Geschichtsmächtige Persönlichkeiten?

Ian Kershaw erklärt in seinem Band "Wendepunkte" eine entscheidende Phase des Zweiten Weltkriegs

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Zweite Weltkrieg begann nicht als Weltkrieg. Vielmehr gab es vor seinem Beginn zwei regionale Konflikte - den japanisch-chinesischen Krieg seit 1937 und einen europäischen Krieg seit dem deutschen Angriff auf Polen 1939. Bis ins Jahr 1940 hinein standen die Ereignisse auf diesen beiden Schauplätzen nur in lockerem Zusammenhang. Erst durch eine Verkettung politischer Vorgänge nahmen die Wechselwirkungen zwischen den Kämpfen in Europa und denen in Asien immer mehr zu, bis nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour und der deutschen Kriegserklärung an die USA im Dezember 1941 der Krieg unwiderruflich global geworden war.

Ian Kershaw unternimmt es, anhand von zehn "Schlüsselentscheidungen" die gut anderthalb Jahre zwischen dem unerwartet schnellen Erfolg der Wehrmacht gegen Frankreich im Frühjahr 1940 und dem Kriegseintritt der USA nachzuzeichnen. Am Anfang steht die keineswegs selbstverständliche Entscheidung Großbritanniens, trotz der Niederlage in Frankreich weiterzukämpfen. Als sich kurz darauf herausstellte, dass Deutschland zu einer Invasion der Insel nicht in der Lage war, schien ein Patt erreicht: Deutschland hatte große Teile Europas unter Kontrolle und war militärisch noch überlegen, musste jedoch auf Dauer die überlegene Wirtschaft der aktuellen und potentiellen Gegner fürchten. Kershaw zeichnet nach, wie die von der Kriegsmarine favorisierte Strategie, im Mittelmeerraum zu expandieren und so die Ressourcen des britischen Kolonialreichs anzugreifen, zugunsten des Angriffs auf die Sowjetunion abgelehnt wurde: Den letzten möglichen kontinentalen Verbündeten Großbritanniens auszuschalten, schien den deutschen Planern eine einfache Option, um den Widerstand des Hauptgegners zu brechen.

Die beiden folgenden Kapitel widmen sich den anderen Achsenmächten. Für Japan schien der deutsche Sieg eine günstige Möglichkeit, die eigene Einflusssphäre zu erweitern, waren doch mit Frankreich, den Niederlanden und Großbritannien die in Südostasien bestimmenden Kolonialmächte in Schwierigkeiten geraten. So traf die japanische Elite die Entscheidung, nach Süden zu expandieren und so von den Rohstofflieferungen aus den USA unabhängig zu werden. Benito Mussolini sah für Italien nach den deutschen Erfolgen die Chance, endlich auch selbst Kriegsruhm zu erwerben. Freilich beruhte die Entscheidung, das scheinbar weit unterlegene Griechenland anzugreifen, nicht nur auf einer grotesken Fehleinschätzung der eigenen Möglichkeiten, sondern erlaubte es auch den Briten, ihre bedrohte Stellung in Nordafrika und damit den Schutz der nahöstlichen Ölvorkommen zu stabilisieren.

Auf der Gegenseite entfernte sich der US-Präsident Franklin D. Roosevelt immer mehr von der neutralen Haltung, die er zunächst eingenommen hatte. Im Moment von Adolf Hitlers kontinentalem Triumph begann eine zunächst behutsame Annäherung an Großbritannien, die stets auf eine isolationistische Mehrheit in der Bevölkerung und im Kongress Rücksicht nahm und deshalb den Kriegsbefürwortern in der Administration häufig als zu zögerlich erschien. Nachdem Kershaw gezeigt hat, wie die Sowjetunion infolge Stalins Irrtum, dass Deutschland erst später angreifen werde, im Juli 1941 vor einer vernichtenden Niederlage zu stehen schien, zeichnet er in einem weiteren Kapitel nach, wie im Sommer und im Herbst 1941 die amerikanische Politik immer deutlicher auf einen Kriegseintritt zusteuerte. Die militärische Verteidigung der für Großbritannien überlebenswichtigen Schiffskonvois wurde entschlossener, und die japanische Aggression wurde mit einem Rohstoffboykott und finanziellen Sanktionen beantwortet, die Japan vor die Wahl stellten, sich entweder auf den Status einer Mittelmacht zurückzuziehen oder sich offensiv einen Großmachtstatus zu sichern.

Kershaws achtes Kapitel zeichnet der konfliktreichen Entscheidungsprozess nach, der Japans Führung den zweiten Weg wählen ließ. Dabei war allen Beteiligten klar, dass Japan in einem längeren Krieg keine Siegeschance hatte. Fatalistisch begründete die schließlich erfolgreiche Militärführung gegenüber zögerlichen Politikern, dass ohne Krieg die USA ihre Interessen ohnehin durchsetzen würden und ein späterer Krieg angesichts des US-Embargos noch aussichtsloser wäre. Ähnlich defensiv klingen auch die Begründungen für die Entscheidung Hitlers, sich hinter den japanischen Angriff auf Pearl Harbour zu stellen und den USA den Krieg zu erklären: Ohnehin sei dieser Krieg selbst auf kurze Sicht kaum mehr zu vermeiden gewesen. Ihn offen zu führen, erlaubte es immerhin, die Hilfskonvois für Großbritannien nunmehr rücksichtslos anzugreifen, wie es die Marineführung seit langem gefordert hatte.

Das letzte Kapitel hat es dann mit einer Entscheidung anderer Art zu tun: dem deutschen Entschluss, die Juden in Europa zu ermorden. Hier ging es zwar nicht um Krieg, sondern um den Mord an offenkundig wehrlosen Zivilisten; doch stellte in der Wahnwelt Hitlers die Judenheit gleichwohl eine kriegstreiberische Macht dar, die den Frieden in Europa und der Welt gefährdete. Dadurch - und da durch den Kriegsverlauf Deportationspläne nach Madagaskar und später nach Sibirien undurchführbar wurden - kam seit 1940/41 die Shoah auf die Tagesordnung der Nazis. Einen Sonderfall in Kershaws Buch stellt diese "Entscheidung" auch insofern dar, als sie nicht in Sitzungsprotokollen und Befehlen dokumentiert ist, sondern aus der gegenseitigen Radikalisierung von Führerwillen und der um die Gunst Hitlers ringenden Gefolgsleute erschlossen werden muss.

Jedes dieser Kapitel ist instruktiv; die Verläufe sind überzeugend rekonstruiert, wobei Kershaw stets abzuwägen weiß, welche Handlungsspielräume die Entscheider hatten. Sehr vorsichtig überlegt er auch, welche Folgen andere Entscheidungen mutmaßlich gehabt hätten, ob der Krieg bei einer anderen Variante wesentlich anders verlaufen wäre.

Es spricht durchaus für das Buch, dass die Resultate seiner Konzeption und seinen Titeln entgegengehalten werden können. Weder waren alle diese Vorgänge "Wendepunkte", noch handelt es sich gar, wie der Untertitel des englischen Originals etwas marktschreierisch verkündet, um "Ten Decisions That Changed the World". So bedeutete zwar der italienische Angriff auf Griechenland für Großbritannien mehr Möglichkeiten, im Mittelmeerraum zu agieren, und verzögerte das angesichts der italienischen Schwäche notwendig gewordene Eingreifen der Wehrmacht im Balkanraum 1941 den Angriff auf die Sowjetunion. Doch misst Kershaw selbst dem dadurch verursachten Zeitverlust und Kräfteverschleiß keine entscheidende Wirkung für das Scheitern des deutschen Blitzkriegskonzepts gegen die UdSSR zu.

Problematisch im Sinne der Anlage des Bandes ist auch das Kapitel zur Sowjetunion. "Stalin beschließt, es besser zu wissen", lautet der personalisierende Untertitel dieses Abschnitts: eine eindeutige Schuldzuweisung dafür, dass Warnungen vor einem deutschen Angriff im Frühjahr 1941 nicht berücksichtigt wurden. Doch verweist Kershaw erstens selbst darauf, dass entsprechende Berichte nur einen kleinen Ausschnitt aus einer Vielzahl von Informationen darstellten. Ob man eine fehlerhafte Gewichtung von Informationen wirklich als Entscheidung bezeichnen kann, sei dahingestellt. Jedenfalls war zweitens die gesamte sowjetische Führung davon überzeugt, dass ein Krieg gegen Deutschland unvermeidbar war. Nur setzte man darauf, ihn frühestens 1942 führen zu müssen, weil der Wiederaufbau der Roten Armee nach den zerstörerischen "Säuberungen" auch im Offizierskorps Zeit brauchte. Wenn es eine Fehlentscheidung gab, so war es die, einen Großteil der Kriegsspezialisten zu ermorden - und sie wurde lange vor 1939 gefällt. Was es 1941 dann noch bestenfalls an Möglichkeiten gab, waren taktische Umgruppierungen, die in den ersten Tagen des Krieges Verluste begrenzt hätten. Eine grundlegend andere Strategie war nicht mehr möglich.

Gänzlich obsolet wird das Konzept weltbewegender Entscheidungen in den beiden Kapiteln zur Politik in den USA. Sie beschreiben - durchaus überzeugend - den Weg, wie Roosevelt sein Land Schritt für Schritt, zunächst gegen eine isolationistische Mehrheit in der Bevölkerung und im Kongress, gegen Deutschland und Japan in Stellung brachte. Dies war ein langer, kleinteiliger Prozess; die Zweiteilung bei Kershaw verdankt sich dem sinnvollen Ansatz, die Vorgänge ungefähr in ihrer Chronologie zu schildern. Hier ist es unmöglich, genau zwei Schlüsselentscheidungen oder Wendepunkte zu benennen.

Wenn von Entscheidungen die Rede ist, so fragt sich, wer entscheidet. Die Untertitel der Kapitel scheinen hier eine Hilfe zu sein. So heißt es: "Großbritannien beschließt" und "Japan beschließt", aber: "Hitler beschließt", "Mussolini beschließt", "Stalin beschließt" und "Roosevelt beschließt". Der Stellenwert von Personen bemisst sich also offenkundig nicht an der Unterteilung zwischen Demokratien und Diktaturen. Tatsächlich entscheidet in Großbritannien ein fünfköpfiges Kriegskabinett und in Japan, einer halben Militärdiktatur, eine Führungselite aus Offizieren und Politikern, die zwar, auf der Grundlage gemeinsamer expansionistischer Ziele, sehr unterschiedliche Strategien verfolgen, doch konsensorientiert diskutieren.

Auf der anderen Seite mag Roosevelt zwar beschließen - doch die tatsächliche Politik bemisst sich an dem, was in einem vielgestaltigen Kräftefeld durchsetzbar ist. Stalin versäumt einen Entschluss, und das auf Grundlage eines einige Jahre zuvor begangenen Fehlers. Hitler beschließt, aber im Rahmen strategischer Zwänge. Wie das Individuum geschichtsmächtig wird, lässt sich eindeutig nur am Beispiel Mussolinis demonstrieren - anhand dessen allein auf Laune und kriegerischem Ehrgefühl, doch nicht im Ansatz auf einer politischen oder militärischen Lageeinschätzung beruhenden Angriffsbefehls. Die Spur des Führers wird deutlich vor allem da, wo er sich dem ohnehin Notwendigen verweigert - salopp formuliert, wird das Individuum da geschichtlich bedeutend, wo es besonders blöd ist.

Problematisch ist dann das Schlusskapitel zur Entscheidung, die europäischen Juden zu ermorden. Einerseits skizziert Kershaw ausführlich die Geschichte von Hitlers Antisemitismus und stützt so die intentionalistische Partei. Andererseits skizziert er auch die Konkurrenzsituation von Hitlers Gefolgsleuten, die durch vorausgreifende Radikalisierung die Gunst des "Führers" zu erlangen versuchten, und benennt den Unwillen verschiedener Stellen, die einmal ghettoisierten Juden auch zu versorgen - das entspricht der funktionalistischen Erklärung für die Shoah. Beides wird nicht befriedigend ins Verhältnis zueinander gesetzt. Zwar ist überzeugend begründet, dass die Radikalisierung im Jahr 1941 nicht ohne Hitlers Einverständnis erfolgen konnte. Doch wird nicht deutlich, inwieweit der Diktator den Prozess initiierte oder wohlwollend förderte, und verspricht so der Untertitel: "Hitler beschließt, die Juden zu ermorden", eine Erkenntnis, die das Kapitel nicht einzulösen vermag.

Die angeblich geschichtsprägende Rolle des Individuums ist also der wunde Punkt des sonst beeindruckenden Buchs. Dabei sind auch hier die Wertungsmechanismen durchaus ambivalent. Schwach ist Kershaw insbesondere da, wo er trivial Gefühlspolitik betreibt. Der amerikanische Kriegsminister Henry Lewis Stimson, "ein Mann mit festen, auf moralischer Rechtschaffenheit beruhenden Grundsätzen", muss auch sonst auftreten wie der Chefarzt in einem Groschenroman: "in der Mitte gescheiteltes silbergraues Haar, schneidiger Schnurrbart, eine Ausstrahlung von absoluter Ehrsamkeit". Wer würde ihn nicht dem "geschmeidigen", ja: "kriecherischen" deutschen OKW-Chef Wilhelm Keitel vorziehen? Die Verbrechen, an denen letzterer führend beteiligt war, reichen für eine Verurteilung; der Historiker sollte mit Sympathielenkungen über die Wiedergabe des Faktischen hinaus sparsam sein.

Das Schlusskapitel lobt dann die beiden Demokratien Großbritannien und USA, in denen "selbstherrliche, irrationale Entscheidungen kaum möglich" gewesen seien. Kershaw hatte in den vorangegangenen Kapiteln jedoch gerade gezeigt, dass, angesichts zuvor definierter Ziele, auch die Entscheidungsprozesse in Deutschland, Japan und der UdSSR durchaus rational waren. Zudem hatte er verdeutlicht, dass in Großbritannien ein kleines Kriegskabinett entschied, während die Öffentlichkeit über die Lage kaum informiert war und Roosevelt durch die Stimmung in seinem Land lange Zeit behindert wurde - hier also gerade keine demokratischen Mechanismen zu den richtigen Entscheidungen geführt haben. Es gibt damit Punkte in dem Buch, an denen eine Ideologisierung im Spannungsverhältnis zu vorher gewonnenen Erkenntnissen steht. Man sollte hier der Detailarbeit glauben, nicht dem Überblick - dann erlaubt dies Buch wertvolle Einblicke in die tatsächlich entscheidende Phase, in der zwei Kriege zum Zweiten Weltkrieg wurden.


Titelbild

Ian Kershaw: Wendepunkte. Schlüsselentscheidungen im Zweiten Weltkrieg 1940/41.
Übersetzt aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2008.
735 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-13: 9783421058065

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