What you see is what you get

Matthias Bruhn und Kai-Uwe Hemken haben ein Buch über die Modernisierung des Sehens zwischen Künsten und Medien herausgegeben

Von Michael MayerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Mayer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Walter Benjamins berühmte Formel des "optisch Unbewussten", das dem menschlichen Auge natürlicherweise entzogen sei, ihm aber dank neuer optischer Techniken endlich zugänglich werde, zielt mit knappem Wort auf die Revolutionierung des Sehens, die in der Frührenaissance einsetzte und im 21. Jahrhundert noch längst nicht an ihr Ende gekommen ist. Gerade die Industrialisierung, mit der sie in ihre heiße Phase trat, veränderte nicht nur die Arbeitsprozesse und Produktionsroutinen, den Finanz- und Warenhandel radikal, sondern auch und vor allem die damit befassten Individuen. Und nicht weniges deutet darauf hin, dass das Individuum selbst ein und vielleicht das Produkt dieser epochalen Zäsur darstellte und eben nicht - als was es sich nur zu gerne preist - deren Produzent. Die "Sehmaschine" (Paul Virilio) enthüllte so nicht nur die Welt neu und eine neue Welt, sie erwirkte auch die Konstitution des Subjekts, dem sich diese Welt erschließen sollte. Wer er war und was sich ihm zu sehen gab, war stillschweigend schon entschieden, bevor der neuzeitliche Mensch den Blick aufschlug.

Die Aufrüstung des Auges durch optische Apparate, durch Sehhilfen und Aufzeichnungssysteme gewährte Einblick in makro- wie mikrosphärische Bereiche des Raumes. Sie erlaubte die Dehnung und Stauchung, sogar die Reversibilität zeitlicher Abläufe - und endlich den Blick ins eigene Körperinnere bei lebendigem Leib. Thomas Manns im "Zauberberg" notiertes Protokoll einer Röntgenuntersuchung macht die Fassungslosigkeit deutlich, die die ersten Menschen beim Anblick ihres eigenen Skeletts ergriffen haben musste. An die "Hindurchsichtbarkeit" seiner selbst hat der Mensch sich zwar allmählich gewöhnt, doch selbstverständlich ist all das nicht.

Dass die "Modernisierung des Sehens" aber nicht allein durch die opto-technische Apparatur bedingt ist, sondern dass sie auch ihre gesellschaftlichen, sozialen, sprich kommunikativen Voraussetzungen hat, ist die Kernthese der von Matthias Bruhn und Kai-Uwe Hemken herausgegebenen Anthologie. Was sichtbar sei und was nicht, was überhaupt wahrgenommen werden kann, wäre also auch Effekt bestimmter Diskurspraktiken? Was zur Sprache kommen kann, kann auch gesehen werden. Die politischen Implikationen der These, die zu verfolgen vielleicht lohnen könnten, im Buch aber eher unterbelichtet bleiben, liegt gleichsam auf der Hand. Wo ein spezifisches Kommunikationstableau darüber entscheidet, was gesellschaftlich sichtbar ist, entscheidet sich eben auch, was der öffentlichen Wahrnehmung entgeht. "Die im Dunkeln sieht man nicht", heißt es in Bertolt Brechts "Dreigroschenoper". Dass die Praktiken sozialer Deklassierung von optischen bedingt werden, brächte Brechts Knittelvers so auf den wahrnehmungspolitischen Punkt.

Dabei verdankt sich nicht nur der Titel, sondern auch die These des Sammelbandes dem New Yorker Kunsthistoriker Jonathan Crary, dessen "Techniken des Betrachters" (1990) den radikalen Wandel kollektiver Wahrnehmung untersuchte, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein neues Regime der Sichtbarkeit einsetzte. Crarys an Michel Foucault orientierte Recherche nach dem "visuellen Diskurs" dieser Epoche aber hatte durchaus normative Implikationen. Ging es ihm doch nicht, wie in medientheoretischen Untersuchungen heutzutage gang und gäbe, um die bloße Beschreibung eines Prozesses der Modernisierung, sondern auch um dessen Kritik. Die Zivilisierung des Blicks las Crary auch als Domestikation des Menschen in einem spezifischen System des Wissens, der Sichtbarkeit, des Kapitals und der Objektivität.

Für die Herausgeber war das Anlass genug, Jonathan Crarys gewiss bahnbrechende Arbeit kritisch auf ihre Weiterungen hin befragen zu lassen. In vier Sektionen gegliedert (Modernisierungsprozesse - Blicke, Perspektiven - Bildauffassungen - Mediale Sehweisen) und in 21 Beiträgen erproben historische Fallstudien unter anderem zum Mittelalter, zur Renaissance, zur frühen und späten Moderne, bildtheoretische Reflexionen über Fotografie, Film und Fernsehen, kunsttheoretische Exkursionen über den Impressionismus, Andy Warhol und Malejewitsch, Olafur Eliasson und Otto Piene die Tragbarkeit von Crarys Ansatz. Wobei sich schließlich eine außerordentlich komplexe wie faszinierende Konstellation abzuzeichnen beginnt, auf deren weitere Erforschung man wohl nicht lange zu warten braucht. "Die optischen Techniken", so Matthias Bruhn, "befinden sich dementsprechend mit wissenschaftlichen Interessen, mit den bildenden Künsten oder der neuen Unterhaltungskultur der Großstädte, je nach Kontext und Situation, in einer dauernden Wechselspannung."

Dass das Sehen eine Geschichte hat, pfeifen die gelehrten Spatzen zwar längst von den Dächern aller kultur- und medienwissenschaftlichen Fakultäten, doch gelingt den Herausgebern, den wahrnehmungstheoretischen Allgemeinplatz in eine überaus konkrete, am historischen, künstlerischen und technischen Material beglaubigte Detailforschung zu übersetzen. Der Gewinn, den die Lektüre ihrer Anthologie zweifellos darstellt, mag für die stilistische Spröde des Jargons entschädigen, den nicht wenige der Beiträger milieutypisch pflegen.


Titelbild

Matthias Bruhn / Kai-Uwe Hemken (Hg.): Modernisierung des Sehens. Sehweisen zwischen Künsten und Medien.
Transcript Verlag, Bielefeld 2008.
374 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783899429121

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