlagung der russischen Gesellschaft dar. Vor den Augen der schweigenden Freunde und Nachbarn mussten die zur Verbannung und Vertreibung verurteilten Kulaken ihr Hab und Gut verlassen und sahen es oft niemals wieder. Die Familienverbände lösten sich in den russischen Weiten auf. Oft lagen tausende Kilometer zwischen den Lagern der Familienmitglieder. Frauen wurden von ihren Männern, Kinder von ihren Eltern, Geschwister voneinander getrennt. Großeltern sorgten oftmals für ihre Enkelkinder, während die eigenen Kinder in Arbeitslagern inhaftiert oder längst erschossen waren. Die Großmutter ist daher noch heute eine der Heldenfiguren in der russischen Gesellschaft, denn die wenigen Fäden einer Familie, die auch in Stalins Russland existierten, liefen in den meisten Fällen bei den Großmüttern zusammen.

Den Aufbruch in eine vermeintlich bessere Gesellschaft erlebten nur die Bewohner der sowjetischen Großstädte, in die in den dreißiger Jahren viel Bewegung kam. So wurde beispielsweise in Moskau enorm viel gebaut und ungeahnte Karrieremöglichkeiten taten sich auf, wenn, ja wenn man eine saubere Weste hatte. Die parteipolitische Akkuratesse wurde durch die heraufziehende allgegenwärtige Überwachung und Verfolgung gesichert. Das so genannte kommunalka-System, das heißt das Leben in Gemeinschaftswohnungen, dehnte die staatliche Überwachung bis weit in den privaten Bereich aus. "Die Gemeinschaftswohnung war das häusliche Zentrum der sowjetischen Neidkultur, die sich angesichts ständiger Versorgungsengpässe wie von allein entwickelte", erläutert Figes. Misstrauen, Hass und Niedertracht, so der Historiker weiter, führten dazu, dass schon nebensächliche Streitigkeiten und Eifersüchteleien in Anzeigen mündeten. Die Angst, selbst Opfer der Parteilinie zu werden einerseits und die Möglichkeit des persönlichen Nutzens andererseits führte also dazu, dass der Einzelne unter diesen Bedingungen bereitwillig zum Teil des Systems wurde.

Ein "echter Sowjet" konnte allerdings nur werden, wer sich dem Regime absolut anpasste und unterwarf. Dies erforderte nicht selten den vollkommenen Bruch mit der eigenen Biografie, um auch nur den Anschein eines Stigmas auszulöschen. Für die Generation der nach 1917 geborenen Russen war dieses Ideal des echten Sowjetbürgers in durchaus greifbarer Nähe; es erforderte allerdings oftmals die vollkommene Distanzierung von den durch die Eltern vermittelten Werten und Maßstäben. Figes zitiert hier aus zahlreichen aufwühlenden und bewegenden Briefen verbannter Eltern an ihre Kinder, in denen sie ihnen in einer verzweifelten Geste die Abkehr von den elterlichen Werten und Normen nahe legen. "Vergiss uns nicht komplett, aber vergiss uns so viel, wie es zum Leben notwendig erscheint", spricht aus vielen der aufgeführten Briefe. Ein solch kollektiver Prozess der Loslösung von den einstigen Werten vollzieht sich geradezu im Alleingang, wenn ein Volk sich neu zu erfinden glaubt, wie dies das russische der 1920er- und 1930er-Jahre für sich beanspruchte. Da Kommunismus und Stalinismus einen religiösen Status erhielten, bestand die einzige Sorge der jungen Generation gerade darin, von diesem gottgleichen Vertrauen aus persönlicher Schwäche abfallen zu können: "Die größte Angst hatten wir davor, den Kopf zu verlieren, von Zweifeln oder Ketzerei übermannt zu werden und unseren grenzenlosen Glauben einzubüßen." Eine fast trotzige Abkehr von den durch ihre Biografien beschädigten Eltern war die weit verbreitete Konsequenz.

Ab Mitte der 1930er-Jahre vollzog sich in Stalins Russland ein Prozess, der die bewusste Verfolgung und Vernichtung "antisowjetischer" Bevölkerungsteile nur mehr ins Extreme steigerte. Im Zentrum dieser Politik standen nicht mehr offensichtliche "Verfehlungen" im Sinne der Partei, sondern tatsächliche oder auch nur empfundene oppositionelle Positionen zu Stalins Politik und Führungsstil. Dies zeigte sich an den mutwilligen Massenverhaftungen, den Schauprozessen und unzähligen Exekutionen in den Jahren 1937 und 1938. Figes führt die Ziffer von 681.692 wegen angeblicher Staatsverbrechen Erschossener an, vermutlich sind es noch wesentlich mehr. Die Zahlen der im Gulag Inhaftierten schwollen auf fast zwei Millionen an. Was sich hinter dem Synonym des "Großen Terrors" verbirgt, ist nichts Anderes, als die verheerende Auswirkung der persönlichen Wahnvorstellungen des Despoten Josef Stalin, in jedem kritischen Unterton und jedem Stirnenrunzeln eine persönliche physische Bedrohung zu erkennen.

Das System des nun einsetzenden Terrors war simpel. Jeder Inhaftierte musste Bekannte und Verwandte denunzieren, tat er es nicht, wurden er oder nahe Verwandte solange gefoltert, bis Namen fielen. Dies war gleichbedeutend mit dem Todesurteil für den gefangenen Denunzianten und der Auftakt für weitere Verhaftungen, Verhöre und Exekutionen. Eine Welle des Terrors schwappte durch das Land, die von der Parteiführung auf deren Basis, die staatlichen Behörden und die gesamte Gesellschaft übergriff. Stalin nahm tausende unschuldige Opfer geflissentlich in Kauf, wenn damit auch nur ein "Spion" vernichtet werden konnte. Ein auf die kollektive Vernichtung ausgerichtetes System, wie die totalitären Erfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts zeigen. Es wurde oft kopiert und bewies immer wieder seine schreckliche Effizienz, egal ob in Kambodscha, Ruanda oder auf dem Balkan.

Der generelle Spionageverdacht gegen ein ganzes Volk führte dazu, dass man in den Familien Sprachregelungen und Kodes entwickelte. Über Politik wurde meist gar nicht mehr, über Sorgen, Nöte und Probleme nur noch mit gedämpfter Stimme und hinter vorgehaltener Hand gesprochen. Selbst Privatangelegenheiten wurden meist nur noch unter einer schützenden Decke ausgetauscht. Es entstand eine "Gesellschaft der Flüsterer".

Als wäre dies nicht schon ausreichend genug, um eine Gesellschaft in ihren Grundfesten zu erschüttern, wurden deren Mitglieder durch die Maßnahmen der Verfolgung, Verbannung und Vernichtung immer stärker auseinander gerissen. Fast eine ganze Kindergeneration wuchs getrennt von den eigenen Eltern in sowjetischen Kinderheimen und Kinderarbeitskolonien auf. Die Indoktrination des sowjetischen Wertekanons in diesen Einrichtungen hatte zur Folge, dass die "Pflicht gegenüber dem Staat" zur obersten Maxime einer Generation wurde. Die Heime entwickelten sich zu einem idealen Becken für die militärischen und geheimdienstlichen Organe des Staates. Die einmalige Chance, sich derart wieder in den Staat einzugliedern - vom "Kind eines Volksfeindes" zu einem nützlichen Element im sowjetischen System "aufzusteigen" - nutzten viele, um sich ein neues (zweifelhaftes) Leben aufzubauen.

Auch der Zweite Weltkrieg eröffnete ungeahnte Aufstiegschancen. Einer, der diese zu nutzen wusste, war der Journalist und Schriftsteller Konstantin Simonow. Seine verherrlichende Kriegsberichterstattung mache es ihm möglich, zu "Stalins Liebling" unter den Schreiberlingen aufzusteigen. Vom Kriegsreporter zum überzeugten Stalinisten und Nationalautoren, um nach dessen Tod eine geheimnisvolle Wandlung zum Verleger regimekritischer Literatur zu vollziehen - eine seltsame Karriere, die Figes aus den Seiten seiner einzigartigen Arbeit aufsteigen lässt. Die Karriere Simonows und ihr symbiotisches Verhältnis zu Stalins Herrschaft, aber auch der andauernde Einfluss Simonows auf die russische Literaturwelt nach Stalins Tod macht Figes im Rahmen einer familienbiografischen Darstellung deutlich, der es auf beeindruckende Weise gelingt, die familiären Opfer dieser Karriere in den Vordergrund zu stellen.

Im letzten Drittel des Buches hebt Figes hervor, wie schwierig, ja geradezu unmöglich es war, die durch das Regime zerrütteten Familien wieder zusammenzuführen. Eltern legten nach ihren Entlassungen aus den Arbeitslagern oft mehrere tausend Kilometer zu Fuß zurück, um ihre Kinder nach jahrelanger Trennung aus den Heimen zu holen oder bei Verwandten aufzusuchen. Nicht selten erkannten weder die Kinder die eigenen Eltern, noch die Eltern ihre Kinder. Die romantischen Bilder, die sich die Zurückgebliebenen von den Wiederkehrern machten, wurden in den seltensten Fällen erfüllt, fielen oft erbarmungslos zusammen. Meist rückte früher oder später eine herbe Enttäuschung zwischen die Überlebenden der Lager und die Überlebenden des stalinistischen Alltags. "Eigentlich hatte ich ihm nichts zu sagen. Ich verspürte nicht mehr den Drang, ihm mein Herz zu öffnen [...] Ich hatte den Vater meiner Träume verloren", gestand Galina Stein dem Autor über ihr Verhältnis zu ihrem Vater nach dessen Entlassung aus dem Gulag. Es kam auch vor, dass längst tot Geglaubte auf einmal wieder auftauchten und die neue Ordnung durcheinander brachten. Manch Partner musste erfahren, dass der geliebte Mensch, den er vor Jahren zurückgelassen hatte, inzwischen erneut geheiratet hatte. Die Zurückgelassenen gingen oft davon aus (und hatten auch jeden Anlass dazu), dass ihre verhafteten Partner längst ermordet worden seien. Darüber hinaus standen nun oftmals die Denunzianten denjenigen gegenüber, die sie vor Jahren verraten und diskreditiert hatten. "Nun werden die Inhaftierten zurückkehren, und zwei Russlands werden einander in die Augen sehen: das eine, das diese Menschen in ein Lager geschickt hat, und das andere, das zurückgekommen ist", formulierte die Schriftstellerin Anna Achmatowa und beschrieb damit treffend die unheimliche Atmosphäre der Rückkehr, die die allgegenwärtige Begleitmusik der Massenentlassungen nach dem Krieg spielte.

Zugleich fiel das Land nach Kriegsende in die alte Angststarre "wie das Kaninchen vor der Schlange" zurück. Die Angst vor der Verfolgung hatte die Menschen wieder im Griff. Der Schriftsteller Alexander Borschtschagowski führte dies auf die Haupteigenschaft der Unterwürfigkeit der Anhänger des Stalinismus zurück, die "sich nicht einmal den halboffiziellen Anweisungen der Bürokraten auf der untersten Ebene zu widersetzen vermochten." Der alles erfassende Staatsterror ließ erst nach Stalins Tod am 5. März 1953 nach. Tatsächlich spürbar war die sich verbreitende "Tauwetter"-Atmosphäre jedoch erst nach der auf dem XX. Parteitag der KPdSU verkündeten Entstalinisierung durch Nikita Chruschtschow.

Der Personenkult um Stalin fand ein Ende, die innere Repression, das Gefühl, beschädigt und belastet zu sein, dauert bei den Überlebenden der Stalinzeit und deren Nachkommen bis heute an. Erinnerung oder gar Wiedergutmachung, Entschuldigung oder Restitution - zu große, fast zu hohle Worte für all das, was der britische Historiker Orlando Figes recherchiert und auf mehr als eintausend Seiten versammelt hat. Das Schicksal des Einzelnen, das gesammelte Leid und die erfahrene Ungerechtigkeit kann Nichts ungeschehen machen. Die Angst davor, noch einmal Leidtragender des längst vergangenen Regimes zu werden, hämmert weiter tief in den Herzen der Opfer. Das schlichte Maß der körperlichen und seelischen Erschöpfung, welches das Dasein der Überlebenden des Stalinismus bis heute bestimmt, kann nicht mehr getilgt werden. "Die Machthaber wechseln, der Archipel bleibt", wie Solschenizyn treffend schrieb. Dies gilt auch für die physischen und psychischen Schmerzen von Millionen Russen, die unverrückbar existent sind, jedoch bis heute ignoriert und ins Dunkle verbannt werden. Diese Leiden können, nein, sie müssen aber gehört, anerkannt und respektiert werden. Figes beweist mit diesem Werk den Mut, den Terminus des Opfers umzudeuten. Nicht nur die Millionen Toten sind Opfer des stalinistischen Terrors, sondern auch die Überlebenden - die Davongekommenen - sind in gleichem Maße die Leidtragenden dieses Gewaltregimes. Orlando Figes gibt in "Die Flüsterer" den Millionen anonymen Opfern Stimme und Name zurück und lässt sie ihre "kleinen" Geschichten erzählen, die die große Geschichte erst greifbar machen.

Bleibt die Frage, ob man das überhaupt will, diese Geschichte des Grauens greifen können? Dies ist wohl die falsche Frage. Die richtige Frage wäre vielmehr, ob man dem Einzelnen ebenso gleichgültig begegnen möchte, wie dies die Maschinerie des Stalinismus getan hat. Ob man die Systematik des Umdeutens der Nachbarn und Freunde in Objekte von Folter und Massenmord und damit die finstere Seite der menschlichen Natur tatsächlich ewig ignorieren und akzeptieren kann? Ob man dem Warum tatsächlich aus dem Weg gehen möchte? Nun, dies soll jeder selbst entscheiden, aber ohne die Antwort auf diese Frage, so die amerikanische Historikerin Anne Applebaum, "werden wir eines Tages aufwachen und feststellen, dass wir nicht wissen, wer wir sind."


Titelbild

Orlando Figes: Die Flüsterer. Leben in Stalins Russland.
Übersetzt aus dem Englischen von Bernd Rullkötter.
Berlin Verlag, Berlin 2008.
1036 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783827007452

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